In der Neukonzeption der Gedenkstätten in Sachsen spiegelt
sich ein altes Problem das Verhältnis der DDR-Dissidenz zur Shoah
Wir sind die Opfer
Martin Jander in der
Jungle-World vom 11.2. 2004
Die Kritik hätte klarer und entschiedener nicht sein
können. Eine »Waagschalen-Mentalität« attestierte der Zentralrat der Juden in
Deutschland den Akteuren der Aufarbeitung der SED-Diktatur. Der Zentralrat und
weitere Verbände von Opfern des Nationalsozialismus haben am 21. Januar 2004
ihre Mitarbeit in der Stiftung sächsischer Gedenkstätten aufgekündigt (Jungle
World, 7/04). In einer Erklärung warnte die Vertretung der jüdischen Gemeinden
in Deutschland vor einer »Analogisierung und Relativierung von NS-Verbrechen
gegenüber denen des Stalinismus und der Staatssicherheit der DDR«.
Gleichzeitig warnte der Zentralrat der Juden vor einer Übertragung des
sächsischen Gedenkstättenkonzepts auf die gesamte Bundesrepublik. Diese Kritik
zielt auf einen Antrag der Bundestagsfraktion der CDU/CSU, der sich an das
sächsische Gedenkstättenkonzept ausdrücklich anlehnt.
Mit dieser Kritik wird kein ganz neuer Gegenstand in die
Auseinandersetzung um öffentliches Gedenken und Erinnern in der Bundesrepublik
eingeführt. Jedoch geraten jetzt neben den üblichen Verdächtigen auch solche
Akteure in die Kritik, die bislang so nicht in der öffentlichen
Auseinandersetzung standen: Angehörige der Opposition aus der früheren DDR und
andere Initiativen zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.
Berechtigte Kritik
Mit welchen Argumenten man der Kritik des Zentralrats der
Juden begegnen will, ist bislang nicht erkennbar. Die Bundestagsfraktion der
CDU/CSU hat ihren Antrag vorläufig zurückgezogen. Die sächsische Landesregierung
hat den Zentralrat für ein Gespräch Ende Februar eingeladen. Dass eine
Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen stattfindet, wird jedoch in
allen bislang verfügbaren Erklärungen abgestritten.
Sowohl im Sächsischen Gedenkstättengesetz als auch im Antrag
der CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird jedoch eben diese Relativierung deutlich
erkennbar. Im Artikel 2 des sächsischen Gesetzes heißt es: »Zweck der Stiftung
ist es, diejenigen Stätten im Freistaat Sachsen zu erschließen, zu fördern und
zu betreuen, die an politische Gewaltverbrechen von überregionaler Tragweite,
von besonderer historischer Bedeutung, an politische Verfolgung, an Staatsterror
und staatlich organisierte Morde, erinnern. Die Stiftung hat die Opfer
politischer Gewaltherrschaft und den Widerstand gegen die Diktaturen zu würdigen
sowie die Strukturen und Methoden der jeweiligen Herrschaftssysteme für die
Öffentlichkeit zu dokumentieren.«
Auch das vorläufig zurückgezogene »Gesamtkonzept für ein
würdiges Gedenken aller Opfer der beiden deutschen Diktaturen« der CDU/CSU
enthält die kritisierte Analogisierung von Nationalsozialismus und SED-Diktatur
schon im Titel. In einem nationalen Gedenkstättenkonzept der Bundesrepublik
sollen zusätzlich zu den Stätten der Erinnerung an den Nationalsozialismus und
die SED-Diktatur auch Gedenkorte der Flucht und Vertreibung der Deutschen aus
Ostmitteleuropa integriert werden. Hier scheint auch das Bewusstsein für den
Zusammenhang von Ursache und Wirkung vollkommen verloren gegangen zu sein. Alle
diese Gedenkstätten werden darüber hinaus unter der gleichmacherischen
Rubrizierung von Gedenkorten zu »Gewaltverbrechen« abgehandelt.
Antitotalitärer Konsens
Die berechtigten Vorwürfe des Zentralrats werden im politisch
sehr heterogenen Milieu der Ex-DDR-Opposition leider kaum auf offene Ohren
stoßen. Der erste Grund ist darin zu suchen, dass sich die Mehrzahl der
Initiativen auf die vor 1989 in der DDR verfemte Totalitarismuskonzeption
stützt. Seit den Tagen der von den Ex-DDR-Bürgerrechtlern Rainer Eppelmann und
Markus Meckel angeregten Enquetekommissionen des Bundestages, die sich mit der
SED-Diktatur und ihren Folgen beschäftigten, ist das Schlagwort vom
»antitotalitären Konsens« aus dem Milieu nicht mehr wegzudenken. Als Blockade
für die Wahrnehmung der Kritik des Zentralrats wirkt aber nicht so sehr die
Totalitarismuskonzeption selbst. Es gibt sie ja auch in Ausprägungen wie z.B.
bei Hannah Arendt. Sie hat nicht explizit von der »Singularität« der deutschen
Verbrechen gesprochen, ihre Analysen legen diesen Begriff jedoch nahe.
