Das Testament der Toten von Distomo und die
Saat des Friedens Von
Argyris Sfountouris
Epigramm für Distomo
Hier ist die Erde bitter, es ist die bittere Erde von
Distomo.
Vorsicht, Besucher, gib Acht, wohin dein Fuss tritt - es
schmerzt das Schweigen hier, schmerzt jeder Stein am Weg,
es schmerzt vom Opfer und auch vom harten Menschenherz.
Hier eine schlichte Tafel bloss, eine Stele aus Marmor mit allen
Namen, ganz bescheiden - und die Ehre steigt empor, Seufzer um Seufzer,
Sprosse um Sprosse einer langen, langen Leiter.
Jannis Ritsos
Es gibt eine grosse Palette von
Lebenszielen und Aufgaben für die Zukunft - für eine friedlichere Zukunft,
die viele Menschen erhoffen. Welche von diesen Zielen der einzelne Mensch
für sich auswählt und wie er deren Bedeutung für sein Leben und Wirken
gewichtet, bestimmen nach und nach seine familiäre Erziehung, die schulische
Bildung und der Einfluss der Umgebung, in der er aufwächst und reift.
Gleichzeitig mit diesen Vorstellungen reift auch das persönliche Engagement,
einen Teil seiner Kräfte für eine ideale oder zumindest für eine akzeptable
Gesellschaftsordnung einzusetzen. Aussergewöhnliche persönliche Erlebnisse
eines Menschen können eine Grundprägung bewirken, die für alle seine
Lebensentscheidungen einen existentiellen Imperativ darstellt.
In meinem Leben stellt der 10. Juni 1944
ein solches dramatisches und tragisches Erlebnis dar. Mein Heimatdorf
Distomo wird von deutschen Besatzungstruppen massakriert. Meine Eltern
und dreissig weitere Mitglieder der Grossfamilie Sfountouris werden
ermordet, das Vaterhaus niedergebrannt. Nach knapp zweistündigem Wüten der
Täter sind 218 Dorfbewohner getötet, Greisinnen und Greise, Frauen und
Männer, Kinder, Säuglinge. Ähnliches geschah in Dutzenden weiterer Gemeinden
in Griechenland während der deutschen Besatzungszeit, in Hunderten von Orten
in Europa, in Tausenden von Städten überall auf der Welt während des Zweiten
Weltkrieges. Es gab Konzentrationslager und Krematorien. Es war eine Epoche
der Mordaktionen und Todesfabriken betrieben von Hunderttausenden, von
Millionen von Bürgerinnen und Bürgern, Soldaten, Arbeiterinnen und
Arbeitern, die sich einspannen liessen zur Vernichtung von Menschenleben.
Sie zerstörten gleichzeitig ihre eigene Würde und Menschlichkeit ganz tief
in ihrem Innern durch ihre Beteiligung an diesen Verbrechen, auch durch ihre
verschweigende Duldung dieser Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach
Aussen und Innen.
Das Menschenrecht zur Desertion
Zufällig überlebten meine Schwestern und
ich. - Zufällig? Ein deutscher Soldat beobachtete, wie wir aus dem
brennenden Haus zu fliehen suchten. Statt wie die meisten seiner Kameraden
auf die Kinder zu zielen oder sich mit dem Bajonett auf sie zu stürzen,
winkte er uns heimlich zu, uns zu verstecken. Es war ein urmenschliches,
wenn auch in der damaligen finsteren Zeit ungewöhnliches Verhalten. Im
Dschungel, im Nazi-Wahn des Übermenschentums gab es Lichtblicke. Es
gab neben der grossen Masse der feige Gehorchenden den mutigen Einzelnen,
den wirklich freien Menschen. In unserem Leben steht jede und jeder von uns
einmal vor der schwerwiegenden Entscheidung, ob sie, ob er ein freier Mensch
sein darf, sein kann, sein will. Ein von Schuld freier Mensch. Diese
Entscheidung ist mit einer Desertion vom Ausführungszwang
verbrecherischer Befehle verbunden. Von dieser Freiheit zur Desertion,
dieser moralischen Pflicht zur Desertion, diesem heiligen Menschenrecht
zur Desertion werden wir, wird unsere Jugend noch heute, auch in unseren
sonst so demokratischen Gesellschaften leider noch immer kaum unterrichtet.
