Die dritte Generation:
Enkel des Holocaust
Von C. Zimmermann
Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, warum ich meine
Gedanken zum Schicksal meiner Großmutter und zum Holocaust aufschreiben musste.
Ich hatte wohl das Gefühl, einen persönlichen Abschluss mit dem Thema
herbeiführen zu müssen, das mich schon so lange beschäftigt. Seit ich ein
kleiner Junge war, habe ich mich mit Geschichte beschäftigt, und die meiste Zeit
davon mit der Geschichte des Dritten Reiches und der Shoah.
Es hat seitdem keinen Tag gegeben, an dem meine Gedanken nicht
wenigstens kurz bei dem Schicksal meiner Großmutter oder den damaligen
Zeitumständen waren. Geradezu zwanghaft habe ich alles verschlungen, was ich
dazu in die Finger bekommen konnte. Seltsamerweise hat das sehr abgenommen, seit
ich den Mut vor mir selber und die Muße fand, die Gedanken, die ich dazu hatte
und habe, niederzuschreiben. Warum das so ist, weiß ich (noch) nicht. Ein klein
wenig spielt aber auch die Vorstellung mit hinein, ein indirekter Zeitzeuge zu
sein, der Zeugnis ablegen sollte. Die Häftlinge von Sobibor oder Treblinka so
genau weiß ich das nicht mehr schworen einen Eid, der Nachwelt gegenüber
Zeugnis abzulegen über die Geschehnisse in den Todeslagern. Ein ganz klein wenig
fühle ich mich als Enkel aber auch an diesen Schwur gebunden.
"Meine Großmutter hat Auschwitz überlebt".
Ich habe diesen Satz in meinem Leben schon sehr oft und zu
allen möglichen Leuten gesagt: zu Mitschülern, Lehrern, Kommilitonen, Freunden,
Bekannten, Fremden. Und ich habe ihn in den verschiedensten Situationen gesagt:
in zwanglosen, förmlichen, intimen Situationen, wie auch an den verschiedensten
Orten. Ich war nie dazu gezwungen; ich habe es immer freiwillig getan. Manchmal
war es nötig, weil ich meine Beziehung zu Israel und zum Judentum erklären
wollte, manchmal, weil es sich ergab, aber manchmal auch (besonders als
Jugendlicher), um mich damit ein bisschen interessant zu machen. Für letzteres
schäme ich mich nicht, ich glaube, das ist ein für Jugendliche typisches
Verhalten, daher werde ich auch nicht zu langer Rechtfertigung anheben.
Dieser Satz und was er bedeutet hat mein Leben geprägt wie
sonst kaum etwas anderes. Ich
versteige mich zu der Behauptung, dass es für mich als Mensch etwas Prägenderes
nicht gegeben
hat. Eine Ausnahme davon bildet vielleicht nur die Musik, die mich ebenfalls
mein ganzes Leben
begleitet hat.
Ich werde wohl nicht darum herumkommen, zunächst das Leben meiner Großmutter
"unter
dem Hakenkreuz" wie es so schön heißt zu umreißen. Ich werde nur die
wesentlichen
Aspekte herausgreifen und dem Leser die vollständige Lebensgeschichte ersparen.
Meine Großmutter
väterlicherseits, geboren 1913 (auf den Tag genau 65 Jahre vor mir) im damaligen
Westpreußen,
war Jüdin. Ihr Vater war im Holzhandel tätig, die Mutter Hausfrau. Die Familie
war,
wenn überhaupt, nicht besonders religiös und in jeder Hinsicht deutsch. Mein
Großvater, ein
Protestant, war Jurist in der Justizverwaltung und bekleidete dort bis zu seiner
Entlassung aufgrund
der nationalsozialistischen Rassengesetze hohe Ämter. Nach der Verhaftung und
Haft in
einem Wiesbadener Gefängnis wurde meine Großmutter in das Konzentrations- und
Vernichtungslager
Auschwitz verbracht, wo sie von Juli 1944 bis zur Befreiung durch die Rote Armee
am
27. Januar 1945 interniert war.
Es liegt mir fern, das Leiden meiner Großmutter herunterzuspielen, das ohne
Zweifel grenzenlos
gewesen sein muss. Jedoch kann man wohl von ihr als von einem alles in allem
durchschnittlichen
Häftling sprechen, der zwar den alltäglichen Quälereien und Strapazen ausgesetzt
war, jedoch
keine unter diesen Umständen außergewöhnliche Geschichte zu erzählen hatte. Dies
soll
lediglich betonen, dass meine Großmutter also nicht das individualisierte,
besondere Ziel von
Grausamkeiten gewesen ist. In diesem Teil ihrer Geschichte kann daher auf die
bekannten Informationen
über den Lageralltag in Auschwitz verwiesen werden kann. Ich will keine
Geschichte
der Konzentrationslager schreiben und setze das Wissen über die Zustände in
Auschwitz voraus.