Sieger der Geschichte
Als Wahrnehmungsblockade im Milieu der Ex-DDR-Opposition wirkt
stärker, dass in der DDR an die Vernichtung der europäischen Juden nur ganz am
Rande erinnert wurde. Haftung und Verantwortung wurden deshalb für den
durchschnittlichen DDR-Bürger kein gelebtes Anliegen. Während in der (alten)
Bundesrepublik, angestoßen vor allem durch die Nürnberger Prozesse und getragen
von Politikern, die meist der sozialdemokratischen Linken zuzurechnen waren, ein
Weg der Anerkennung der Verbrechen und ihrer symbolischen Wiedergutmachung
eingeschlagen und von Teilen der Bevölkerung (langsam) mitgegangen wurde, blieb
diese Entwicklung in der DDR aus.
Die deutsche kommunistische Linke analysierte schon während
des Nationalsozialismus und auch danach den Nationalsozialismus als ein Phänomen
des Kapitalismus. Sie hat damit selbst einer Relativierung der Verbrechen
Vorschub geleistet. Mit der sozialistischen Umgestaltung der DDR galt ihnen die
Wurzel des Übels als beseitigt, eine Übernahme von Verantwortung und Haftung
wurde zurückgewiesen. Die Folgen waren verheerend. Die regierenden
Antifaschisten übertrugen ihr Siegesbewusstsein auf die ganze Bevölkerung. Der
Selbstexkulpation der Täter, Mitläufer und Zugucker war damit Tür und Tor
geöffnet. Mit der Dethematisierung der deutschen Verbrechen ging eine
Desensibilisierung für die Leiden der Opfer und ihrer Ansprüche einher.
Die Speziallager
Als weitere Wahrnehmungsblockade wirkt ganz besonders die nach
dem Umbruch vehement aufbrechende Debatte über die sowjetischen Speziallager in
den Jahren 1945 bis 1950. Hier waren wie in den Lagern der Amerikaner, Briten
und Franzosen Menschen interniert worden, denen man eine Betätigung in der
NSDAP, der SA etc. nachsagte. Etwa 160 000 Menschen waren betroffen. Im
Unterschied zu den Lagern der Westalliierten gab es hier jedoch keine
rechtsstaatlichen Überprüfungen der Vorwürfe. Etwa ein Drittel der Internierten
starb an Hunger, Krankheiten und Kälte. Da zwei dieser Speziallager unmittelbar
auf dem Gelände der nationalsozialistischen Konzentrationslager Buchenwald und
Sachsenhausen eingerichtet wurden, hat sich bei einer nicht unerheblichen Anzahl
von Menschen der Eindruck festgesetzt, die sowjetischen Streitkräfte seien so
barbarisch gewesen wie die deutsche Wehrmacht und die SS.
Dass die Speziallager eine Folge des Nationalsozialismus
waren, ist aus dem Bewusstsein verschwunden. Trotz sehr differenzierter
wissenschaftlicher Beiträge zur Geschichte und Entwicklung dieser Lager, hat die
Wahrnehmung des Leidens der Speziallager-Häftlinge einer neuen »Rot gleich
Braun«-Ideologie Platz gemacht.
In der Untersuchung von Sabine Moller (»Vielfache
Vergangenheit«, Tübingen 2003) zur Tradierung des Nationalsozialismus in
ostdeutschen Familien wird sichtbar, dass insbesondere der Hinweis auf diese
Speziallager das Stimmungsklima hat kippen lassen. Mit dem Verweis auf die
Speziallager weisen insbesondere die NS-Zeitzeugengeneration und ihre Enkel in
den fünf neuen Bundesländern den staatlich verordneten Antifaschismus der DDR
zurück. Nicht selten wird dabei gleichzeitig jede Kritik am Nationalsozialismus
als unglaubwürdig verworfen.
