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Die Asyl-Konferenz von Evian-les-Bains:
Das "jüdische Problem" auf internationaler Ebene
Von
Jerzy Tomaszewski
Teil 1
Wie dramatisch auch immer die Abschiebung aus Deutschland im Oktober 1938 vor
sich gegangen war: diese polnischen Juden waren letzten Endes doch nur ein Teil
jener Vertriebenen und Flüchtlinge aus dem Dritten Reich, die nach 1933
gezwungen waren, irgendwo Zuflucht zu suchen.
Und noch viel mehr Menschen waren
gewissermaßen potentielle Flüchtlinge, denen es lediglich nicht gelang, ein
sicheres Land zu erreichen. Denn die Emigrationskandidaten trafen auf zahlreiche
Hindernisse, in erster Linie Einwanderungsbeschränkungen, die nach 1918
eingeführt und nach der großen Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit 1929
überall noch einmal verschärft worden waren.
Politische Flüchtlinge konnten manchmal 1933 noch einen sicheren Hafen
finden, als die große Auswanderungs- und Flüchtlingswelle aus dem Dritten Reich
erst anzuschwellen begann. Allmählich verringerten sich aber die Chancen. Für
die Juden war die Einführung der britischen Zuwanderungsbeschränkungen für
Palästina im November 1937 der schwerste Schlag. 50
Als die Judenverfolgungen in Deutschland immer dramatischer wurden, verstärkte
sich die Auswanderung aus dem Reich. In der internationalen Arena nahm daher die
Konkurrenz unter den Kandidaten für eine Emigration zu.
Polen war und blieb ein traditionelles Auswanderungland, nicht nur für eine
jüdische Auswanderung. In Rumänien nahmen judenfeindliche Tendenzen in
Verbindung mit Schlagworten wie "Juden raus" zu. Der Antisemitismus verstärkte
sich durch die zunehmende Verarmung großer Bevölkerungsteile in vielen Ländern.
So entstand in Europa ein "jüdisches Problem". Man hat zu Recht festgestellt,
dass eigentlich zwei verschiedene Probleme existierten: ein
gesellschaftlich-wirtschaftliches durch fehlende Arbeitsplätze und infolgedessen
einen Mangel an Erwerbsmöglichkeiten. Das betraf nicht nur die Juden. Und
zweitens die Verbreitung und Verstärkung totalitärer Ideologien und eines
radikalen Nationalismus, von denen der Antisemitismus nur die extremste
Ausdrucksform darstellte. Wenn man also im Europa der zweiten Hälfte der
dreißiger Jahre von einer "jüdischen Frage" sprach, ging es nicht um einen
angeblich besonderen Charakter des jüdischen Volkes oder um das Judentum als
solches, sondern in erster Linie um Fragen, die durch den radikalen,
nichtjüdischen Nationalismus und die ungünstige wirtschaftliche Lage entstanden
waren. Das ist eigentlich nichts Ungewöhnliches. Der Antisemitismus ist zwar die
Ursache jüdischen Leidens, aber als Problem ist er die Krankheit der anderen
Völker.
Seit Ende des Ersten Weltkriegs gab es bestimmte Formen der Flüchtlingshilfe
im Rahmen des Völkerbundes. 1931 entstand das Internationale Büro für
Flüchtlingsangelegenheiten, das sogenannte Nansen-Büro, mit der Auflage, dass es
1938 aufgelöst werden sollte. Man glaubte fälschlicherweise von der Annahme
ausgehen zu können, dass das Flüchtlingsproblem zu diesem Zeitpunkt seine
Bedeutung verloren haben werde. Tatsächlich aber nahm das Problem, vor allem
jedoch die Lage der verfolgten Juden in Deutschland, an Schärfe zu. Auswanderung
aus Deutschland war kein Sonderphänomen, sondern war nur der äußere Ausdruck der
NS-Politik und dessen, was sich im Reich selbst abspielte. Anstatt also nur
Möglichkeiten zu suchen, den Emigranten zu helfen, musste das wesentlich
kompliziertere Problem des politischen Systems innerhalb Deutschlands gelöst
werden. Das hieß jedoch, dass die internationale Staatengemeinschaft sich in die
inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates hätte einmischen müssen, der
sich darüber hinaus anschickte, eine Großmachtrolle zu spielen. Zu einem solchen
Schritt konnte sich niemand entschließen. Also behalf man sich mit Palliativa.