Ihre eigenen Erfahrungen über das Leben in Auschwitz hat sie in einem vielleicht
fünfseitigen,
maschinegeschriebenen Bericht festgehalten, der ebenfalls völlig allgemein und
unpersönlich den
Tag eines Häftlings in Auschwitz schildert, jedoch in seiner Einfachheit und
Klarheit ein beeindruckendes
Zeugnis ablegt. Ich darf mir die Bemerkung erlauben, dass meine Großmutter kein
großer Geist war, eine einfache Frau mit einem Sinn für das Praktische, der man
nach ihrer kleinen
Statur das erforderliche Maß an Zähigkeit, das zum Überleben erforderlich war,
nicht zutrauen
würde. Doch vielleicht gerade darum vermochte sie es, in schnörkelloser und
zugleich plastischer
Erzählweise das Leben der Häftlinge zu dokumentieren.
Meine eigenen Informationen über das Schicksal meiner Großmutter verdanke ich
neben dem
geschilderten Bericht hauptsächlich dritten Quellen: der Lektüre der
einschlägigen Literatur über
die Geschichte des Dritten Reiches und der Konzentrationslager, aber vor allem
dem Interview,
das im Auftrage von Stephen Spielbergs "Shoah Foundation" mit meiner Großmutter
geführt
und auf Videokassette aufgezeichnet worden ist. Mir gegenüber erzählte sie nie
von ihrer Zeit in
Auschwitz. Ich kann mich nur daran erinnern, dass sie mir einmal ich war noch
ein kleiner Junge
von ihrem Aufenthalt in dem Wiesbadener Gefängnis erzählte, wo sie eingesperrt
war, bevor
sie auf den Transport nach Auschwitz geschickt wurde. Sie musste dort eine
kleine Zelle mit einer
fremden Frau teilen, dazu gezwungen, den ganzen Tag auf der einzigen Pritsche
oder auf der
Kloschüssel sitzend zu verbringen. Das war ganz besonders quälend, weil es rein
gar nichts zu
tun gab und die zwei Frauen den quälenden Gedanken an ihre Familien ausgeliefert
waren, von
denen sie nur spärlich Nachricht erhielten. Dieses quälende Nichtstun, verbunden
mit dem ununterbrochenen
Grübeln über das eigene Schicksal, das der Familie und den Selbstzweifeln
("Hätte ich etwas tun können, um das alles abzuwenden?..."), trieb die
Gefangenen an den Rande
des Wahnsinns.
Ich weiß nicht, warum ich mit meiner Großmutter nie über ihre Erlebnisse
gesprochen habe.
Merkwürdig genug, aber Tatsache ist, dass ich nie das Bedürfnis danach hatte.
Ich wusste stets,
dass sie in Auschwitz war und las viel über Konzentrationslager und
Judenvernichtung, aber ich
hatte nie ein gesteigertes Verlangen, es aus ihrem eigenen Munde zu hören. Ich
gehe noch weiter
und muss bekennen, dass ich schließlich der Ansicht war, es brächte mir keine
neuen Informationen.
Man könnte einwenden, dass es für mich dennoch von Interesse hätte sein müssen,
die
Geschehnisse aus erster Hand, von einem Augenzeugen, geschildert zu bekommen.
Aber auch
dieses Verlangen hatte ich nie. Die einzige Erklärung, die ich dafür anbieten
kann, ist Scheu. Dass
ich Scheu davor hatte, ist sicher, aber ich bin mir nicht sicher, ob das der
vorrangige Beweggrund
war.
Das leitet über zu der Frage, was dieser familiengeschichtliche Hintergrund für
mich bedeutete
und noch heute bedeutet. Im Alltag nichts oder wenig, könnte manch einer
vermuten. Ich war
doch ein Kind der 90er Jahre, geboren 1978, ich erlebte den Fall der Mauer mit
11 Jahren, wuchs
auf mit Techno und HipHop, mit Helmut Kohl, dem ICE und der Einführung der
fünfstelligen
Postleitzahlen. Deutschland ist wiedervereinigt, Franzosen und Polen der
Deutschen beste
Freunde. Warum hätte das Schicksal meiner Großmutter sich noch woanders
bemerkbar machen
sollen als in meinem Bücherschrank und den Erzählungen der Eltern?
Die Antwort ist: Ich wuchs mit dem Holocaust auf. Es muss sehr früh gewesen
sein, als mir klar
wurde, dass meine Großmutter etwas besonderes und dies für meine ganze Familie
immer noch
irgendwie von großer Wichtigkeit war. Ich kann mich noch an die erste Begegnung
mit dem
Thema "Drittes Reich" erinnern. Es war der Jahrestag des Stauffenberg-Attentats.
Ich saß bei
meiner Mutter hinten im Auto und wir fuhren auf das Gebäude der Hauptpost meiner
Heimatstadt
zu. Ich fragte meine Mutter, warum denn am Postgebäude eine Flagge mit
Trauerflor hinge.
