Essay über das ungelebte Leben:
Der Tod ist ein Meister - Das Leben ein Lehrling
Von Argyris Sfountouris
28. November 1998
"Was die Schickung schickt, ertrage"
(Deutsches Sprichwort)
Als er zur Welt kam, sah keiner die Parzen Roms,
keiner die Nornen des Nordens, die sich bedrohlich über seine Wiege beugten.
Nur die lokalen Moiren Lethe und Mnemosyne waren hier eingeladen, wie bei
jeder Geburt seit Jahrtausenden. Aber alle spürten, denn manche Zeichen
deuteten un-missverständlich darauf hin, dass heute ein ungewöhnliches
Schicksal beschworen wurde. Die zarten Moiren wirkten eingeschüchtert,
wollten sich nicht allzu sehr der Wiege nähern, als wären ihre Plätze dort
am Kopf des Säuglings schon vergeben.
Einst sind sie Priesterinnen gewesen am Nymphäum,
dem großen Heiligtum rund um die riesige Quellgrotte. Jungfräuliche Nymphen,
deren Präsenz dort alle Menschen daran erinnerte, die Reinheit des Wassers
zu bewahren und zu schützen. Dieser Quelle verdankten die Bewohner den
Reichtum ihrer Heimat, die Fruchtbarkeit der weiten Felder in der Ebene. Bis
die Barbaren aus dem Norden kamen. Sie zerstörten den Tempel, entehrten und
töteten die Priesterinnen, besudelten das Wasser. Doch sie eroberten ein
dürres Land. Die Quellgrotte stürzte ein, das Wasser versiegte.
Das Wunder geschah erst viele Generationen
später, als nur noch ein paar alte Greise, und diese auch bloß vom
Hörensagen von der alten Quelle wussten, vom Heiligtum, von der Katastrophe.
Zwei sanfte Bäche entsprangen plötzlich aus dem harten Fels. Zwei kleine
Bergquellen, welche den ausgedorrten Hängen des Helikon kaum die reiche alte
Fruchtbarkeit bescheren konnten. Aber sie trösteten die karge Erde, brachten
den Menschen ihr alte Fröhlichkeit zurück, inspirierten die dort ansässigen
Musen, wenn sie zu ihnen kamen, um ihren Durst zu löschen. Mnemosyne, die
Erinnerung, und Lethe, das Vergessen, wurden die beiden Quellen getauft. Es
waren die Namen der berühmtesten der Nymphen, der ersten Priesterinnen des
Quellentempels, mit denen Zeus einst die Musen gezeugt hatte. Hera hatte
deshalb Mütter und Töchter hierher auf den Helikon verbannt.
Trank eine Muse nur von Lethes Wasser, so
stockte ihr Gesang, die Stimme zitterte, die Zunge mimte stumm die Silben.
Ihr Lied verblasste auf den Lippen, der Glanz erlosch aus ihren Augen, die
Lider fielen bleiern zu. Die Muse des Vergessens schlief, schlief ein für
immer, schlief einen langen Schlaf, der einem Tod gleichkam.
Trank eine andere der Musen nur vom Quell der
Mnemosyne, so sang und tanzte sie ununterbrochen, sang sich in einen Taumel,
tanzte ruhelos. Ihre Begeisterung wurde zur Leidenschaft, die Glut zum
Feuer, ihr Überschwang zum Rausch. Die Muse der Erinnerung drehte sich
schneller, immer schneller wie ein Wirbelwind, kreischte dazu ihren Gesang
so laut wie eine Furie und vertrieb die anderen Musen. Keine konnte ihr
beistehen, als sie in ihrem Schwindel sich vom Felsen stürzte in den
Abgrund.
Lethe und Mnemosyne sind Zwillingsquellen. Nur
gemeinsam löschen sie den Durst. Nur ihr gemischtes Wasser ist ein
Musentrank. Ihm dies zu verkünden besuchten die zwei kleinen Moiren ihn an
seiner Wiege im September 1940. Doch er begriff nicht. Er konnte nicht
begreifen, dort fest eingewickelt in der kleinen Heimat. Er sah die beiden
nicht, denn sein Auge war starr auf das gerichtet was keiner sah. Nur er.
Und er allein und hilflos. Parzen und Nornen versperrten ihm den Blick auf
seine Moiren. Auf Mutter, Vater, Schwestern. Die alten Hexen schwirrten um
ihn herum, hoben ihn rasch hinweg, trennten ihn von den Seinen.
* * *
Sieben Wochen nach diesen Geschehnissen kam auch
in dieses Land der Krieg. Doch nicht ins Haus des kleinen Jungen. Noch
nicht. Er wurde vor der Außenwelt geschützt. Nichts sollte er erleben, an
das er nicht mit Freude sich erinnern würde. Nichts erfahren, das nur das
Vergessen heilen könnte. Die Außenwelt drang nicht in seine unversehrte,
kleine Heimat ein. Nicht in das wohlbeschützte Heim. Noch nicht. Noch war
das Gesicht der Mutter seine Welt. Seine ganze, heile Welt. Der Gesang der
Mutter und der Schwestern klang leise an sein Ohr. Das immer stille Jauchzen
seines Vaters, das er aus dem Leuchten seiner Augen hörte. Der Freudenschrei
des Großvaters, als er ihn sah, den sah, in dem sein Name, in dem er
weiterleben würde. Neunzig Jahre war er alt geworden, hatte stets
erfolgreich weggescheucht den Tod, gewartet auf diesen Enkel. Den Enkel
seines Namens. Nun würde er nach seinem Tod nicht bloß Vergangenheit sein.