Schon im Dezember 1933 entstand in Lausanne eine besondere Institution, das
Hochkommissariat für Flüchtlinge aus Deutschland. Es hatte einen geringen
Wirkungsbereich, obwohl es im Februar 1938 zum Abschluss der Genfer Konvention
über Flüchtlinge aus Deutschland gekommen war. Die Konvention legte die
Rechtslage derjenigen Personen fest, denen bereits die Flucht aus Deutschland
gelungen war, nach Schätzungen etwa 150.000. Das war kurz vor einer neuen,
großen Emigrationswelle infolge des sogenannten Anschlusses Österreichs sowie
der weiteren Verschärfung der Judenverfolgungen in Deutschland. Diese neuen
Emigranten hatte man jedoch im Abkommen noch gar nicht vorgesehen.
Die Staaten, vor allem die europäischen, standen in der Tat vor einem
schwerwiegenden Problem. Alle bisher geltenden Rechtsgrundsätze für das
Asylrecht oder für Flüchtlinge reichten nicht mehr aus. Außer gegenüber den in
Deutschland verfolgten Emigranten wuchs weiterhin unablässig der Druck in
Richtung Auswanderung aus wirtschaftspolitischen Gründen, weil es an
Arbeitsplätzen und Unterhaltsmöglichkeiten fehlte. Besonders kleine, aber
wohlhabende Staaten fanden sich angesichts der Zunahme von Einwanderungsbegehren
in einer schwierigen Lage und führten zuweilen sehr drastische Einschränkungen
ein, um die eigenen Grenzen und den eigenen Arbeitsmarkt zu schützen.
Evian-les-Bains
In dieser Lage ergriffen die Vereinigten Staaten von Amerika 1938 eine
Initiative für das Zustandekommen einer Konferenz, die die Emigration
politischer Flüchtlinge aus Deutschland und dem von ihm annektierten Österreich
erleichtern sollte. Zu Recht hat man in einer in Palästina erscheinenden Zeitung
seinerzeit allerdings bemerkt, dass, wenn einer der teilnehmenden Staaten etwas
hätte tun wollen, er das auch ohne Konferenz hätte tun können. 51
Wie es häufig geschieht, zogen sich die Verhandlungen lange hin und dienten
letzten Endes nur den wirtschaftlich wohlhabendsten Staaten, sich ihrer
Mitverantwortung für das Schicksal der Menschen zu entziehen, die ihrer
Überzeugungen oder ihrer Abstammung wegen verfolgt wurden.
Nach einigen Monaten diplomatischer Verhandlungen begann die Konferenz am 6.November im französischen Kurort Evian-les-Bains. 52
Die Konferenz war auf Wunsch derjenigen Staaten einberufen worden, die besonders
strenge Einwanderungsbeschränkungen festgelegt hatten. Die Konferenz stieß auf
ausgeprägtes Interesse vor allem unter denjenigen Staaten, die zu ähnlichen
Restriktionen neigten. Sie erwies sich aus Sicht der Flüchtlinge und ihrer
dramatischen Lage als Fiasko. Es entstand eine paradoxe Situation, die u.a. von
polnischen Politikern schnell erkannt wurde. Die Konferenzteilnehmer wollten
nämlich das Problem der jüdischen Auswanderung aus Deutschland lösen, weil dort
die brutalsten Verfolgungen stattfanden. Man hatte nicht die Absicht, sich auch
noch mit der Emigration aus Ländern zu befassen, wo es angeblich keine
Judenverfolgungen gab (bzw. wo sie vom Standpunkt internationaler Beziehungen
aus von geringerer Bedeutung waren), wo jedoch die gesellschaftlichen und
wirtschaftlichen Umstände viele Juden dazu zwangen, auf dem Wege der Emigration
bessere Lebensbedingungen zu suchen. Das war natürlich für die radikalen
Nationalisten ein hervorragendes Argument, die Juden noch stärker zu
diskriminieren. Wenn es das Dritte Reich geschafft hatte, durch Verfolgung und
Diskriminierung seiner jüdischen Bürger die Großmächte auf deren Schicksal
aufmerksam zu machen, dann konnte das als geeigneter Präzedenzfall und als
Aufforderung zur Nachahmung verstanden werden. Auf diesen Präzedenzfall beriefen
sich nun mit Vorliebe extreme Nationalisten, auch in Polen. Mehr noch, die
rumänischen Juden konnten, zumindest seit Herbst 1937, mit Fug und Recht
behaupten, sie befänden sich in der gleichen Lage wie die deutschen Juden.53
Zwar distanzierte sich die polnische Regierung von den NS-Methoden, forderte
jedoch (ähnlich wie Rumänien) mit Erfolg, dass sie wenigstens Beobachter zur
Konferenz von Evian entsenden durfte.