Meine Mutter antwortete sinngemäß: "Früher gab es in Deutschland einen bösen
Menschen, der
hieß Adolf Hitler. Einige Männer haben versucht, ihn umzubringen. Sie haben es
leider nicht
geschafft, aber man gedenkt ihrer heute noch."
Dieses Ereignis ist eher eine Anekdote und von geringer Wichtigkeit. Aber ich
begann schon als
kleiner Junge, mich für das Dritte Reich und den Holocaust zu interessieren.
Mein erstes Buch
über das Dritte Reich und die Shoah war ein Bildband mit dem Titel "Hitler", der
Titel auf einem
mauergrauen Einband in blutroter Pinselschrift geschrieben. Die Gesichter von
Hitler, Goebbels
und Göring, die Bilder von ausgemergelten KZ-Häftlingen, von Leichenbergen und
dem sowjetischen
Kriegsgefangenen im Kältebad gehören zu meinen ersten geschichtlichen
Eindrücken. Ich
kann mich nicht erinnern, dass ich je deswegen angefangen hätte zu weinen oder
dass ich gesteigerte
Furcht empfunden hätte. Wahrscheinlich war ich anfangs schockiert, aber
offensichtlich hat
dies keine bleibende Erinnerung hinterlassen. Ja vielmehr, seitdem sind all
diese Bilder für mich
Normalität und Teil meines inneren "Familien-Photoalbums". Ich sprach auch nicht
ständig mit
meinen Eltern darüber, aber das war auch gar nicht nötig. Ich nahm die Tatsache
zur Kenntnis,
dass unsere Bücherregale voll waren mit Büchern über das Dritte Reich, den
Holocaust, Israel
und das Judentum, nahm es als gegeben hin und beschäftigte mich damit.
Die Tragweite dieser zunächst hingenommenen Familiengeschichte wurde mir aber
erst später
richtig klar. Ich begriff, dass meine Großmutter etwas besonderes war, dass wir
(meine zwei älteren
Brüder und ich) etwas besonderes waren, weil sie unsere Großmutter war. Es mag
seltsam
klingen, aber wir waren Zeugen und wir wussten es. Am eindrücklichsten wird das
am Beispiel
des Schulunterrichts. In mindestens vier Fächern Geschichte, Deutsch,
Gemeinschaftskunde/Politik, Religion ist in der Bundesrepublik Deutschland das Dritte Reich und
der Holocaust
ständiges Thema. Und immer, wenn dieses Thema zur Sprache kam, stellte sich für
mich und
meine zwei Brüder die quälende Frage: "Sollen wir es ihnen (dem Lehrer bzw. der
Klasse) sagen;
sollen wir ihnen sagen, dass unsere Großmutter in Auschwitz war?".
Wahrscheinlich wird dem
Leser jetzt nicht ganz klar, warum das ein Problem war. Es war deswegen ein
Problem, weil hierbei
für uns nicht nur über "den Holocaust" oder "die Judenvernichtung" gesprochen
wurde. Es
wurde über uns gesprochen. Über unsere Großmutter. Über unsere Familie. Wir
wussten ja mehr
darüber als jeder einzelne unserer Klassenkameraden. Wir wären dadurch sofort in
das Zentrum
der Aufmerksamkeit gerückt. Wir hätten über uns berichtet. Möglicherweise ist
das schwer nachvollziehbar,
aber wir spürten dieses Band durch die Geschichte, das uns mit dem Schicksal
unserer
Großmutter verband. Wir waren Zeugen für etwas, das einem Familienmitglied
passiert war.
Mag es auch pathetisch klingen, wir öffneten einen Zeittunnel zu längst
vergangenen Ereignissen
in einem fernen Land.
Und wir meldeten uns auch. Nicht immer, aber immer dann, wenn wir es für richtig
hielten. Mein
Bruder erzählte gerne die Anekdote, wie unser Geschichtslehrer, ein strammer,
grundanständiger
Sozialdemokrat alter Schule, im Zusammenhang mit der Ausgrenzung der Juden und
der Rassengesetzgebung
im Dritten Reich auf ihn deutete und meinte, er mit seinen dunklen Haaren und
braunen Augen sähe ja schließlich auch ein bisschen jüdisch aus. Mein Bruder
erzählte ihm später,
er habe tatsächlich jüdische Vorfahren. Dem Lehrer war es furchtbar peinlich,
wollte er doch
nur seinen Schülern zeigen, wie abstrus die Vorstellungen der Nazis von
sichtbaren Rassenmerkmalen
waren. Ich glaube, es war im Jahre 1996, als mein Gymnasium am 27. Januar zum
ersten Mal eine Gedenkveranstaltung zum Jahrestag der Befreiung von Auschwitz
durch die Rote
Armee veranstaltete. Ich teilte zuerst meiner Deutschlehrerin und dann meinen
Mitschülern mit,
dass meine Großmutter einen Bericht verfasst habe und ich ihn in die Feier
einbringen könne.
