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Art Spiegelman:
Kisses from New York in Berlin

Gudrun Schroeter, tacheles-reden / hagalil

Im Martin-Gropius-Bau sind zur Zeit, organisiert von der Neuen Gesellschaft für Literatur, Werke von Art Spiegelman zu sehen. „Kisses from New York“ zeigt seine Illustrationen für das renommierte Magazin „The New Yorker“. In einem Podiumsgespräch sprach er mit Jan Balzer von der Berliner Zeitung über seine Arbeit, über den Comic und die Kunst, das Leben im Allgemeinen und den 11. September 2001.

Der in Schweden geborene Art Spiegelman verlebte seine Kindheit und Jugend in Queens, NYC, studierte Kunst und Philosophie und begann früh zu malen. In den 60er und 70er Jahren gehörte er zu der Generation von Undergroundkünstlern, die das Genre Comic von der Mainstreamproduktion absetzten  und als Comix zum Ausdrucksmittel politischer und sozialer Themen weiter entwickelte.

Konfrontation mit der Vergangenheit – „Maus“

Weltbekannt wurde er durch den zweiteiligen (erschienen 1986 und 1991) Band „Maus“, der in etliche Sprachen übersetzt wurde. Das als Zweijahresprojekt geplante Unternehmen wurde für Art Spiegelman eine Arbeit von 13 Jahren. Mit den Zeichnungen der Juden als Mäuse, der Nazis als Katzen und Polen als Schweine gestaltete er einen ungewöhnlichen Kontext zur Darstellung einer Geschichte der Shoah. „Maus. Geschichte eines Überlebenden“ thematisiert dabei nicht nur die KZ-Erfahrungen des Vaters, sondern auch die Konfrontation des Sohnes, der zweiten Generation, mit den sich dem Verstehen verschließenden Erfahrungen der Vergangenheit und einer von vielschichtigen Traumata geprägten Gegenwart. Der 1992 mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnete „Maus“ verdeutlicht, dass der Comic nicht nur eine Ausdrucksform für einfache Sachverhalte ist. Paul Auster schreibt in der Einleitung des zur Ausstellung erschienen Buches, dass Spiegelman bewiesen hat, „dass Comics nicht nur für Kinder sind, dass man in kleinen, mit Wörter und Bildern gefüllten Rechtecken eine komplizierte Geschichte erzählen und dabei die emotionale und intellektuelle Kraft von großer Literatur entwickeln kann.“ (Küsse aus New York. Art Spiegelman, Frankfurt am Main 2003)

Die in Berlin ausgestellten Exponate umfassen den Zeitraum 1993 bis 2002, die Zeit, in der Art Spiegelman als Autor und Illustrator für den „New Yorker“ arbeitete. Er selbst bezeichnet die Erfahrung, als „ein gefährliches, außer Kontrolle geratenes Laborexperiment“, in dem er versucht habe, seine „eigenen wild gewordenen Moleküle mit der seit langem festgelegten DNS der Zeitschrift zu verbinden“. Nicht immer gelang es, seine Coverentwürfe in diesem etablierten Zeitgeistmagazin unterzubringen, und dennoch setzte er eine neue kritische Sequenzen, die nicht ohne Reaktionen blieben.

DER Kuss von New York

In der Ausstellung ist auch das Bild zu sehen, das dieser und dem jetzt erschienenen Buch seinen Namen gab: die über New Yorker Grenzen hinaus bekannt gewordenen „Valentinsbotschaft“ an die New Yorker Bevölkerung von 1992: ein chassidischer Mann und eine schwarze Frau, sich küssend umschlungen. Vorangegangen waren diesem Entwurf tagelange Krawalle und ein Lynchmord, in denen die Ressentiments zwischen Juden und Schwarzen in Crown Heights, Brooklyn, eskaliert waren.

Die Illustration wurde nach heftigen internen Disputen in der Redaktion doch zum Cover des „New Yorker“: Nie zuvor da gewesen im „New Yorker“: es erschien mit einem Kommentar, in dem Aussagen von Art Spiegelman aus den redaktionellen Kontroversen zusammengefasst waren, in denen er diese sinnbildliche Umarmung als Ausdruck seines Wunsches nach Versöhnung zwischen scheinbar unüberbrückbaren Gegensätzen erklärt, als Ausdruck eines Traumes ohne programmatischen Anspruch:  Dass natürlich die existentiellen Probleme der schwarzen Bevölkerung New Yorks sich nicht wegküssen lassen, doch dass es „vielleicht  ... einmal im Jahr, und sei es nur für einen Moment, erlaubt (sei), die Augen zu schließen, zu vergessen, wie kompliziert das Leben heute ist, und sich vorzustellen, dass ´ein kleines bisschen Liebe` alles ist, was wir brauchen.“

