Bildung multimedial:
Exil in Shanghai
Gudrun Schroeter, tacheles
reden / hagalil
Das
Bildungsangebot des Rafael Roth Learning Center im Jüdischen Museum Berlin
wurde um eine multimediale Geschichte erweitert. Ende August wurde die
Präsentation Exil in Shanghai vorgestellt. Mit Fotos, Videos, Audios und
Zeitzeugenerzählungen werden die Bedingungen der Emigration und das Leben der
Flüchtlinge in der Hafenstadt dargestellt.
Nach den Novemberpogromen
1938 wurde vielen Juden und Jüdinnen die Ernsthaftigkeit der Situation in
Deutschland bewusst. Von einer Wahl des Exils konnte zu diesem Zeitpunkt für die
große Mehrheit der zur Flucht Entschlossenen keine Rede mehr sein. Neben dem
grundlegenden Problem, die Flucht finanzieren zu können, standen sie vor der
Situation, dass die wenigsten europäischen Länder oder die USA überhaupt bereit
waren Flüchtlinge aufzunehmen: Der Weg in die USA war von langen Wartelisten
verstellt, die britische Mandatsregierung bestimmte Kontingente und
Zuwanderungsbeschränkungen für die Einreise nach Palästina. Der Weg nach
Shanghai war die einzige Möglichkeit, ohne Auflagen, d.h. ohne Visum, außer
Reichweite des nazistischen Terrors zu gelangen.
Etwa 20.000 jüdische
Flüchtlinge gelangten nach Shanghai die Zahlenangaben differieren in
verschiedenen Quellen. Bis Juni 1940 lagen vor der Ankunft im Zielhafen
wochenlange Schifffahrten von Trient oder Genua aus. Ab Juni 1940, nach dem
Kriegseintritt Italiens, blieb nur noch der Weg über Land mit der
transsibirischen Eisenbahn und ab Juni 1941, nach dem Angriff Deutschlands auf
die Sowjetunion, war auch diese Fluchtlinie versperrt.
Exterritoriale Zonen auf
chinesischem Gebiet
Seit Mitte des 19.
Jahrhunderts und als Folge des Vertrages von Nanking, in dem die Beendigung des
ersten Opiumkrieges verhandelt wurde, existierten in Shanghai separate
Territorien, die nicht chinesischem Recht unterstanden. Die westlichen
kolonialen Mächte hatten sich fünf Häfen in der Region erhandelt, um ihre
Handelsprivilegien, Niederlassungsrechte und strategische Stützpunkte zu
erhalten. In Shanghai entstanden das britische und us-amerikanische
International Settlement und die Concession francaise.
Während des
chinesisch-japanischen Kriegs (1937) besetzten japanische Militärs Shanghai bis
auf diese exterritorialen Gebiete, in denen sich daraufhin vermehrt chinesische
Flüchtlinge ansiedelten. Die Territorien blieben jedoch von den Krieghandlungen
nicht verschont zerschossene und verlassene Häuser, zerstörte Wasserleitungen
prägten auch hier, vor allem in den ärmeren Teilen, das Bild. In der Stadt
herrschten Willkürjustiz und Drogenkartelle, Bestechung, Hitze und Armut.
Der nordöstliche Teil des
International Settlements war der Stadtteil Hongkou. Die Mieten waren in
diesem vernachlässigten Bezirk um mehr als die Hälfte billiger als in den
anderen Bereichen der internationalen Niederlassungen. Hongkou wurde zum
Zufluchtsort für viele der Flüchtlinge aus Deutschland.
Ankunft und
Flüchtlingsalltag
In der multimedialen
Präsentation wird die sich für die Flüchtlinge oft undurchschaubare und
chaotische darstellende Situation übersichtlich in drei Hauptkapiteln gestaltet:
Warum Shanghai, Ankunft und Alltag und Nach Kriegsende. In Unterkapiteln
werden einzelne Situationen genauer beleuchtet.
Bilder aus alten Fotoalben,
eingelesene Briefe und Zeitzeugenberichte ergänzen die Informationen über die
politische Situation. Der erste Teil behandelt die Situation in Deutschland und
die Fluchtwege: Oft musste sehr schnell entschieden werden. Familienmitglieder
waren während und kurz nach den Pogromen in Berlin in Gefängnisse verschleppt
worden und mit der Auflage, das Land binnen einer festgelegten Zeit zu
verlassen, wieder entlassen worden. Nach Shanghai gab es noch einen Weg.
Der heutige Direktor des
Jüdischen Museums, W. Michael Blumenthal, der als Jugendlicher mit seiner
Familie in die Stadt gelangte, beschreibt die Ankunft in der überfüllten,
undurchsichtigen und heißen neuen Umgebung, vor allem nach der relativen
Regelmäßigkeit während der Schiffsreise, als traumatische Erfahrung. Die meisten
Flüchtlinge erreichten den fremden Hafen mittellos. Die nationalsozialistischen
Devisenbestimmungen hatten die Flüchtlinge mit lediglich zehn Reichsmark im
Gepäck das Land verlassen lassen.
