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90 Prozent der Euthanasieopfer unbekannt:
Ein Kapitel der NS-Geschichte unter Verschluss?

Interview mit Hagai Aviel, Vorsitzender der Israelischen Vereinigung gegen Psychiatrische Angriffe, einer Interessenvertretung für Psychiatrieopfer

Interview Patrick Naumann
Junge Welt, 20.05.2003

Sie haben die Namen von 30000 Opfern der sogenannten Euthanasiemorde der Nazis ins Internet gestellt. Mit welcher Absicht?

Wir wollten den Opfern ihre Namen und damit auch ihre Würde zurückgeben. Dies ist Teil unseres politischen Kampfes für Menschenrechte und die Abschaffung psychiatrischen Zwangs. Mir persönlich wurde die Richtigkeit des berühmten Satzes des Medizinhistorikers Ernst Klee – "Nicht die Nazis haben die Ärzte, sondern die Ärzte die Nazis gebraucht" – bewusst, als ich über die Publikationen der jüdischen Psychiater in Israel in den 30er Jahren recherchiert habe. Diese Ärzte sind 1933 aus Nazi-Deutschland geflüchtet und haben bis 1943 in der offiziellen Zeitschrift des Verbands der hebräischen Mediziner offen ihre Visionen zur Verbesserung der Rassen propagiert. Ihr erklärtes Ziel war es, den "gesunden Volkskörper der Nation" zu erhalten und zukünftige Kosten für die Sozial- und Krankenhilfe zu vermeiden. Als Jude kann ich verstehen, wie ein Denken in diesem medizinisch-biologistischen Modell in Deutschland den Weg zum "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" am 14. Juli 1933 und schließlich zur "Endlösung" bahnte.

Warum haben Sie sich mit der Veröffentlichung der Opferliste bewusst über Gesetze hinweggesetzt, die nach Aussagen der deutschen Behörden die Opfer und ihre Angehörigen schützen sollen?

Unter dem Vorwand des Rechts auf Privatsphäre des Patienten verweigert der deutsche Staat die Veröffentlichung der Liste und verhindert damit, dass alle Verwandten die Wahrheit über das Schicksal ihrer ermordeten Familienmitglieder erfahren und sich öffentlicher Protest gegen die begangenen Verbrechen äußert.

Von staatlicher Seite wird offenbar befürchtet, dass auch andere, durch diesen öffentlichen Protest angeregt, auf die Bildung einer unabhängigen Kommission bestehen könnten, um auch die Namen der rund 90 Prozent noch unbekannten Opfer des ärztlichen Massenmordes zu erforschen und öffentlich zu machen.

Gab es auf die Veröffentlichung bereits Reaktionen von überlebenden Opfern beziehungsweise Angehörigen?

Ich habe schon mehrere E-Mails erhalten. Ich vermute, dass die Zahl der Anfragen größer wäre, wenn es keine Sprachbarriere gäbe und die Website in Deutsch statt wie bisher nur in Englisch verfasst wäre.

Planen Sie in Zukunft weitere Schritte zur Rehabilitierung der Opfer des Euthanasieprogramms der Nazis?

Ja. Am 2. Mai dieses Jahres wurde zum ersten Mal in Tel Aviv, Berlin und Amsterdam der internationale Tag der Erinnerung und des Widerstands veranstaltet. Dieser Tag wurde von einem internationalen Internetforum von Einzelpersonen und Menschenrechtsgruppen ins Leben gerufen, die sich gegen den psychiatrischen Zwang engagieren. An diesem Tag soll der Opfer des medizinischen Massenmords der deutschen Ärzte von 1939 bis 1945 gedacht sowie der Widerstand gegen den psychiatrischen Zwang in die Öffentlichkeit getragen werden.

http://www.iaapa.org.il

hagalil.com 20-05-03

 

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