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"Geschichte läßt sich nicht ungeschehen machen,
erst recht nicht die Geschichte dieses Ereignisses,
das im Zentrum einer Erschütterung stand,
die die Welt verändert hat.
Diese Vergangenheit nicht zu kennen heißt,
sich selbst nicht zu begreifen".
Raul Hilberg

Aus den Erinnerungen von Max Mannheimer:
Theresienstadt - Auschwitz - Warschau - Dachau

10. November 1938 - "Kristallnacht"

Gestern brannten die Synagogen. Sie brannten in Deutschland. Sie brannten in Österreich. Sie brannten in der Tschechoslowakei. Bestand Gefahr der Ausdehnung des Feuers, wurden sie durch Sprengungen zerstört. Die meisten jüdischen Geschäfte wurden demoliert.

"Meine" Synagoge wurde geplündert. Feuer oder Sprengung wären wegen des schräg gegenüberliegenden Gaskessels gefährlich gewesen. Gebetbücher, Thorarollen und Gebetschals lagen zerfetzt auf der Straße. Das Buch, das die Juden zwei Jahrtausende in der Zerstreuung zusammenhielt, wurde mit Stiefeln getreten. Die Orgel wird nicht mehr unsere Lieder am Shabath und an den Feiertagen begleiten. Es wird auch keinen Sabbath, keine Feiertage und keine Lieder mehr geben. Nur zu Hause, so lange es noch ein Haus gibt, wird Mutter Freitag abends die Sabbath-Lichter anzünden und Vater den Segensspruch über das Brot und über den Wein sprechen. "Lechem min haArez. Bore P'ri haGofen". Und dann wird meine Mutter, wie vorher auch, das in deutsch gedruckte Gebetbuch zur Hand nehmen und die Kapitel "Begrüßung des Sabbath" und "Gebet der jüdischen Frau" still für sich lesen.

Die Gebetbücher, Thorarollen und Schals aus der Synagoge wurden auf die Straße geworfen. Morgen werden sie vielleicht aus den Häusern auf die Straße geworfen. Nichts würde sich bei meiner Mutter ändern. Sie hätte ihre Gebete auch ohne Buch gesprochen.

Offiziell wird die Zerstörungsaktion der Nazis als spontaner Vergeltungsakt der "kochenden Volksseele" bezeichnet, als Antwort auf die Ermordung des Botschaftsrates vom Rath durch den siebzehnjährigen Herschel Grynszpan in Paris. Daß die Volksseele so gleichmäßig in drei Ländern kochte, war der meisterhaften Organisation der Verantwortlichen zuzuschreiben.

Ein offener Polizeiwagen fährt vor unserem Hause vor. Jüdische Männer sitzen auf dem Wagen, bewacht von Schupos in grüner Uniform. Zwei Schupos kommen die Treppe hoch. Meinem Vater wird erklärt, er werde in Schutzhaft genommen, damit ihm nichts passiere. Vermutlich wegen der "kochenden Volksseele". Ich stehe neben der Tür. "Wie alt ist der Bengel?", ftagt der Schupo. Mein Herz klopft ganz laut. Hätte Mutter mein Alter genannt, wäre ich ins Gefängnis mitgenommen worden. Der Schutz kam von der Mutter, nicht von der Schutzpolizei.

Dezember 1938

Die jüdischen Männer sind aus dem Gefängnis entlassen worden. Sie hatten eine Erklärung zu unterschreiben, daß sie das deutsche "Reichsgebiet" innerhalb von acht Tagen verlassen und nie mehr betreten würden. Sie tun es. Mein Vater fährt von Neutitschein nach Ungarisch-Brod, dem Geburtsort meiner Mutter. Er liegt in Südmähren und ist durch Comenius bekannt. Der Gestapo müssen wir eine Liste des Umzugsguts zur Genehmigung vorlegen. Der Möbelwagen ist gepackt. Die Zollbeamten, die das Packen überwachen, verhalten sich korrekt. Es sind alte Beamte aus dem Reich, die vermutlich bereits während der Weimarer Republik ihren Dienst versehen hatten. Marie, unser tschechisches Hausmädchen, weint, als sie von uns Abschied nimmt. "Man weint doch Juden nicht nach", sagt Tischlermeister Jirgal, der in unserem Naus wohnt und den Auszug nicht ganz ohne Schadenfreude beobachtet. In den vergangenen Jahren ist er immer so freundlich zu uns gewesen, seine Töchter Minna und Hildegard haben mit uns im Hof gespielt. Vielleicht weint man Juden wirklich nicht nach.

Am 27.Januar 1939 verlassen wir unser Haus in Neutitschein in der Hoffnung, in dem nicht besetzten Teil der CSR ein Leben ohne Angst führen zu können. Vater hatte inzwischen in Ungarisch-Brod, Masarykplatz 165, eine sehr alte Wohnung mit zwei Zimmern und Wohnküche besorgt. Sie ist für sechs Personen nicht gerade groß, doch wir sind froh, entkommen zu sein. In der Gewürz und Samenhandlung Rudolf Holz beginne ich wiederzu arbeiten. Wenige Wochen später erlebe ich zum zweiten Male den Einmarsch der deutschen Truppen. Es ist genau das gleiche Bild wie vier Monate früher in Neutitschein. Die öffentlichen Gebäude sind mit Hakenkreuzfahnen beflaggt. Die Motorräder mit und ohne Beiwagen, stellen sich in einer Reihe auf dem Stadtplatz auf, die Autos daneben. Aus dem Masarykplatz, auf dem wir wohnen, wird über Nacht der Adolf-Hitler-Platz. Nur die Begeisterung von Neutitschein fehlt. Ungarisch-Brod hat nur wenige deutsche Familien. Vielleicht sind die Truppen etwas enttäuscht, doch sie erkennen den Unterschied: Während sich die deutschen Randgebiete "befreit" fühlten, fühlt sich die tschechische Bevölkerung "besetzt". Mit Ausnahme der vereinzelten tschechischen Faschisten. Da es den Juden nur erlaubt ist, manuelle Arbeiten zu verrichten, nehme ich im Sommer 1939 eine Arbeit beim Straßenbau an. Am 7.September rollt auf "meiner" Straße eine unübersehbare Kolonne von Militärfahrzeugen - es ist der Anfang des deutschen Feldzuges gegen Polen.

09./10.November 1938

Max Mannheimer - Ben-Ja'akow
Überblick: München Weiss-Blau' oder 'Blau-Weiss'
haShoah

hagalil.com 09-11-1996

 

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