Nicht einmal in der Religionsstunde. Trotzdem kennen wir sie alle, diese
innere Stimme - Aber wann folgen wir ihr? Es sind die panische Angst vor
möglichen Folgen und unsere Scham, positiv aufzufallen, die uns zu
Untertanen machen.
Umso erstaunlicher ist es, dass an jenem apokalyptischen Abend in Distomo
noch Menschen unter den monströsen deutschen Übermenschen
existierten, die den Befehl der inneren Stimme höher stellten als den von
Mördern ausgestellten Befehl zum Morden. Es sind verschiedene Fälle von
deutschen Soldaten bekannt, die am 10. Juni 1944 in Distomo mehrere Menschen
vor dem sicheren Tod retteten und vor ihren mordenden Kameraden versteckten,
im Bewusstsein der Folgen, wenn ihre Taten entdeckt und sie vor
Kriegsgericht gestellt würden. Es ist kaum zu glauben, dass es im fünften
Kriegsjahr noch junge deutsche Soldaten gab, die nach zwölfjährigem Drill
zum Übermenschentum noch diese Fähigkeit zur urmenschlichen Handlungsweise
bewahrt hatten. Dieser geschichtlichen Tatsache verdanke auch ich
mein Überleben.
Den Damm des Schweigens brechen
Wie konnten solche Untaten möglich werden?
Welches sind die Beweggründe, die Motive der Befehlenden, welches die
psychischen Enthemmungsmechanismen der Täter, die sich immer wieder
als bloss Gehorchende verstehen? Was ist seit jenem schwarzen 10. Juni 1944
im Zusammenhang mit den Untaten von Distomo in Griechenland und in
Deutschland geschehen? Wie ist darüber in den Medien, wie in den Schulen
berichtet worden, welche historische, welche gesellschaftspolitische
Aufarbeitung hat stattgefunden? Sind die Täter zur Rechenschaft
herangezogen, die Nachgeborenen in einem anderen Geist erzogen worden?
Welches waren und sind die Bemühungen zur Sühne und Aussöhnung, zur
Verständigung und wahren Freundschaft zwischen ehemals verfeindeten Völkern?
- Wie weit kann die Gesprächsbereitschaft gehen? Ist zwischen Menschen, die
sich damals als Mörder und Opfer in die Augen sehen mussten, eine Begegnung,
ein Gespräch sinnvoll und zumutbar? Wo liegen die Grenzen des Hasses,
welches sind die Mittel zu dessen Verarbeitung, oder gar zu dessen
definitiven Überwindung? - Ist die Geschichte bloss eine unbekannte Funktion
des Schicksals, oder kann der Mensch, kann die Menschheit Zusammenhänge
entdecken, die es ermöglichen, Wiederholungen vorzubeugen? Wie hoch ist der
Preis, wie gross der Gewinn solcher Entdeckungen? Und wer wird schliesslich
darüber entscheiden, ob der Preis zumutbar sei angesichts eines so grossen
Gewinns für die Menschheit - oder ob dieser Preis zu hoch ist?
