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Berliner Bündnis gegen IG Farben / gruppe offene rechnungen

1943 - 19. April - 2003
60. Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Ghetto

Macht dieses Mal nicht mit!

Rede von Ludwik Krasucki auf der Gedenkveranstaltung zum 60. Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Ghetto am 6. April in Berlin

Manchmal, wenn ich in Deutschland junge Menschen treffe, bekomme ich die Frage gestellt: »Sind wir schuldig?« Meine Antwort ist: Die jungen Menschen in Deutschland sind selbstverständlich nicht schuldig. Ihr seid aber verantwortlich für euer Land. Deutschland ist ein großes und starkes Land. Vielleicht ein bisschen zu groß und zu stark für seine Nachbarn. In so einem starken, gut organisierten, fleißigen Land braucht die Zukunft eine Garantie gegen die Wiederholung der schrecklichen Erfahrung des Holocaust. Dafür sind die jungen Menschen verantwortlich.
Zu unserem Verband der Jüdischen Kriegsveteranen in Polen gehören ehemalige Sklavenarbeiter, Ghetto-, Vernichtungs- und Konzentrationslagerhäftlinge, aber auch Soldaten und Partisanen, Zeugen und Opfer des Zweiten Weltkrieges, des Holocaust, der Massenmorde in Polen und in anderen Ländern. Wir, die Holocaust-Überlebenden, wissen, dass alles, was zwischen dem September 1939 und dem Mai 1945 passierte, seinen Ursprung und Ansporn hier in Berlin hatte, in der Reichskanzlei und im Reichstag, in den Ministerien des Dritten Reiches, im Gestapo-Gebäude, am Wannsee und an vielen anderen Plätzen in der Stadt.
An dieser Wahrheit können keine schön ausformulierten Sätze und schlauen Manöver etwas ändern. Hier hatte die schlimmste Erfahrung der Menschheit ihren Anfang. Heinrich Heine, dessen Werke vor der Staatsoper am 10. Mai 1933, also vor fast genau 70 Jahren, verbrannt wurden, schrieb: »Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht.« Er dachte damals an seine Mutter, die 1831 nach seiner Emigration nach Paris allein und krank in Deutschland geblieben war.
Aber wenn wir an das Dritte Reich und an das damalige Berlin denken und nicht schlafen können, geht es nicht nur um unsere Mütter, die meistens vergast und verbrannt worden sind. Wir haben Familien, Eltern und Großeltern, Brüder und Schwestern, Tanten und Onkel verloren. Meistens haben wir von der Vorkriegszeit kein einziges Foto. Auf dem jüdischen Friedhof in Warschau gibt es viele symbolische Gräber. Die Plätze, wo unsere Familien liegen, sind nicht bekannt.
Wir sehen die tiefen Veränderungen in Deutschland. Jahr um Jahr, Generation um Generation. Es wird anders, es muss anders werden und es geschieht auch so. Wir treffen immer mehr Freunde in Deutschland, mehr als vor 50, mehr als vor 30 und auch mehr als vor zehn Jahren. Viel mehr, als wir hoffen konnten. Für uns sind alle freundlichen Bürger der Bundesrepublik Deutschland sehr wichtig. Wir danken ihnen, weil sie uns helfen, normal zu leben, normal zu schlafen, normal zu denken. Sie haben uns geholfen, uns den Hass abzugewöhnen.
Aber um ehrlich zu sein, muss ich sagen, dass wir auch andere Meinungen hören und lesen, leider auch in der letzten Zeit. Zum Beispiel, wenn die ständige Erinnerung an den Holocaust als »jüdische Handelsware« beschrieben wird. Oder die Versuche, die wirklich tragische Erfahrung vieler Deutscher am Ende des Krieges als gleichgewichtig zum Holocaust darzustellen. Ein polnisches Sprichwort sagt: »Wer den Wind sät, sammelt das Gewitter.«
Schade um jedes Opfer und jeden Tropfen Blut, sage ich als ehemaliger Häftling des Konzentrationslagers Stutthof. Schade um jede Ostpreußin, die vom Gauleiter Erich Koch auf der selben Straßen verjagt wurde, auf denen unser Todesmarsch stattfand. Schade um alle Opfer. Aber ein Gleichgewicht zwischen dem Holocaust und den deutschen Opfern am Ende des Zweiten Weltkrieges gibt es nicht. Das ist eine Lüge. Das ist nicht für uns Juden, sondern vor allem für die Deutschen sehr gefährlich.
Wer das Buch gedruckt und geöffnet hat, ist auch für die letzte Seite verantwortlich: Das ist die einzige Wahrheit über die Proportion zwischen dem Holocaust und den tragischen deutschen Opfern des Zweiten Weltkrieges. Das weiß ich und das sage ich mit offenem Herzen. Aber das Buch wurde von Hitler geöffnet, und er hatte damals die Mehrheit der Bürger des Dritten Reiches hinter sich.