Getrübte DDR-Aufarbeitung
So wenig wie die Speziallager als Folge des
Nationalsozialismus angesehen werden, so wenig wird die DDR insgesamt als seine
Folge betrachtet. Die DDR wird nur selten als einer der drei Nachfolgestaaten
des Nationalsozialismus (Bundesrepublik, DDR, Österreich) angesehen. Die
Nicht-Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der DDR ist nur selten
Gegenstand öffentlicher Debatten und wissenschaftlicher Untersuchungen geworden.
Zwar gibt es einige Autoren, die sich mit der Geschichte von Juden in der DDR,
der verweigerten Entschädigung für jüdische NS-Opfer, der Rolle und Funktion des
Antifaschismus, Antisemitismus und Antizionismus der DDR-Politik und anderen
Themen auseinandersetzen (Henryk M. Broder, Jeffrey Herf, Moshe Zuckermann,
Thomas Haury und andere), ihren Untersuchungen und den möglichen Konsequenzen
daraus ist jedoch nur geringe Aufmerksamkeit gewidmet worden. Dies hat auch dazu
geführt, dass bedeutende Persönlichkeiten, deren Engagement darauf gerichtet
war, in der DDR die Erinnerung an die Vernichtung der Juden wach zu halten und
entsprechende Konsequenzen einzufordern, im öffentlichen Bewusstsein kaum oder
nur schwach wahrgenommen werden.
Wer sich heute als Ex-DDR-Bürgerrechtler der Relativierung
nationalsozialistischer Verbrechen widersetzen will, könnte sich vor allem auf
Paul Merker, Helmut Eschwege und Konrad Weiß berufen. Alle drei haben in der DDR
das ihre dazu getan, dass der deutsche Judenmord in der DDR nicht vollständig
vergessen wurde.
Paul Merker
Paul Merker setzte sich für eine umfassende Entschädigung von
Opfern des Nationalsozialismus ein. Er kehrte Merker gehörte bereits in der
Weimarer Republik der KPD an 1947 aus dem Exil in Mexiko in die DDR zurück. In
seinem 1948 vorgelegten Gesetzentwurf wurden als Verfolgte des Naziregimes
Menschen angesehen, die politische Gegner des NS waren oder wegen ihrer
religiösen Einstellung oder »auf Grund der nazistischen Rassegesetze« verfolgt
worden waren. Der Gesetzentwurf enthielt auch Regelungen, die eine
Zurückerstattung geraubten Eigentums ermöglichten. Waren die Opfer bereits tot,
sollten nahe Verwandte die Wiedergutmachung erhalten. Die SED lehnte dieses
Gesetz jedoch ab. Merker wurde 1950 aus dem Politbüro ausgeschlossen und im
Dezember 1952 unter dem Vorwurf verhaftet, er habe die »Verschiebung deutschen
Volksvermögens« an »jüdische Kapitalisten« geplant, wie das Neue Deutschland
1953 schrieb. Gemeint war eben Merkers Eintreten für eine umfassende
Entschädigung auch jüdischer NS-Opfer. Merker wurde in einem Geheimprozess
verurteilt, 1956 aber bereits wieder freigelassen. Rehabilitiert wurde er nie.
Helmut
Eschwege
Helmut Eschwege ist wohl der einzige Historiker der DDR, der
über die Vernichtung der europäischen Juden in der DDR forschte und publizierte.
Der 1913 in Hannover geborene jüdische Sozialist war über Dänemark, Lettland und
Estland nach Palästina emigriert. 1943 war er in die britische Armee
eingetreten, 1945 nach Prag umgesiedelt und 1946 Mitarbeiter in der
SED-Landesleitung Sachsen in Dresden geworden.
Im Zuge derselben anti-zionistischen und anti-semitischen Kampagnen der SED, in
der Paul Merker verhaftet wurde, schloss man Eschwege 1953 als Westemigranten
und möglichen Spion aus der SED aus. Er beschloss daraufhin, über die
Entrechtung und Verfolgung der Juden im Nationalsozialismus zu schreiben.
Seine Dokumentation »Kennzeichen J« konnte jedoch erst nach 1966 in der DDR
erscheinen. Auch sein Buch »Die Synagoge in der deutschen Geschichte« lag zwölf
Jahre beim Verlag und musste mehrfach umgearbeitet werden.
Die Untersuchung »Selbstbehauptung und Widerstand. Deutsche Juden im Kampf um
Existenz und Menschenwürde 19331945« konnte nur in der Bundesrepublik
erscheinen. Seine »Geschichte der Juden in der DDR« blieb ungedruckt.