Zusammen mit einer Mitschülerin verlas ich den Bericht auf dem Schulhof vor
versammelter
Schülerschaft. Wir sagten, es handele sich um den Bericht "der Großmutter eines
Mitschülers";
alles andere wäre selbstredend einer Form von Exhibitionismus gleichgekommen.
Ich könnte jetzt noch viele warme Worte verlieren, warum diese Situation für uns
spannungsgeladen
war und manchmal noch ist. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass für Dritte die
Zerrissenheit,
die wir dabei spürten, oft nicht nachvollziehbar ist. Aber sie war da. Wir saßen
zwischen
allen Stühlen. Wir waren junge Menschen, aber doch Zeitzeugen. Es wurde zugleich
mit uns als
auch über uns gesprochen. Das für mich anschaulichste Beispiel für diese
beklemmende Situation
ist folgendes: Ich besuchte mit meinem besten Freund im badischen Emmendingen
eine kleine
Gedenkveranstaltung der dortigen alten und traditionsreichen jüdischen Gemeinde
für einen bedeutenden
jüdischen Sohn der Stadt. Im Anschluss an den Teil der Veranstaltung im Freien
fand
man sich in einem Saal zusammen und irgendjemand hielt einen Vortrag, der
irgendetwas mit
Elie Wiesel zu tun hatte. Es waren einige junge Menschen in unserem Alter (wir
waren zu diesem
Zeitpunkt bereits Studenten in den ersten Semestern) anwesend. Im Anschluss an
den Vortrag
wollte der Vortragende in eine Diskussion über Holocaust und Antisemitismus mit
dem Publikum
eintreten und wandte sich besonders an die jungen Zuhörer, um ihre Beziehung und
Meinung
zum Thema zu erfahren. Es entspann sich die übliche, zähe Diskussion über ein
Thema,
über das wie stets unter den demokratisch und republikanisch gesinnten Zuhörern
(die ja sowieso
immer die einzigen sind, die solche Veranstaltungen besuchen...) völlige
Einigkeit herrschte. Aber
da war es wieder: Ich hätte mich jetzt melden und sagen können "Hallo, ich bin
20, was meine
Beziehung zu dem Thema angeht, meine Großmutter war in Auschwitz." Ich hätte die
Diskussion
gesprengt. Ich wäre ein Zeitzeuge gewesen. Ich hätte erzählen müssen, über meine
Großmutter,
meine Familie und mich. Ich tat es nicht, aber ich wurde unglaublich nervös und
begann so
heftig zu zittern, dass ich Mühe hatte, mich ruhig auf den breiten
Gemeindestühlen zu halten und
nicht aufzufallen. Ich krallte mich also am Stuhl fest und war froh, als die
Veranstaltung mit der
fruchtlosen Diskussion über den unsinnigen Beitrag eines sozialistisch
angehauchten Teilnehmers
zu Ende ging.
Kurz: Wir waren nicht nur Enkel. Wir waren in gewisser Weise mit verstrickt. Die
Geschichte
unserer Großmutter war unsere Familiengeschichte, die Geschichte des Holocaust
damit unsere
eigene.
Ich möchte mir erlauben, ein weiteres Beispiel anzuführen, das klarmachen soll,
wie nahe wir
letztlich doch der Thematik stehen: Wir sind Deutsche, natürlich, und fühlen uns
auch so, weil
wir gar nichts anderes sein könnten. Ich für meinen Teil wagte es im
Schulunterricht sogar, für
einen entspannteren Umgang mit dem Bekenntnis zur Nation zu werben. Ich bin kein
Rechter,
oh nein, aber ich bin Deutscher und fühle mich ausgesprochen wohl dabei.
Mitnichten erfüllt
mich meine Familiengeschichte mit Unbehagen gegenüber dem eigenen Volk. Eines
Tages, ich
war Jurastudent an der Universität Freiburg, surfte ich im Internet auf der
Seite der Jewish Agency
for Israel, die auf staatlicher israelischer Seite die Einwanderung nach Israel
organisiert. Ich
blätterte in den vorhandenen Gesetzestexten und stieß auf das "Rückkehrgesetz",
das eines der
"Grundgesetze"/"Basic Laws" darstellt, die zusammen die "Verfassung" des Staates
Israel bilden
(Eine Verfassung im europäischen Sinne, die in einem einzigen Dokument
niedergelegt ist, besitzt
Israel nicht). Ich las es zum ersten Male genauer und stellte verblüfft fest:
Einwanderungsberechtigt
sind nicht nur "Juden", sondern auch alle Personen bis hin zu den Enkeln eines
Juden
oder einer Jüdin. Ich habe also die Möglichkeit, israelischer Staatsbürger zu
werden. Ich war lange
Zeit verwirrt und erstaunt. Ich habe die Auswanderung nie ernsthaft erwogen,
aber die Vorstellung,
Anrecht auf die Staatsangehörigkeit eines fremden Staates zu haben, ist
eigenartig und zeigt
mir aufs Neue, dass meine Verbindung zum Holocaust nicht nur aus Büchern
besteht.