Der Aufstand im Warschauer Ghetto, dessen wir gedenken, war heldenhaft und tragisch. Die Kämpfer waren fast unbewaffnet, aber ihr Einsatz war teuer für die Henker. Der Aufstand ist ein Symbol und ein Beweis für den Kampfeswillen der Juden. Und er ist ein sehr wichtiger Teil und eine wichtige Lehre nicht nur für die Geschichte der Juden oder die Geschichte Polens, sondern auch für die Geschichte Europas und der ganzen Welt. Der Aufstand war der erste Stadtaufstand im okkupierten Europa, und er war ein Vorbild für den tragischen Aufstand der Polen in Warschau 15 Monate später.
Aber man vergisst sehr leicht, dass der Aufstand im Warschauer Ghetto ein Teil des Kampfes von mehr als 300 000 polnischen Juden war, die mit Waffen in der Hand an allen Fronten als Soldaten und Partisanen, als Flieger und Matrosen gegen die Nazis kämpften. Sie bewiesen, dass das antisemitische Klischee, die antisemitische Propaganda von den Juden als Feiglingen, schwachen, kurzsichtigen, wehrlosen und gehorsamen Opfern, die ohne Widerstand zum Tode marschieren, mit der Wahrheit sehr wenig zu tun hat.
Ich bin kein Chauvinist und ich will keiner werden. Worum wir uns bemühen, ist die einfache Wahrheit, dass Juden normal sind, eben auch kampffähig und widerstandsfähig. Sie wollen nicht freiwillig Opfer werden. Wir sind dankbar für jede Erinnerung an den Aufstand im Warschauer Ghetto. Wir bitten, nicht die über 300 000 polnischen Juden mit Gewehren in der Hand zu vergessen. Wir hatten zu wenig Waffen. Wir wurden nicht von allen polnischen Offizieren in polnischen Armeegruppen zugelassen.
Aber 300 000 haben mit Gewehren in der Hand gekämpft. Mehr als belgische, holländische, dänische und norwegische Soldaten zusammen im Zweiten Weltkrieg. Wenn wir genau rechnen, sind es so viele, wie es französische Soldaten im Zweiten Weltkrieg gab. Das ist ein Streitpunkt, aber dennoch ein Punkt, um endlich die Wahrheit zu sagen. Polnische Juden waren und sind normale und kampffähige Menschen.
Wir sind Zeugen, einige von uns waren Soldaten und alle sind wir Überlebende des Holocaust. Es wäre unmöglich, dass wir, der Rest der polnischen Juden, nicht gegen den Krieg und für den Frieden wären. Nicht aus der Schule und aus Büchern wissen wir, was die Wörter Krieg und Frieden bedeuten. Wir wissen aber auch, dass für den Frieden blutdürstige Diktatoren und blinde Fanatiker sowie ihre superfleißigen Henker und Knechte gestoppt werden müssen.
Leider war das mit Hitler nicht der Fall. Der Weg zum Zweiten Weltkrieg, zum Tod von über 50 Millionen Menschen, führte über das Münchener Abkommen von 1938. Diese Erfahrung haben die Juden, die Juden in Israel und die Juden in anderen Ländern, machen müssen. Sie wissen, wohin die Toleranz für fanatische Mörder und kaltblütige Terroristen führt.
Die Geschichte lehrt uns, dass Freiheit und Menschenrechte mit den Angriffen auf Frauen und Kinder, zivile Flugzeuge, Schulen und Krankenhäuser nicht zu vereinbaren sind. Wir, die Überlebenden des Holocaust in Polen, träumen von einem schnellen Ende des Irakkrieges. Mit möglichst wenig Opfern, einem schnellen Wideraufbau des Irak und demokratischen Veränderungen in diesem unglücklichen Land. Das alles lässt sich mit Saddam Hussein nicht erreichen, genauso wie Frieden und demokratische Veränderungen mit Hitler nicht zu erreichen waren. Deswegen und mit schwerem Herzen sind wir polnischen Juden für den Krieg.
So denken auch die Regierung und die Mehrheit der Bevölkerung in Polen. Heute, wie im September 1939 und auch nach den großen Veränderungen von 1989, stehen Polen und Juden zusammen. Hier fühlen wir uns zuhause. Selbstverständlich hören wir aufmerksam allen Meinungen über diesen Krieg zu. Wir müssen aber auch fragen, wie sich die kreativen, braven, kritischen, linken Demonstranten in Deutschland und anderen Ländern fühlen, wenn sie auf denselben Demonstrationen marschieren, auf denen Neonazis und islamische Fanatiker mit antijüdischen und rassistischen Parolen auftreten.
Wir schauen in Polen mit großer Sympathie auf die verschiedenen linken Kräfte in Deutschland, von der SPD bis zu den jungen Studenten. Sie waren zusammen mit uns im Willen vereint, eine ehrliche Abrechnung mit dem Nazismus durchzuführen. Und jetzt sehen wir sie zusammen mit den Kandidaten einer neuen SS auf derselben Demonstration, unter derselben Parole. Für uns ist das kaum zu glauben.
Die Amerikaner sagen: »Wrong time, wrong place, wrong company.« Wir sagen den ehrlichen linken Menschen, die wir so gerne haben: Ihr seid zur falschen Zeit auf einer falschen Demonstration in falscher Gesellschaft. Sagt: auf Wiedersehen! Macht dieses Mal nicht mit!

Programm der Gedenkveranstaltung

hagalil.com 17-08-2003

 

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