1943 - 19. April - 2003
Aufruf zur Gedenkveranstaltung:
60. Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Ghetto
in Berlin, am 6. April 2003
Rathaus Schöneberg
Am 19. April jährt sich zum sechzigsten Mal
der Aufstand der Jüdinnen und Juden im Warschauer Ghetto. An diesem Morgen
marschierten die Deutschen und ihre Hilfstruppen in das von einer Mauer
umschlossene Ghetto ein, weil die letzten 60.000 Menschen, die noch nicht in den
Vernichtungslagern ermordet worden waren, sich seit dem 18. Januar 1943 ihrer
Deportation widersetzten.
Sie taten dies nicht in der Hoffnung zu überleben: Sie wollten nicht in den
Gaskammern ersticken und sie wollten Rache nehmen für ihre ermordeten Verwandten
und Freunde. Der Aufstand sollte der Welt das Zeichen geben, dass sich Jüdinnen
und Juden gegen ihre Ermordung erhoben haben. Die deutschen Besatzer reagierten
mit Giftgas und Flammenwerfern auf die für sie überraschende Gegenwehr. Die
Panik der Mörder ob der Tatsache, dass jüdische Männer und Frauen bis zum
Äußersten Widerstand leisten, war der einzige Vorteil der Kämpfenden, zumindest
eine Zeitlang. In den Jahren zuvor sollten die Insassen des Ghettos planmäßig
durch Hunger, Krankheit und Sklavenarbeit unfähig gemacht werden, sich zu
wehren. Verzweifelt, abgeschnitten von der Außenwelt, die sich weigerte, die
Nachricht von der Vernichtung der europäischen Judenheit zur Kenntnis zu nehmen:
dass es vor diesem Hintergrund zu einer Erhebung kommen konnte, die nicht nur
die wenigen umfasste, die noch die Kraft hatten zu kämpfen, ist jene Ausnahme
von der Regel, die die unendlichen Schwierigkeiten von Widerstand gegen den
Vernichtungsapparat unterstreicht.
Jede Episode, jeder Aspekt des deutschen Menschheitsverbrechens wurde schon
herbeizitiert, um es mit anderen Ereignissen zu vergleichen; Vergleiche, die
gerade dann beliebt sind, wenn es um Israel geht. Die neueste Geschichtslüge ist
der Vergleich zwischen den von Israel besetzten palästinensischen Gebieten und
dem Warschauer Ghetto: "Wenn wir sehen wie israelische Panzer durch
palästinensische Dörfer fahren und sich die verzweifelten Menschen mit Steinen
wehren, dann müssen wir im Blick auf Warschau und im Blick auf den Aufstand der
Juden im Warschauer Ghetto auch fragen dürfen, war das dann nicht auch Terror?",
fragte zum Beispiel der Leiter des von der Bundesregierung finanzierten
Deutschen Orientinstituts, Prof. Dr. Udo Steinbach, bekannt aus Funk und
Fernsehen als Experte für die Verniedlichung islamistischen Terrors, auf einer
Veranstaltung am 6. Januar 2003 in Salzgitter.
Indem Steinbach das Bild des Steinewerfers, der gegen Panzer ankämpft, bemüht,
verschweigt er nicht nur etwa, dass von palästinensischer Seite bekanntlich
nicht nur Steine eingesetzt werden. Er impliziert auch die Israelis in der Rolle
der Deutschen, das heißt in Vernichtungsabsicht handelnd, und die Palästinenser
in der Rolle der Juden, was zweierlei bedeuten kann: Entweder erwehren sich die
Palästinenser ihrer Existenz oder aber die Juden waren gar nicht von Vernichtung
bedroht, sondern haben vielleicht - Stichwort Terror - manchmal gar übertrieben.
Beide Bedeutungen schließen sich nicht aus, im Gegenteil, in der einen wie in
der anderen Richtung bedienen sie das antisemitische Ressentiment.
"Müssen wir uns nicht fragen, was los ist, wenn ein anständiger und normaler
junger Mann, der leben will, wie jeder andere auch, sich einen Sprengstoffgürtel
umschnallt und sich in die Luft sprengt, nur weil er sonst keinen Ausweg sieht,
sich seine Würde zu bewahren?", leitete Steinbach seinen Vergleich ein, und in
dieser, wie immer harmlos und naiv formulierten Frage, wiederholt sich die
Zweischneidigkeit des Vergleichs. Denn entweder haben die Juden im Warschauer
Ghetto um ihre "Würde" gekämpft oder die Palästinenser wählen, weil sie ohnehin
ermordet werden, den Tod im Kampf. Egal wie, ob nun der Aufstand im Ghetto zum
Kampf um "Würde" verniedlicht oder den Palästinensern das Recht auf
Verzweiflungstaten angesichts drohender Vernichtung bescheinigt wird: am Ende
bleiben das Problem bei Steinbach die Juden.