Was die Berührung durch den Holocaust im Alltagsleben angeht, kann ich nur für
mich sprechen,
weil meine zwei Brüder deutlich älter sind als ich. Wie gesagt, ich wuchs mit
Büchern über den
Holocaust auf. Allgegenwärtig war auch das Interesse am Schicksal Israels. Auch
hier wurde nicht
ständig darüber gesprochen, aber es war immer spürbar, dass Israel irgendwie
sehr wichtig war.
Man horchte bei Nachrichten über Israel auf, es war Literatur vorhanden, es
tauchte im Gespräch
mit meiner Großmutter auf, es gab Bekannte im Heiligen Land. Als Junge und
Jugendlicher faszinierte
mich dieses Thema natürlich. Natürlich waren auch meine Vorbilder die Helden der
Western-Romane, die ich so gerne las, oder die cleveren Jungs aus Hitchcocks "???". Aber
später
wurden es auch die Kämpfer der Haganah, die für die Unabhängigkeit Israels gegen
die Briten
kämpften oder die jüdischen Pioniere, die die Wüste Palästinas in einen
blühenden Garten verwandelten.
Und es wurde irgendwie auch Theodor Herzl, der Journalist der Wiener "Neuen
Freien
Presse", der die zionistische Weltbewegung gründete und der geistige Vater des
Judenstaates
wurde, obwohl er doch eigentlich lieber mit seinen drittklassigen Theaterstücken
erfolgreich gewesen
wäre...
Wenn ich meine emotionale Beziehung zum Thema Holocaust/Judenvernichtung
beschreiben
wollte, käme ich in Schwierigkeiten. Im Grunde kann ich es nicht. Ich kann nicht
sagen, was ich
angesichts der Vorstellung empfinde, dass 6 Millionen Menschen, nämlich Juden,
auf industrielle
Weise in den Tod getrieben worden sind. Meistens habe ich zu diesem Thema
überhaupt keine
emotionale Beziehung. Die altbekannten Bilder von Gaskammern, Schuh- und
Brillenhaufen,
pöbelnden SA-Mobs und verängstigten Kindern an der Rampe können meistens bei mir
nichts
mehr auslösen. Es ist für mich so alltäglich, so normal. Es sind Photos aus
meinem Familien-Photoalbum, ich sehe sie mir an, wie andere Menschen sich Bilder vom letzten
Familientreffen
ansehen.
Doch es gibt die Momente, bei denen es auch mich überkommt, wenn auch selten.
Einer dieser
Momente war in der Gedenkstätte Yad Va'Shem in Jerusalem. Aber nicht die "Yad
Va'Shem-Highlights" waren es, die mich berührten. Offen gesagt, Yad Va'Shem ist in
meinen Augen ein
seltsamer Ort. Man steht in der glühenden israelischen Mittagshitze, die
Turnschuhe sind staubig
und voller Sand, man hat eine Sonnenbrille im Haar stecken und der beste Freund
ist in diesem
Moment die Wasserflasche. Die Luft flirrt. Der Blick schweift über ein Tal,
bewachsen mit allerlei
mediterranem Grünzeug, dessen Namen ich nicht kenne, das sich aber jeder
vorstellen kann, der
einmal Urlaub in Italien gemacht hat. Und jetzt beginnt der Gang durch einen
Ort, der erinnern
soll an Todesmärsche, Krematorien und furchtbare Verbrechen unter einem kalten,
abweisenden
polnischen Herbsthimmel. Vieles wirkt idyllisch und so gar nicht abweisend, wie
das Tal der Gemeinden,
aus dem lebenden, schimmernden, weißen Stein der judäischen Berge geschnitten.
Es
ist ein schöner Ort. Die zentrale Gedenkhalle mit der ewigen Flamme, vor der sie
alle schon
standen, Helmut Kohl, Jimmy Carter, Richard von Weizsäcker, Horst Köhler, wirkt
mit ihrem
düsteren Gusseisen und grauen Beton irgendwie gammelig und in den 50er Jahren
stecken geblieben.