Vehemente Angriffe – verbal, schriftlich bis zu tätlichen Drohungen – folgten der Veröffentlichung: von Ketzerei bis zur Demütigung der schwarzen Frau lauteten die Anklagen, die Interpretationen des Bildes ließen von „beiden Seiten“ nicht an Schärfe fehlen. Im Buch zur Ausstellung resümiert Art Spiegelman: „Es war ein Sturm im Wasserglas, und ich hatte meinen Spaß. ... Immerhin war es mir gelungen, die zwei Parteien einer gespaltenen Gemeinde zu vereinen ... und sei es nur im gemeinsamen Hass auf mich.“

Kritisches Engagement

Auch die anderen in der Ausstellung gezeigten Cover und Entwürfe demonstrieren das direkte Engagement und die kritische Reflexion des Künstlers: mit Maschinengewehren und Granaten ausgerüstete, aus dem Schulbus steigende Kinder – das Massaker an der Columbine High School; ein an einer Steuererklärung hängender Hase – die US-amerikanischen Bürger müssen an einem auf den christlichen Karfreitag folgenden Tag ihre jährliche Steuerschuld begleichen; gebratene gelbliche Puten, die aus Flugzeugen vom Himmel auf  turbantragende Männer hageln – die gelben Bomben und die gelben Carepakete für die afghanische Bevölkerung.

Die Entstehungsgeschichte des schwarzen Titelbildes des „New Yorker“ als Reaktion auf die Zerstörung der Twin-Towers wird gezeigt: der zu Beginn surreale Entwurf, das auf Christosche Art schwarz verhängte WTC vor einem stillen Magritte-Himmel als Darstellung der direkten Erfahrung der Unwirklichkeit der Situation entwickelt sich zu dem Schwarz in Schwarz, dem dunklen Schatten der Türme, zum Ausdruck der Trauer.

Die Exponate sind illustriert mit Beiträgen Art Spiegelmans zu den jeweiligen politisch-gesellschaftlichen Kontexten der Bilder. Im Buch betont er, dass er seine Bilder nicht als ´politische Cartoons`, sondern als `Zeitgeistbarometer` versteht, in denen er Symbole so miteinander verflicht, dass sie seine Gedanken darstellen.

“You can even call me a Jew”

In der lockeren Atmosphäre des Podiumsgesprächs wurden die BesucherInnen des vollkommen überfüllten Kinosaals im Martin-Gropius-Bau mit auf eine Reise durch die Welt des Comic in den USA und die speziellen Comicstationen Art Spiegelmans in New York genommen. Der Comic, in den USA ein Phänomen der Massenkultur, zieht ein in die Museen. Ist das wünschenswert? Verliert er nicht seinen subversiven und unabhängigen Charakter? Dazu Art Spiegelman: „Massenkultur wird entweder zu Kunst oder sie stirbt.“  Der Comic, in den USA weitaus mehr als hier in die philosophischen und künstlerischen Debatten der Avantgardekunst eingebettet, entwickelt sich weiter.

Die Kontroverse um Roberto Benignis Film „Das Leben ist schön“ wird angesprochen. Als dieser Film 1999 für den Oskar-Filmpreis nominiert wurde, bezog Art Spiegelman Stellung mit einem Bild, das einen mageren, an einer Lagerwand sitzenden Häftling mit einem Oskar in der Hand darstellt. Dieses Bild erschien nicht als Cover des „New Yorker“, wurde aber in den Innenseiten gedruckt. Spiegelman, der sagt, dass er nach der Arbeit an „Maus“ sehr vorsichtig in seinen Urteilen in Bezug auf Verkitschung der Shoah geworden ist, kritisiert die sentimentale Metaphorik des Films. Sie könne den Schluss aufkommen lassen, dass mit ein bisschen Fantasie und Humor jeder Schrecken erträglich werde. Metaphern dienen nicht dazu, Geschichte hinter uns zu lassen, sondern eine direktere Sicht auf die Ereignisse zu ermöglichen, wie er es etwa mit den Masken in „Maus“ umzusetzen suchte.

Angesprochen darauf, ob er sich angegriffen fühle, wenn er als Cartoonist bezeichnet werde, antwortet Art Spiegelman mit einem lächelnden „No, you can even call me a Jew“, ein kurzes Raunen geht durch den Saal. Ob auch er das Raunen interpretiert hat?  „But you can even call me drawer, philosopher or publisher.”  Die Reise durch den New Yorker Comicdschungel geht dem Ende zu. Wir sind in Deutschland und eine solche Aussage ist in diesem Land wenig alltäglich, so wenig wie der Comic Massenkultur ist.

Die Ausstellung ist noch bis zum 17. September 2003 zu sehen.
„Kisses from New York“
Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstraße 7, 10963 Berlin
Öffnungszeiten: Mi-Mo 10.00 – 20.00 Uhr, Di geschlossen

hagalil.com 31-08-2003

 

Jüdische Weisheit
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