Dies sind Fragen, die mein Leben bestimmten. Nicht täglich, nicht
ununterbrochen. Aber ich konnte nicht lange in den Sternhimmel schauen,
durch die astronomischen Fernrohre Schönheit und Vollkommenheit der
unbelebten Natur bewundern und den menschlichen Geist bestaunen, der über
Jahrtausende in kontinuierlichen und konsequenten, Kontinente und Nationen
überdeckenden gemeinsamen Anstrengungen all dieses Wissen erarbeitet und
gesichert, kritisch überprüft und immer wieder verändert und angepasst hat,
immer im Bestreben der Wahrheit näher zu kommen - ich konnte an dieser
unerschöpflichen Freude nicht teilhaben, ohne an den Deutschen Philosophen
Immanuel Kant zu denken und an seinen Vergleich des "bestirnten Himmels
über mir" mit dem "moralischen Gesetz in mir".
So war ich immer wieder an mein Überleben erinnert und gleichzeitig an die
quälenden Fragen, die ich nach und nach immer klarer und verständlicher zu
artikulieren suchte, um den bedrückenden Damm des Schweigens zu durchbrechen
und mitdenkende Gleichgesinnte zu erreichen. Nur gemeinsam können wir
Antworten suchen zur Überwindung der Absurdität der Geschichte, des
persönlichen und nationalen Egoismus, die allzu oft das menschliche Handeln
bestimmen. Niemand macht sich beliebt, der solches Handeln hinterfragt, sich
kontinuierlich bemüht, die Schwerarbeit der Analyse der Verschiedenheiten zu
verrichten, um darin die eigentlichen Gemeinsamkeiten zu entdecken. Wenn wir
die Kluft leugnen, die uns einst getrennt hat, können wir diese nie wirklich
überbrücken. Die Landschaft unserer Biografien ist durch die Erosionen der
Geschichte geprägt. Nur wenn wir diese wahrnehmen und akzeptieren, können
wir sichere Strassen bauen, die uns verbinden. Dies ist nur durch die Kraft
der Erinnerung möglich.
Moral hat eine Richtung
Erinnern heisst: wider das Vergessen
ankämpfen. Vergessen ist bequem aber unfruchtbar. Das gemeinsame Gedenken
stärkt die individuelle Erinnerung an das erlebte Furchtbare. Das
Massaker von Distomo - wie alle Massaker - setzt eine ungeheuerliche
Verrohung des Menschen voraus, welche die Endstufe eines raffinierten
Prozesses darstellt, der von den Verantwortlichen immer geleugnet, von den
Aussenstehenden aber geduldet wird, indem sie sich in Unglauben flüchten und
in ein dadurch begründetes Schweigen, das zum Verschweigen wird. Zu diesem
Verschweigen gehörten und gehören auch die juristischen
Verjährungsbemühungen und die politische Trägheit der Untersuchungsbehörden
und Gerichte bei der Suche nach den Schuldigen und deren Verurteilung. Das
ethische Prinzip solcher Prozesse liegt nicht nur in der Bestrafung des
Täters, sondern in erster Linie in der Verurteilung der Tat! Dadurch
erst erhält die Geschichte ihren moralischen und didaktischen Wert.
Allzu oft hört man, und dies erstaunlicherweise sowohl in patriotischen als
auch in anscheinend völkerverbindenden Reden, man solle vorwärts!
Schauen. - Doch in welcher Richtung liegt dieses vorwärts? Jedes Kind
lernt in den ersten Geometriestunden, dass eine Gerade - und mit ihr eine
Richtung - durch zwei Punkte bestimmt wird. Dasselbe gilt für die
Moral. Die Moral hat eine Richtung und lässt nichts in der Schwebe.
Nur durch die Kenntnisnahme und Analyse der Untat kann eine Struktur zur
Verhinderung von deren Wiederholung entwickelt werden, was bei konsequenter
Anwendung zu einer ethisch besseren Gesellschaft führen muss. Das
demagogische vorwärts! dagegen ist eine Aufforderung zur Verdrängung.
Die unheimlichen Patrioten wollen damit ihre Anhänger sowohl das
angerichtete als auch das erlittene Leid vergessen machen und sie rasch
wieder zum blinden Untertanergehorsam führen, während die ebenso
unheimlichen eindimensionalen Internationalisten unterbinden wollen, dass
die Völker aus kriegerischen oder kolonialistischen Erfahrungen klüger
werden.