Was ich damit sagen will ist: Yad Va'Shem ist nur bedingt geeignet, um
Neudeutsch
gesagt den "Holocaust-Flash" zu kriegen. Ich ging also hindurch und stieß dann
auf das "Memorial
for the Deportees", einen alten Reichsbahn-Viehwaggon, der auf Schienen
buchstäblich
ins Tal fährt und mitsamt den Schienen frei in der Luft hängt. Davor am Abhang
steht eine
brusthohe Mauer, auf der auf Englisch und Hebräisch eine Inschrift wiedergegeben
ist, die man
im Inneren dieses Wagens geschrieben fand: "Here in this carload, I'm Eve,
together with Abel,
son of man. When you see my elder son Cain, tell him...". Ich stand in der
heißen Sonne, in der
Hand meinen Photoapparat, und begann bitterlich zu weinen. Ich kann nicht genau
sagen, warum
gerade hier es mich überkommen hat. Aber niemals habe ich etwas gelesen, das die
Bedeutung
des Holocaust als Verbrechen von Menschen an Menschen auch nur annähernd so
getroffen
hätte. Eigentlich ist es unnötig, aber ich erlaube mir trotzdem, meine Gedanken
oder besser,
meine Übersetzung dieser Worte wiederzugeben: Im Hebräischen heißt "son of man"
"ben
adam" und trifft es damit eigentlich besser. "Adam" heißt nicht nur "Mensch",
sondern meint
natürlich auch Adam, den ersten Menschen. Denn Abel ist nicht nur Sohn eines
Menschen, sondern
der Sohn des, des ersten, Menschen, Adam. Eva, Adam, Abel und Cain sind also die
Keimzelle
des Menschengeschlechtes, die erste Familie. Eva sitzt da nun, sie ist auf sich
allein gestellt,
eingesperrt, und weiß, dass sie sterben wird. Sie versteht nicht warum, sie
begreift es einfach
nicht, denn sie hat ja gar nichts getan. Bei ihr ist ihr jüngerer Sohn Abel,
schutzlos und unschuldig
wie ein Kind eben ist. In ihrer Verzweiflung tut sie das, was nur natürlich ist:
Sie versucht,
eine Nachricht an ihren älteren Sohn Cain zu hinterlassen. Wenn Ihr das hier
findet, schreibt sie,
sagt ihm doch Bescheid. Er ist doch mein Sohn, er wird kommen und uns hier
rausholen. Aber
Cain wird nicht kommen. Denn er ist draußen vor dem Waggon und er wird sie beide
töten, seine
Mutter und seinen kleinen Bruder. Und selbst wenn Eva ihren Sohn Cain vor ihrem
Tod sehen könnte und begriffe, dass er der Mörder sein wird, sie würde sich bis zum
Schluss, wenn das
Gas ihre Lungen füllt, fragen: Warum? Er ist doch mein Sohn. Er ist doch der
Sohn eines Menschen.
Er ist doch Abels Bruder. Und Abel hat ihm doch gar nichts getan.
Es erscheint wie ein Gedankensprung, aber ich will noch eine kleine Begebenheit
anfügen, die
mich auch sehr beschäftigt hat, mich aber in Ratlosigkeit zurücklässt.
Vielleicht kann es mir jemand
erklären und mir Antwort geben. Ich glaube, im Verlaufe des Eichmann-Prozesses
(aber so
genau weiß ich das nicht mehr) hat man einen Überlebenden befragt.
Wahrscheinlich als Zeugen,
aber das ist auch unwichtig. Dieser Mann gab bereitwillig Auskunft über die
Verbrechen, die er
gesehen hatte. Aber eine Frage stellte er seinem Gesprächspartner immer und
immer wieder:
"Was ist", fragte er, "was ist eigentlich ein Mensch?". Mir ist bis heute nicht
ganz klar, was der
Mann mit dieser Frage sagen wollte. Fragte er sich, was mit einem Menschen
passiert, der sich an
Verbrechen von ungeheurem Ausmaß wie dem Holocaust beteiligte, nämlich dass er
sich dadurch
außerhalb alles Menschlichen stellt? Oder dachte er daran, was mit Menschen
passiert, die
unter menschenunwürdigen Bedingungen zu hausen gezwungen sind, so dass sie
möglicherweise
dadurch zwangsläufig irgendwann alles Menschliche verlieren müssen und zu dem
werden, was
die Täter Ihnen vorher vorwarfen zu sein, nämlich zu Tieren oder zu noch
weniger? Oder stellte
er nach seinen Erfahrungen überhaupt in Frage, dass dem Begriff des Menschen
noch eine andere
als eine biologische Bedeutung, nämlich eine sittliche oder moralische zukommen
soll? Ich
weiß es nicht, aber diese Frage, die der mir unbekannte Mann stellte, scheint
mir zentral zu sein
für das Verständnis des Holocaust, seiner Schrecken und seiner Bedeutung.
JUDENTUM. Eigenartigerweise ist meine Verbindung zur jüdischen Religion die
schwächste innerhalb
der Themenbereiche, die mit dem Holocaust verbunden sind. Zwar ist das Judentum
die
Religion, die meinen eigenen religiösen Überzeugen am nächsten kommt. Daher kann
ich das
jüdische Glaubensbekenntnis zu meinem eigenen machen: Schma jisrael, Adonai
eloheinu, Adonai
echad. Höre Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist EINER. Aber obwohl mir
das Judentum
inhaltlich so nahe ist, habe ich doch keine wirklich enge Beziehung zu ihm. Ich
war lediglich
zweimal in meinem Leben in einer Synagoge, ich kenne nur wenige Juden und will
entgegen
den Mutmaßungen meiner Freunde auch nicht konvertieren. Die Traditionen des
Judentums
empfinde ich als ausgesprochen schön, sie sind aber nicht meine und ich
betrachte sie in
religiöser Hinsicht sogar als überflüssig oder verfehlt. Ich vermag nicht zu
akzeptieren, dass Gott
von mir verlangt, an einem bestimmten Tag der Woche bittere Kräuter zu essen,
und ich würde
auch notfalls reinen Gewissens zu einem Schweineschnitzel ein großes Glas Milch
trinken. Dennoch
fühle ich mich dem Judentum verbunden, und zwar wieder im Rahmen einer Art
Schicksalsgemeinschaft.
