Historiographie aus jüdischer Sicht:
Die Geschichtsschreibung der Schoah

Dan Michman:
Die Historiographie der Shoah aus jüdischer Sicht.
Konzeptualisierungen, Terminologie, Anschauungen, Grundfragen.
Hamburg: Dölling und Galitz Verlag, 2002, 355 S., € 24,80

Gideon Greif, Matthias Beer, Tel Aviv/Israel

Michmans Buch umfasst eine weitreichende Konzeptualisierung von Grundfragen und Terminologie zur Historiographie der Shoah. Er differenziert konsequent zwischen relevanten und weniger relevanten Fragen, revidiert abwegige Interpretationen und bietet einen wichtigen Gesamtüberblick zu aktuellen Debatten in der Shoah-Forschung.

Die Bandbreite der im Buch behandelten Themen ist überaus weit gesteckt. Wie im Titel angedeutet, beleuchtet Michmans Buch vor allem die jüdische Dimension der Shoah und erläutert dabei Aspekte wie die bisher wenig erforschte Frage nach dem jüdischen religiösen Leben während der Shoah, den viel diskutierten Zusammenhang zwischen der Shoah und der Gründung des Staates Israel, sowie allgemeinere Aspekte wie das Verhältnis von Faschismus und Nationalsozialismus.

Weiterhin diskutiert Michman zentrale Fragen zur Shoah, die im Rahmen aktueller Forschung besonders häufig in Erscheinung treten: die „jüdische Führung", „Hilfe, Rettung und Vorhersehbarkeit", und die theoretische Erfassung des Begriffs „jüdischer Widerstand". Innerhalb dieser Kardinalthemen haben sich im Laufe der Jahre allzu oft Denkansätze etabliert, die zu Vereinfachungen führten und die eigentliche Komplexität der Ereignisse eindimensional und schwarzweiß darstellte. Michman zeigt in seinem Buch, das die Realität vielfältiger war als zumeist angenommen, und seine Erläuterungen bieten die für ein tief gehendes historisches Verständnis wichtigen Grautöne.

In der komplizierten Frage nach dem Charakter der „jüdischen Führung" wendet sich Michmans Kritik vor allem gegen die gängige Darstellung der Judenräte als einheitlich strukturierte Organisiation. Unter Verwendung des soziologischen Konzepts „headship" betont er die Wichtigkeit einer Differenzierung in zwei Modelle der jüdischen Selbstverwaltung – lokale (oder regionale) Judenräte und landesweite Judenvereinigungen. Beide Führungsstrukturen wurden von den Deutschen als Mittel eingeführt, um Befehle, Gesetze und Verordnungen innerhalb der jüdischen Bevölkerungsgruppen effektiv und effizient umzusetzen. Jedoch waren Judenräte und Judenvereinigungen hinsichtlich ihrer Entstehungsbedingungen, Zuständigkeitsbereiche, Aufgaben und Befugnisse sehr unterschiedlich organisiert, was einen entscheidenden Einfluss auf die Art ihrer Zusammenarbeit mit oder die Abhängigkeit von den deutschen Behörden hatte.

In einer vergleichenden Perspektive zeigt Michman, dass lokale Judenräte weitaus abhängiger von und stärker verknüpft mit den deutschen Behörden, vor allem der SS, waren und dadurch wesentlich geringere Verhandlungsspielräume als die landesweiten Judenvereinigungen besaßen. Folglich sollte, so der Autor, das Ausmaß der „Kollaboration" von jüdischen Führungsgruppen mit den deutschen Tätern in erster Linie „unter einer strukturellen Perspektive bewertet werden [...] und nicht so sehr unter psychologischen oder moralischen Gesichtspunkten" (S. 114).

Ein weitere, oft diskutierte und kontroverse Frage, die Michman wohl überlegt und ausgewogen zu erläutern vermag, bezieht sich auf die Vorhersehbarkeit und die Möglichkeiten der Hilfeleistungen und Rettung während der Shoah aus jüdischer Sicht. Michman betont vorerst die Notwendigkeit einer Differenzierung zwischen den Begriffen „Rettung" und „Hilfe". Er definiert den Begriff Rettung wie folgt: „Unter Rettung sind Handlungen zu verstehen, die unternommen wurden, um Juden vor der unmittelbaren Gefährdung durch Nationalsozialisten zu retten, oder sie völlig aus deren Einflussbereich in Sicherheit zu bringen (dementsprechend handelte es sich bei einem Rettungsversuch um einen Versuch, eine solche Handlung zu vollbringen)." (S. 122)

Seine Analyse veranschaulicht die Möglichkeiten der Gefahreneinschätzung anhand der verschiedenen Entwicklungsphasen der Vernichtungspolitik und zeigt, dass Reaktionen der jüdischen Bevölkerung drastisch schwankten zwischen anfänglichem Schock, Beruhigung und Neubewertung der Gefahrenlage. Michman bietet in diesem Kapitel einen wertvollen konzeptionellen Rahmen für eine weitere Untersuchung der verschiedenen Faktoren, die eine Mobilisation der jüdischen Selbstverteidigung entscheidend verzögerten.

Das Thema „jüdischer Widerstand" umfasst eine Problematik, deren Erforschung in den letzten zwei Jahrzehnten eine enorme Metamorphose durchlief. Ein neuer Begriff, „Standhaftigkeit" (hebr. „Amida"), wurde ins Lexikon dieser Periode eingefügt, um die Gesamtheit der jüdischen Reaktionen gegen die Vernichtungspolitik zu beschreiben. „Standhaftigkeit" umfasst neben dem bewaffneten Widerstand alle Versuche von Juden, die Pläne der Nazis zu sabotieren – selbst der tägliche Überlebenskampf sowie passive Verweigerung definieren sich in diesem Sinne als Widerstand gegen das Ziel der „Endlösung der Judenfrage". Michman schreibt über „Standhaftigkeit" vis-à-vis „Kollaboration" und verweist in diesem Zusammenhang auf die Problematik von eindimensionalen Definitionsgrenzen. Er erklärt die unterschiedlichen Möglichkeiten des Widersetzens, die den Juden zur Verfügung standen, und erläutert die Theorien verschiedener Historiker zum Thema. Dieses Kapitel bietet dem Leser ein umfassendes Bild von einem Volk, das – wie es der jüdische Lehrer Chayim Aharon Kaplan im Warschauer Ghetto notiert hat – alles getan hat, um zu überleben und um irgendwie, trotz der Gräueltaten, in Würde und Stolz als Juden weiterzuexistieren.

Michman vermag es, in diesem wichtigen Buch die enorme Komplexität der Ereignisse herauszuarbeiten und Entwicklungen und Handlungen in einen klar verständlichen Kontext einzubetten. Seine theoretischen Betrachtungen gehen auf höchst relevante Unschärfen aktueller Kontroversen ein und klären in einem verständlichen und zurückhaltenden Argumentationsstil so manche Fehlinterpretation der zentralen Ereignisse der Shoah. Dan Michman hat ein ausgesprochen hilfreiches und sehr anspruchvolles Buch geschrieben, das auch für den Laien leicht zugänglich ist.

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Gideon Greif, Matthias Beer, Tel Aviv/Israel
Quelle: http://www.fritz-bauer-institut.de

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haGalil onLine 12-02-2004