Vom Standpunkt der Erschließung neuer Zielländer für die Emigration
polnischer Juden fielen die Ergebnisse minimal aus. Aber die Forderungen der
polnischen Diplomaten verkomplizierten die Beratungen in Evian noch. Jetzt
fürchteten viele Politiker, dass das Problem der halben Million deutscher Juden
sich zu einer Frage von wesentlich größerem Umfang auswüchse. Jetzt würden die
polnischen und rumänischen Juden hinzukommen - von letzteren war bereits etwa
einem Drittel die Staatsbürgerschaft aberkannt worden -, und auch Juden aus
anderen Ländern. Ein besonderes Paradoxon bildete die Haltung der Zionistischen
Weltorganisation, die lediglich Beobachter zur Konferenz entsandt hatte. Es kam
auch keiner ihrer bekannten Führer. Sie fürchteten, dass es als Resultat der
Konferenz zu einer internationalen Anerkennung der Einwanderungsbeschränkungen
für Juden nach Palästina kommen könne, die die Briten eingeführt hatten, und
dass man daher den Flüchtlingsstrom in andere Gebiete zu leiten versuchen würde.
Viele Jahre später schrieb Golda Meir:
"Dazusitzen, in diesem wunderbaren Saal, zuzuhören, wie die Vertreter von 32
Staaten nacheinander aufstanden und erklärten, wie furchtbar gern sie eine
größere Zahl Flüchtlinge aufnehmen würden und wie schrecklich Leid es ihnen tue,
dass sie das leider nicht tun könnten, war eine erschütternde Erfahrung. [...]
Ich hatte Lust, aufzustehen und sie alle anzuschreien: Wißt Ihr denn nicht, dass
diese verdammten 'Zahlen' menschliche Wesen sind, Menschen, die den Rest ihres
Lebens in Konzentrationslagern oder auf der Flucht rund um den Erdball
verbringen müssen wie Aussätzige, wenn Ihr sie nicht aufnehmt? Damals konnte ich
natürlich noch gar nicht wissen, dass den Flüchtlingen, die niemand wollte,
nicht nur Konzentrationslager, sondern der Tod in Vernichtungslagern drohte." 54
Ein ganz aktuelles Problem stellte das weitere Schicksal derjenigen Juden
dar, die in den Gebieten lebten, die Ende September 1938 infolge der Konferenz
von München an Deutschland fielen. Ein paar Monate später gelangte auch die
Rest-Tschechoslowakei einschließlich der dort lebenden Juden unter deutsche
Herrschaft. Sie erweiterten das Problemfeld, das mit der Abschiebung der
polnischen Juden Ende Oktober begann.
Das Ergebnis der Konferenz von Evian bestand schließlich nur in der
Einberufung eines Internationalen Komitees für Flüchtlingsangelegenheiten, in erster Linie für Flüchtlinge aus Deutschland, das sich mit dem Problem der
Zufluchtländer für Juden befassen sollte. Dieses Komitee avancierte zu einem
weiteren Forum unfruchtbarer Diskussionen, Forderungen und Streitigkeiten. Viel
wichtiger waren die negativen Folgen der Konferenz: Es erwies sich nämlich, dass
keiner der teilnehmenden Staaten die Absicht hatte, Flüchtlinge aufzunehmen, sei
es in Palästina, sei es im eigenen Land oder auch in den von ihnen beanspruchten
Kolonien. Sogar die Sowjetunion verweigerte die Zuwanderung von Juden 55, obwohl
sie vor der ganzen Welt die Gründung einer jüdischen Republik in Birobidschan
als einzig realistische Lösung der "jüdischen Frage" propagierte.
Wird fortgesetzt...
50 M.R.Markus, The Unwanted, S. 137.
51 Arieh Joseph Kohavi, The Executive of the Jewish Agency and
the Distress of German and Austrian Jewry (1938-1939), in: Dapim, Studies On The
Shoah, hg. von Asher Cohen, Yehoyakim Cochavi, Yoav Gelber, New York u.a., 1991,
S. 136.
52 Michael Mashberg, American Diplomacy and the Jewish Refugee,
1938-1939, in: Yad Vashem Studies, 1974, XV; J. B. Stein, Great Britain and the
Evian Conference of 1938, in: Wiener Library Bulletin 1976, Nr. 37/38; M. R.
Markus, The Unwanted, S. PO-176.
53 Vgl. Yehiel Bendiner, The Nuremberg-Inspired Antisemitic Legislation of
the Goga-Cuza Govemment in Romania, in: Dapim, Studies On the Shoah, hg. von
Asher Cohen, Yehoyakim Cochavi, Yoav Gelber. New York u.a., 1991, S. 73-87.
54 Meir, Golda: My Life, New York 1975, S. 158.
55 IPMS, Polnische Botschaft in London, chiffrierte Depesche A. 12.53/21, k.
168.
Aus dem
Buch:
Auftakt zur
Vernichtung
Die Vertreibung polnischer Juden aus Deutschland im Jahre 1938,
von Jerzy Tomaszewski
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