Wenn "die Juden" etwas betrifft, betrifft es obschon fern auch mich. Meine
Eltern beziehen die "Jüdische Allgemeine", die ich bei Gelegenheit mit großem
Interesse lese, es
ist mir wichtig, jüdische Meinungen zu einem Thema zu erfahren, auch wenn ich
sie oft genug
nicht teile. Oft genug reduziere ich diese Verbundenheit auf das Flachsen mit
Freunden, etwa
wenn ich mich selber als "Judenbengel" bezeichne oder Ausdrücke im Munde führe
wie "Blut ist
dicker als Wasser". Aber obwohl das natürlich immer mit dem schmunzelnden
Hintergedanken
"Ich darf das." geschieht, ist es doch stets zumindest halbernst gemeint.
ISRAEL. Ich möchte auch etwas über meine Beziehung zu Israel sagen. Penibel wie
ich bin,
müsste ich eigentlich sagen, zum Staat Israel, Medinat Jisrael. Denn mit dem
Begriff des Heiligen
Landes oder dem Land selbst, diesem Entschuldigung beschissenen kleinen
Fetzen Sand und
Felsen an der Ostküste des Mittelmeeres verbinde ich zunächst nichts. Nein nein,
dieses Land ist
wunderschön und ich habe mich regelrecht darin verliebt. Aber ohne den Staat
Israel darauf würde
es genauso viel für mich bedeuten wie jeder andere Streifen Erde.
Aber Israel, der Staat Israel, der Judenstaat, das hat für mich seit je her eine
fast magische Bedeutung
gehabt und zwar in vielerlei Hinsicht. Zugegeben, manches mag noch aus einer
jungenhaften
Bewunderung für das Abenteuerliche und einem mir eigenen Sinn für das
Pathetische
herrühren. Aber ich habe diese Menschen immer bewundert, die in ihrer
gestreiften Häftlingskleidung
von den Schiffen stiegen und sich aufmachten, eine Nation aufzubauen. Sie
errichteten
Städte, machten das Land urbar, pflügten, pflanzten und mauerten. Sie gaben sich
Gesetze, lernten
alle dieselbe neue, fremde Sprache und verteidigten ihre neue Heimat mit der
Waffe in der
Hand gegen übermächtige Feinde. Innerhalb von 50 Jahren machten sie aus einem
kargen Fleckchen
Erde am Rande aller großen Zivilisationen einen modernen High-Tech-Staat. Ja,
noch heute
bewundere ich diese Nation genauso wie als Junge. Ich kann nicht anders, obwohl
man mich
dafür einen Kindskopf schimpfen könnte, und zu Recht.
Ich bin kein zionistischer
Extremist mit
einem deutschen Pass, ich glaube, ich habe zum Nahost-Konflikt zwischen Israelis
und Palästinensern
die liberalste nur denkbare Haltung. Ich weiß genau, dass jede Seite Fehler
gemacht hat
und kann sie benennen. Wenn ich etwas zu sagen hätte, hätten die Palästinenser
schon morgen
einen Staat auf eigenem Land in den Grenzen von 1967 mit freiem Transit zwischen
Gaza und
dem Westjordanland. Aber ich glaube an Israel und ich bin der Überzeugung, dass
es diesen Staat
geben muss, solange es Juden gibt. Israel ist für die Juden die einzige
Sicherheit auf Erden, und
sie brauchen Waffen, um sich verteidigen zu können.
Aber warum geht mein Interesse an Israel über reinen Wissensdurst hinaus? Ich
bin ja kein Jude,
werde nicht verfolgt und sehe deutscher aus als manch einer meiner Landsleute.
In unserer Familie
ist aber Israel eben doch immer ein wenig im Hintergrund gewesen. Wie für jeden
Juden war
Israel für meine Großmutter nicht nur ein Land, sondern ein möglicher
Zufluchtsort. Und auch
für meinen Vater ist es mehr als ein Land. Wer in irgendeiner Weise Berührung
mit Holocaust
und Judentum hat, kann verstehen, dass für Juden Israel eine Art
Lebensversicherung darstellt.