Dieses vorwärts! ist nichts anderes als das mit verbundenen Augen im
Kreis Herumlaufen der Maultiere, die für andere - für jene, die vorwärts!
und vorwärts! befehlen - das Wasser fördern. Dieses richtungslose
vorwärts! hält die Trabanten des Verführers auf eine unheimliche Bahn,
auf den angeblich fatalen circulus germanicus, aus dem es anscheinend
kein Entrinnen geben kann. Im Buch der Geschichte lässt sich allerdings
immer wieder nachlesen, dass das Geschäft des Vergessens das
gewaltigste und gewalttätigste Unternehmen der Ausbeutung darstellt. Es
diktiert unserem menschlichen Erinnerungsvermögen einerseits, alles
Erlittene, das uns schmerzt, aus dem Gedächtnis auszulöschen, andererseits,
allen Taten, die uns beschämen, das Andenken zu kündigen. Doch wie werden
diese Abschreibungen in der Buchhaltung der Geschichte verbucht? Führt diese
Bilanzfälschung zu einer Gesundung der politischen Systeme oder zur
Perpetuierung von Verschlimmerung und Verfall.
Charta des Friedens
Den Schmerz auszulöschen und die Scham -
die nichts anderes als der ethische Schmerz unserer Seele ist - zu
vertilgen, bedeutet nichts anderes als den Körper unserer gesellschaftlichen
und staatlichen Organismen unempfindlich auf Störungen und damit untauglich
für Verbesserungen zu machen. Diese Schmerzen sind die Seismografen der
geschichtlichen Erschütterungen. Durch die Abschaffung von Seismografen wird
man kein Erdbeben verhindern, aber ein wichtiges Mittel zu deren Verständnis
verlieren.
Wer würde sich ein zweites Mal einem Arzt anvertrauen, der den Schmerz
allein bekämpft, ohne nach dessen Ursachen zu suchen und diese zu kurieren?
Unsere Politiker aber wählen wir wieder und wieder, obwohl die
Auseinadersetzung mit diesen verleugneten Teilen der Geschichte eine
unvertauschbare und unverzichtbare Gelegenheit darstellt, welche von diesen
Politikern kaum je ernsthaft ergriffen wird, um aus dem scheinbar
unvermeintlichen Kreis des Bösen auszubrechen. Es gibt viele
karitative Organisationen, die sich für das Gute einsetzen und es selbstlos
überall hintragen, wo das Böse waltet oder gewaltet hat. Neben diesem
ausserordentlich wertvollen kurativen Wirken werden Bemühungen, das Böse
selbst zu vermindern und längerfristig zu minimalisieren für das Überleben
der Menschheit immer dringender. Dass Vorbeugen besser als Heilen
ist, wird uns immer bewusster im persönlichen Alltag, in der Erziehung
unserer Kinder, zu unserem Schutz beim Autofahren und in unseren
ökologischen Bemühungen, ganz besonders dort, wo wir bereits erkannt
haben, dass es ein Heilen gar nicht mehr geben kann. Der Schutz unserer
Umwelt vor irreversibler Zerstörung ist aber nur die eine Seite der
Medaille unseres Seins. Auf der anderen Seite steht die neben der
biologisch-materiellen zweite lebenswichtige menschliche Substanz: die
geistig-ethische. Zu deren Schutz benötigen wir dringend auch eine
Ökologie der Ethik.
Die Prinzipien dieser Ethischen Prophylaxe können wir aus den
Verdrängten Teilen der Bilanz der Menschheitsgeschichte herleiten, die wir
zu einer Charta des Friedens vereinigen werden:
1. die Berichte der Opfer über ihr
Erleiden, die wir noch immer nicht genügend zur Kenntnis genommen haben, und
2. die Zeugnisse der Täter über ihr Handeln, deren Seltenheit auf die
bisher sehr hohe gesellschaftliche Schwelle der Reue hinweist.