Mit Hilfe internationaler
und regionalen Hilfskomitees konnten Grundstrukturen für das Überleben aufgebaut
werden. Bevor der Flüchtlingsstrom eintraf, gab es in Shanghai zwei kleine
jüdische Gemeinden. Eine askenasische Gruppe war nach den Pogromen 1905 aus
Russland geflohen und hier gestrandet. Eine weitere Gruppe bildeten sephardische
Juden aus dem Irak, die recht gute Positionen im internationalen Handel
innehatte und mit einem schnell errichteten Hilfskomitee unter der
Schirmherrschaft des einflussreichen Victor Sassoon den Geflohenen zu Hilfe kam.
Außerdem arbeitete in der Stadt das 1938 gegründete International Committee for
European Imigrants in China. Die Menschen wurden vorerst in Massenunterkünften
untergebracht, Männer- und Frauenbereich durch einen Vorhang getrennt,
Suppenküchen wurden errichtet, die Wasserverteilung organisiert.
Die Präsentation berichtet
von den Überlebensstrategien in Shanghai: Etwa, wie eine kleine Minderheit der
Emigranten versuchte, kleine Geschäfte aufzubauen, einen Eisvertrieb, der das
Eis bis in den Kühlschrank liefert oder das Delikatessengeschäft Elite, oder
Hut- und Mützenmachern, die ihre Angebote auf Handzetteln offerierten. Auch das
Entstehen kultureller Initiativen ließ nicht lange auf sich warten: die Ideen
des Kulturbundes und die Erfahrungen von Berliner Bühnen wurden in die
Tanzhallen und Kinosäle Shanghais verlagert. Auf dem Spielplan standen neben
Lessings Nathan in Shanghai entstandene Stücke. Der Artist Club, ein
Zusammenschluss unterschiedlichster darstellender Künstler vom Zauberkünstler
zum Startenor veranstaltete Potpourris. Etwa dreißig Zeitungen und Periodika
entstanden. Vor allem die Gelbe Post bemühte sich, die chinesische Umwelt und
chinesische Themen in die Berichterstattung aufzunehmen, in der ansonsten eher
in einer kulturellen Enklave lebenden Gruppe, die den Aufenthalt in der Stadt
als Interimszeit ansah.
Ghetto im Exil
Nach der Besetzung des
gesamten Shanghaier Stadtgebietes durch die japanischen Truppen Anfang Dezember
1941, die parallel zum Angriff auf Pearl Harbour erfolgte, änderte sich die
Situation für die jüdischen Flüchtlinge: Mit der Umsetzung des deutschen
Reichsbürgergesetzes galten sie ab 1941 staatenlos. Anfang 1943 erließen die
japanischen Befehlshaber das Dekret zur Errichtung einer so genannten designated
area für Staatenlose. Hongkou wurde zum Ghetto, das nur mit von den japanischen
Behörden ausgestellten Arbeitsscheinen verlassen werden konnte. Trotz formaler
Ähnlichkeiten oder der Tatsache, dass die Flüchtlinge auch hier der Willkür
einzelner Machthaber ausgesetzt waren, bestand in diesem Ghetto ein elementarer
Unterschied bestand zu den von den Deutschen in ihrem Machtgebiet errichteten:
Die Menschen waren nicht zur Vernichtung verurteilt.
Mit der japanischen
Kapitulation Im August 1945 gelangten mehr und mehr Nachrichten aus Europa an
die fernöstliche Küste. Die kaum geglaubten Gerüchte entschlüsselten sich zu
Tatsachen: an den Mauern des ehemaligen Ghettos in Hongkou hingen die Listen von
Überlebenden der Shoah. Es begann die Suche nach Angehörigen und Freunden. Der
nächste Schritt für die meisten der Shanghailänder war der Aufbruch, und das
bedeutete meist die Suche nach einem Drittland. Wenige nur kehrten nach
Deutschland zurück. Doch viele stehen noch heute, über Grenzen und Verstreuung
hinweg, in Kontakt zu den Mitgliedern ihrer Shanghailänder Familie.
Die Präsentation bietet
einen sehr guten Überblick über die Extremsituation des langen Transits in
Shanghai und dabei eine Verbindung von politischer Geschichte mit persönlicher.
Wie reibungslos oder spannungsvoll das jüdische Leben sich gestaltete, bleibt
dann der eigenen Suche nach weiteren Spuren überlassen.
mehr im: Rafael Roth
Learning Center,
Jüdisches Museum Berlin, Lindenstraße 9 14
hagalil.com 03-09-2003 |