Gleichgültig in welch sicheren Umständen man lebt, Israel bedeutet die
Möglichkeit, an einen Ort
zu gehen, wo man unter seinesgleichen ist, der Unterdrückung entgehen und Herr
im eigenen
Lande sein kann. Und daher ist Israel nicht nur ein Land, sondern ein Prinzip,
das unter keinen
Umständen aufgegeben werden darf. Natürlich ist Israel für mich kein möglicher
Zufluchtsort,
schlicht und ergreifend weil ich von niemandem etwas zu befürchten habe. Aber zu
erleben, mit
welch stiller und auch unnachgiebiger, ja sturer Selbstverständlichkeit
Menschen, denen man nahe
steht konkret: meine Großmutter und mein Vater an dieses Prinzip glauben,
prägt einen
sehr. Ich glaube, das ist wieder einmal schwer nachzuvollziehen, aber vielleicht
illustriert folgende
Begebenheit, was ich meine: Eines Tages sprach meine Großmutter mit meinem
ältesten Bruder
über meinen Entschluss, Jura zu studieren. Im Verlaufe des Gesprächs fragte
meine Großmutter:
"Kann man damit auch ins Ausland gehen?" Was sie damit meinte, war: Sollte es
jemals wieder
zum Äußersten kommen, kann er seinen Beruf auch im Ausland ausüben? Könnte er
notfalls
auch, ohne mittellos zu werden, seinem Beruf auch als Auswanderer nachgehen?
Ich bin ein einziges Mal dort gewesen, für 10 Tage im Juli/August 2004. Ich
sagte meinen ewig
besorgten Eltern, ich würde nach Kroatien fliegen und bestieg die Maschine der
El Al nach Tel
Aviv. Es war ein unglaubliches Gefühl, als die Maschine in den Abendstunden
aufsetzte und der
Kapitän diese Worte sagte: "Ladies and gentlemen, bruchim habaim le'jisrael,
welcome to Israel."
Benommen stieg ich aus, sog die schwüle, stickige Luft ein, die mir wie eine
dicke Wand entgegenkam.
Ich konnte es den ganzen Abend und noch tagelang nicht fassen, endlich da zu
sein.
Nach Israel zu fahren, war einer meiner Lebensträume gewesen. Ich genoss das
Land, die Bilder,
die Menschen, die Gastfreundschaft der arabischen Familien, bei denen ich über
meinen arabisch-israelischen Tandempartner zu Gast war. Ich muss jetzt nicht in Einzelheiten
gehen, meine
Erlebnisse dort kann man zum größten Teil im "Lonely Planet Israel and the
Palestinian Territories"
nachlesen. Aber für mich war es eine Reise an einen vertrauten Ort. Kaum etwas
war
mir dort wirklich fremd. Ich hatte ja mein ganzes Leben lang alles über dieses
Land aufgesogen,
was nur in meine Nähe gelangte. Viele werden mich jetzt auslachen,
möglicherweise sogar meine
eigene Familie, aber ich hatte ein wenig das Gefühl, heimzukommen. Es war mein
Land. Ich
kannte mich dort aus, ohne jemals vorher dort gewesen zu sein. Ich wusste,
irgendwie gehörte ich
dazu. Und wenn ich gewollt hätte, hätte ich ja sogar bleiben können.
Es gab einen Moment unter vielen, der mir meine Verbindung mit Israel vor Augen
führte: Ich
saß im Dizengoff-Park in Tel Aviv auf einer Parkbank unter hohen Palmen und
frühstückte meinen
Bagel. Unweit von mir auf einer anderen Parkbank saßen zwei alte Frauen, die
sich auf
Deutsch unterhielten. Irgendwann stand die eine auf und verabschiedete sich, sie
sagte dabei irgendetwas
wie: "Also dann, Schalom, Schalom, auf Wiedersehen, und kol tuv (Alles Gute)."
Dabei
dachte ich bei mir, das hätte meine Großmutter sein können, wäre sie damals
ausgewandert,
anstatt in Deutschland zu bleiben. Dasselbe geblümte Kleid im Stil der 50er
Jahre, dazu eine dicke
Halskette, so schritt sie vorsichtig davon. Ich bin mir sicher, sie spricht
Hebräisch noch immer
mit einem deutschen Akzent, in ihrem Wohnzimmer steht noch der alte deutsche
Nippes und die
hippen israelischen Jugendlichen mit ihren modischen Sonnenbrillen, knallengen
T-Shirts und
trendigen Mobiltelefonen sind ihr fremd. Sie weiß, sie gehört nach Israel, es
ist ihr Land, ihre
Zuflucht und ihr sicherer Hafen, aber tief drinnen lebt sie noch in Deutschland
und ignoriert das
orientalische Treiben, so gut es eben geht. Und immer, wenn ich daran
zurückdenke, ist es nicht
die fremde Frau, die dort mit vorsichtigen Schritten den schattigen Weg
entlanggeht, sondern
meine Großmutter.
Meine Großmutter starb im Jahre 1999 an den Folgen eines Selbstmordversuches.
Nach allem
was ich weiß, konnte sie die Einsamkeit nicht mehr ertragen und auch nicht die
Gedanken an
Auschwitz, die sie in dieser Einsamkeit wieder stärker überkamen.
hagalil.com 30-10-2005
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