Diese Charta des Friedens
könnte in Anlehnung an die Südafrikanische Wahrheits- und
Versöhnungskommission zu einem Wahrheits- und Versöhnungsbericht
werden, in welchem in einer "Forschungs- und Begegnungsstätte für
deutsch-griechische Geschichte" die erinnerten Opfer- und
Täterschicksale aufgenommen, weitererforscht und archiviert werden zu keinem
geringeren Zweck als jenem der Kriegsprävention.
Dies alles tönt sehr utopisch, scheint aus einer anderen Welt - einer in
Deutschland noch immer unbekannten Welt zu stammen. Und doch wünschen wir
alle, dass diese Welt der menschlichen Einsicht, die Welt der Einsicht ins
Menschliche endlich wieder auch in Deutschland Einlass findet.
Zwischenkriegszeit
Wir müssen aber mit dem Anfang, mit dem
ersten Schritt beginnen, was auch nach sechzig Jahren nicht zu spät, sondern
noch immer notwendig ist:
Der erste Schritt ist Trauer und Reue. Trauer und Reue die erste,
unverfälschte Form des Erinnerns. Wir trauern um die Toten, die keine Stimme
mehr hatten, um von ihrem für uns alle nicht nachfühlbaren Schrecken
angesichts des Todes Zeugnis abzulegen. Von jenen Sekundenbruchteilen
zwischen dem Blick in die blauen Augen des Meisters aus Deutschland an ihrer
Türschwelle und dem Spüren des deutschen Bleis in ihrem ahnungslosen Herzen.
Aber wir trauern auch um die Lebenden, um jene, die seit dem 10. Juni 1944
in Distomo die schwere Bürde des Überlebens auf ihren Schultern tragen. Sie
müssen seit sechzig Jahren mit einer schrecklichen Erfahrung leben. Nichts
kann sie davon befreien, und wenig ist unternommen worden, um es ihnen
erträglicher zu machen - gar nichts von Seite der Täter und ihrer Familien,
in deren staatlichen Gemeinschaft keine Reuearbeit möglich wurde. Auch um
diese versteinerten Täter trauern wir, denen der Weg zurück ins wirkliche
Leben nicht gelungen ist. Alle Fenster an ihren schwarzen Seelen bleiben
zugenagelt, damit kein Lichtschimmer eindringen kann und sie mit der
Klarheit der Reue läutert und aufweckt. Angesichts dieser Wahrheit bleiben
fast alle deutschen Augenlider seit sechzig Jahren fest verschlossen. Doch
"die Wahrheit ist den Menschen zumutbar" (Ingeborg Bachmann).
Unsere Trauer ist nicht Selbstzweck, sondern Besinnung darüber, was wir als
Einzelne, als kleine Gruppe, als Staatswesen unternehmen können, damit die
drohenden Wolken am Horizont der Menschheit uns nicht erneut unvorbereitet
antreffen. Unsere schreckliche Erfahrung verpflichtet uns dazu, andere zu
warnen. Nach der Katastrophe und der vermeintlichen Katharsis sprechen wir
von der Nachkriegszeit, arbeiten jedoch nicht für den Frieden,
sondern an unseren Wohlstand. Dadurch erreichen wir seit Menschengedenken -
seit der Vertreibung aus dem Paradies und dem Turmbau zu Babel - immer von
neuem, dass keine wahre Nachkriegszeit entsteht, sondern nur Kriegs-
und Zwischenkriegszeiten - wie alle Chroniken von der Keilschrift bis
zu den heutigen websites bezeugen. Und doch bleibt es noch immer
denkbar, dass die Menschheit an einer wahren Nachkriegszeit
arbeiten will.