"Müssen wir uns nicht fragen, ob aus den Grenzen von 1948 im Blick auf die Zahl
jüdischer Einwohner in den Westbanks nicht längst das Ziel zionistischer
Landgewinnung geworden ist?", schloss er seinen Vergleich, wieder zweideutig.
Denn entweder hat hier Israel das Ziel der Vernichtung oder dem
nationalsozialistischen Deutschland ging es lediglich um Expansion. Steinbach
möchte sich nicht festlegen, er muss es auch nicht. Indem er die antisemitische
Motivation islamistischen Terrors leugnet, entlastet er zugleich die Deutschen
und die Palästinenser von der Verantwortung für ihr Tun und benennt den
eigentlichen Schuldigen. Steinbach tut dies mit dem Selbstbewusstsein des
Deutschen, der, weil er aus der Vergangenheit gelernt hat, meint, anderen
Nachhilfe geben zu können.
Steinbachs Vergleich unterscheidet sich von anderen in einer Hinsicht: Nicht nur
relativiert er den Vernichtungsantisemitismus, er legitimiert ihn als gerechten
Widerstand.
Wer sich an den Aufstand im Warschauer Ghetto erinnern will, kann dies nicht,
ohne zuvor die Schichten von Vergleichen und anderen Nutzbarmachungen
abzutragen, die das Geschehene nach sechzig Jahren als irreal erscheinen lassen.
Das resignierte Konstatieren, nach so langer Zeit sei Erinnerung von Erzählung
nicht mehr zu trennen, ist zugleich die Absage an die Kritik der Einebnung der
deutschen Verbrechen. Ob eine Annäherung an den historischen Moment möglich ist,
sei dahingestellt; wissen wollen, was gewesen ist, heißt heute vor allem:
ausschließen, wie es nicht gewesen sein kann. Nicht im Sinne des Widerlegens,
sondern in kritischer Absicht, die auch die eigene Motivation zu reflektieren in
der Lage ist.
Die Tatsache, dass mit dem Tod der letzten Überlebenden auch die unmittelbar
persönliche Erinnerung an den Massenmord und vor allem an seine Opfer
verschwinden wird, verändert auch die politische Form der Erinnerung: das
Gedenken. In dem Maße, wie dieser Prozess vonstatten geht, wird das Gedenken
zunehmend ein Element der Entlastung, denn eben weil "wir" der Opfer gedenken,
"müssen wir uns fragen"; Fragen, deren Antwort schon in ihrer Formulierung
vorgegeben ist. Dagegen einer Erinnerung inne zu werden, die der Erinnerung der
Überlebenden eingedenk ist, ohne diese selbst sein zu können und sein zu wollen,
heißt sich einer positiven Bestimmung zu verweigern. Indem sie sich der
Überlebenden politisches Vermächtnis, nicht zu vergessen, zum Ausgangspunkt
nimmt, ist diese Erinnerung selbst Bestandteil und Ausdruck der wachsenden
zeitlichen Distanz zur unmittelbaren Erinnerung der Überlebenden: als ihre
Selbstkritik.
Mit unserer Gedenkveranstaltung zum 60. Jahrestag des Aufstands im Warschauer
Ghetto wollen wir zugleich erinnern und über die Erinnerung reflektieren, und
das tun wir nicht in einem luftleeren Raum. Israel, dessen Existenz eine der
wenigen Konsequenzen ist, die nach 1945 aus der Vernichtung gezogen wurden, ist
nicht nur von antisemitisch motivierten Selbstmordattentätern bedroht, sondern
zunehmend international Objekt antisemitischer Anfeindungen geworden. Die
Erinnerung an die Kämpferinnen und Kämpfer des Ghettoaufstands ist für uns
untrennbar mit der Solidarität mit dem jüdischen Staat verbunden, gerade wenn
unter Umständen genau zum Zeitpunkt unserer Veranstaltung Überlebende und ihre
Nachkommen in Israel erneut ins Visier von irakischen Raketen oder
Selbstmordattentätern gerieten.
Auf unserer Gedenkveranstaltung wird die Erinnerung jüdischer Überlebender im
Mittelpunkt stehen, die sich zur Zeit des Ghettoaufstands an verschiedenen Orten
im von Nazideutschland besetzten Polen aufhielten. Sie werden über ihre
Erfahrungen berichten, aber auch über ihre heutige Situation und ihre
Forderungen sprechen. Des Weiteren soll es um die Bedeutung des Ghettoaufstands
für die Gegenwart gehen sowie um verschiedene Formen des politischen Umgangs und
des Gedenkens. Unsere Veranstaltung in Kooperation mit dem Verband der jüdischen
Kriegsveteranen und - versehrten Polens versteht sich als antifaschistischer
Beitrag zum weltweiten Gedenken des 60. Jahrestags des Ghettoaufstands.
Berliner Bündnis gegen IG Farben / gruppe offene rechnungen
Programm der
Gedenkveranstaltung
hagalil.com
17-08-2003 |