Eschwege wurde allerdings nicht nur vom MfS beobachtet, er war ihm auch als IM
»Ferdinand« zu Diensten. 1989 gehörte Eschwege zu den Gründungsmitgliedern der
SPD in Dresden.
Konrad Weiß
Konrad Weiß ist einer der ganz wenigen Repräsentanten der
DDR-Opposition der achtziger Jahre, der sich in Filmen und Artikeln mit der
Vernichtung der europäischen Juden auseinandergesetzt haben. Er wurde 1942 in
Lauban (Polen) geboren. Er wuchs nach der Flucht der Familie, an deren Folgen
sein Vater starb, in Genthin (Sachsen-Anhalt) auf. 1965 war er einer der
Teilnehmer der ersten Fahrt von Aktion Sühnezeichen nach Auschwitz. Er studierte
an der Deutschen Hochschule für Filmkunst in Potsdam-Babelsberg und drehte nach
seiner Ausbildung zahlreiche Filme zu jüdischen Themen. 1989 gehörte er zu den
Mitbegründern der Bürgerrechtsorganisation Demokratie Jetzt. 1998 publizierte
Weiß eine Biografie über den Gründer der Aktion Sühnezeichen, Lothar Kreyssig,
der als aktives Mitglied der Bekennenden Kirche einen Strafantrag gegen das
Euthanasie-Programm des Nationalsozialismus gestellt hatte. Konrad Weiß war
darüber hinaus der Initiator der Erklärung der DDR-Volkskammer vom April 1990,
in der es hieß: »Durch Deutsche ist während der Zeit des Nationalsozialismus den
Völkern der Welt unermessliches Leid zugefügt worden. Nationalismus und
Rassenwahn führten zum Völkermord, insbesondere an den Juden aus allen
europäischen Ländern, an den Völkern der Sowjetunion, am polnischen Volk und am
Volk der Sinti und Roma. (
) Wir bitten die Juden in aller Welt um Verzeihung
für Heuchelei und Feindseligkeit der offiziellen DDR-Politik gegenüber dem Staat
Israel und für die Verfolgung und Entwürdigung jüdischer Mitbürger auch nach
1945 in unserem Lande.« In dieser Erklärung des ersten frei gewählten Parlaments
der DDR wurde eine »gerechte Entschädigung« angekündigt.
Geteilte Erinnerung
Es steht also zu hoffen, wenn auch leider nicht zu erwarten,
dass im Streit zwischen dem Zentralrat der Juden und den
Aufarbeitungsinitiativen in der Ex-DDR Stimmen hörbar werden, die Partei für die
Position des Zentralrats ergreifen und die zur Zeit deutlich grassierende
Waagschalen-Mentalität einer kritischen Überprüfung unterziehen. Die politisch
sehr heterogenen Initiativen zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit stehen dabei
vor einer großen Herausforderung. Die bislang verfügbaren Erklärungen zum
Konflikt über die sächsische Gedenkstättenkonzeption deuten jedoch darauf hin,
dass man bislang nicht begriffen hat, was überhaupt Relativierung der
nationalsozialistischen Verbrechen bedeutet.
Zu verstehen, dass man etwas nicht versteht, ist schwer. Es
ist allerdings nicht unmöglich. Verstehen bedeutet mehr als nur Wissen. Die Welt
der überlebenden NS-Opfer und ihrer Kinder ist von der Welt der überlebenden
NS-Täter und ihrer Erben fundamental verschieden. Juden und Nichtjuden leben in
Deutschland nach dem Ende des Nationalsozialismus zwar in einer Gesellschaft,
aber sie leben mit vollkommen verschiedenen Erinnerungen. Salomon Korn, der
Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, spricht in einer
Essaysammlung von einer »geteilten Erinnerung«.
Für die Nachfahren und Erben der nationalsozialistischen
deutschen Täter ist die Erinnerung an den Nationalsozialismus mit der Erinnerung
an die Verbrechen ihrer Eltern und Großeltern, mit der Erinnerung an die
Verbrechen der deutschen Gesellschaft verbunden. Für die Überlebenden der Shoah
und ihre Kinder und Enkel ist die Erinnerung an den Nationalsozialismus
verbunden mit der Erinnerung an die Ermordung ihrer nächsten Angehörigen und an
den Versuch, alle Juden der Welt auszulöschen. Mit den Nachfahren der Täter
können sie in Deutschland nur dann zusammenleben, wenn die nicht jüdische
Mehrheitsgesellschaft die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen
nicht verweigert, banalisiert oder relativiert.
Martin Jander ist Mitarbeiter der Zeitschrift Horch und
Guck.
haGalil onLine 12-02-2005
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