Nachkriegszeit
Die Läuterung muss mit der eigenen Trauer-
und Reuearbeit beginnen, denn Reue ist die einzige
Betrachtungsweise unseres Tuns, des Lebens, der Gesellschaft, die uns
ethisch wirklich weiterführen kann. Dies ist in Deutschland immer und
immer wieder hinausgeschoben worden. Erst heute setzt die Diskussion darüber
an, denn nach dem Krieg, als Deutschland bei der Befreiung durch die
Siegermächte der dämonischen Gegenwelt des Übermenschentums jäh entrissen
wurde, stand eine ganze Generation - wie einst Herakles - am Scheideweg.
Aber es fehlte an Tradition und herkulinischer Stärke zur ethischen
Eigenständigkeit des Individuums. Jene, welche sich zu weit in die Gegenwelt
des absolut Bösen (Hannah Arendt) begeben hatten, waren hinter den
Kulissen noch immer einflussreich und mächtig geblieben. Eine Rückkehr zur
emotionalen Normalität ist durch gesellschaftliche Gegen-Zwänge bewusst
verzögert worden. Die Unfähigkeit zu trauern, dieses
gesellschaftliche Tabu, auf die eigene Katastrophe schauen zu dürfen und
nach deren Ursachen zu fragen, hat nichts anderes bezweckt und erreicht als
die Befähigung zur Reue zu verhindern. Denn die Gleichzeitigkeit
macht die Intensität und in diesem Fall die intensive Qual der Erinnerung
und Trauer aus. Man trauert um die eigenen Toten, erfährt von den Ermordeten
und trauert auch um diese - muss auch um diese trauern. Es
darf keine Rangfolge geben, nur die zeitliche Abfolge der Wahrnehmung.
Trauer, Erinnerung und Reue arbeiten im gesunden ethische Organismus wie das
Ein- und Ausatmen. Es handelt sich um vitale Funktionen des Menschen. Des
Menschlichen.
Es ist und bleibt ein urmenschliches Recht, um seine Toten trauern zu
dürfen (Antigone). Dieses göttliche Gebot lässt sich nicht
hinausschieben. Doch die Erinnerung an die eigenen Toten ist bloss eine
halbe Trauer, solange man nicht die natürliche Fähigkeit zurückerlangen
kann (und öffentlich darf!), auch über die anderen, die fremden
Opfer zu trauern, umso mehr als man deren Opferung verschuldet und
selbst ausgeführt hat. Erst nach dieser Einsicht werden wir uns -
versöhnungsbereiter! - auf einer anderen Ebene wirklich näher kommen.
Gemeinsam können wir dann von einer
Menschheit träumen, in der es möglich sein wird, aus solchen
tragischen Ereignissen wirksame Konsequenzen zu ziehen. Die Geschichte nimmt
nicht länger ihren Lauf, als wäre nichts geschehen. Unsere gemeinsam
bewahrte Erinnerung wird die Wiederholung verhindern können, denn alles, was
wir Menschen wünschen und benötigen, kann über Generationen durch eine
ungetrübte Vision und kontinuierliche, geduldige Arbeit auch erreicht
werden. Ein internationales Forschungs- und Begegnungszentrum mit Sitz in
Distomo könnte - in unserem Traum! - zum Keim einer Friedensforschung
und Kriegsprävention werden. Durch Tagungen und Jugendtreffen würde die
Saat des Friedens gelernt und gelehrt, um die Hoffnung und Zuversicht
auf diesen Frieden für Generationen immer wieder durch wachsames Erinnern
und ethischer Verantwortung ernten und unauslöschlich bewahren zu können.
(Referat vom 7. Juni 2003 anlässlich des
Hearings "Gegen die Traditionspflege der Gebirgsjäger", organisiert durch
"AK angreifbare Traditionspflege" u. "AK Distomo-Hamburg" in
Mittenwald/Bayern)
hagalil.com 24-09-2003 |