Seine Töchter hatten ihm neben Enkelinnen auch Enkel geboren, noch nicht
aber seine Söhne. Erst jetzt, im Sohn des jüngsten Sohns, in diesem
jüngsten, letzten Enkelkind, in seinem dreizehnten Enkelkind würde er
weiterleben, würde er Zukunft haben, Zukunft sein.
Der Großvater starb 1942. Ihm blieb es erspart,
den Juni 1944 zu erleben. Der vierjährige Enkel aber sah das Töten und
begriff es nicht. Kroch aus dem brennenden Haus und begriff nicht. Suchte
den Vater, der es ihm erklären würde. Er begriff es nicht. Er sah den toten
Vater, der für immer stumm blieb. Er begriff nicht. Er sah die tote Mutter,
küsste ihr schreckensblasses Gesicht. Er begriff nicht. Die Eltern wurden
beerdigt, und er begann zu ahnen, dass sie nicht wiederkommen würden. Wie
der Großvater. Die Toten hatten keine Zukunft. Sie waren nur Erinnerung.
Lebten in der Erinnerung. Lebten weiter nur in uns. Er und seine Schwestern
zählten zu den Überlebenden. Sie lebten. Lebten wirklich weiter. Sie hatten
eine Zukunft. Waren Opfer mit einer Zukunft. Mit einer Zukunft voller
Vergangenheit.
* * *
Er hatte alles verloren. Aber es dauerte noch
weitere fünf Jahre bis er auch das allerletzte verlor. Seine Vergangenheit.
Die Nornen holten ihn. Brachten ihn in den Norden. Wie sie's an seiner Wiege
kundgetan... Niemand konnte sie mehr hindern. Niemand mehr. Er selbst am
allerwenigsten. Denn sie versprachen ihm ein neues Leben. Das Leben
versprach ihm, neu zu werden. Ohne Erinnerung. Befreit von der
Vergangenheit.
Und er ging die Wette ein. Ging die Wette ein,
ohne zu fragen, was die Wette galt. Er hatte keine Wahl. Er wollte weg von
der Erinnerung. Weg von der Vergangenheit. Vergessen. Auslöschen! Sich vom
Schmerz befreien. Schon immer suchte er nach einem Heil für diesen Schmerz,
der unaufhörlich in ihm war, der ihn überallhin begleitete. Ihn stets
begleitete, auch in die Freude. Ganz tief drin auch in die Freude. Er war
gezeichnet. Auch wenn die Menschen um ihn es nicht bemerkten, war er ein
Gezeichneter. Denn er fühlte, dass die anderen nicht gezeichnet waren.
Fühlte es so deutlich, bis die anderen spürten, dass er es war. Er war ein
Gezeichneter. Er ging die Wette ein, denn er wünschte sich nichts sehnlicher
als Zukunft. Nicht gezeichnet sein. Kein Mal auf der Stirn. Kein Abelsmal
auf der Stirn. Sein wie die anderen Kinder.
* * *
Er war wie die anderen Kinder. Fleißig und
tüchtig. Und gehorsam. Nichts fürchtete er mehr, als bestraft zu werden. Nur
keinen Ungehorsam! Nicht wieder alles verlieren. Er hatte schon einmal alles
verloren. Auch das allerletzte verloren. Nur keinen Ungehorsam! Gerade jetzt
nicht, da ihm von Tag zu Tag bewusster wurde, was er verloren hatte. Dass er
alles verloren hatte. Gerade jetzt fürchtete er nichts ängstlicher, als
zurückgestoßen zu werden. Zurückgeworfen in die Vergangenheit. In seine
Vergangenheit.
Hatte er denn noch eine Vergangenheit ? War er
nicht befreit worden von der Vergangenheit durch den Gnadenakt der Nornen.
Er war es. Er war es, wie die anderen Kinder. Doch keines sprach davon. Sie
schwiegen alle. Alle schwiegen sie darüber. Sie schwiegen alle darüber, als
ob sie's abgesprochen hätten. Und sie hatten's abgesprochen. Sie waren alle
diese Wette eingegangen. Alle waren sie die gleiche Wette eingegangen, ohne
zu fragen, was sie gegolten hat. Und keines der Kinder sprach davon. Sie
schwiegen alle. Alle Kinder schwiegen. Keines wollte gezeichnet sein. Doch
jedes Kind fühlte es noch. Jedes Kind spürte noch das Mal auf seiner Stirn.
Er war wie die anderen Kinder. Und er begriff es bald. Er begriff es jeden
Morgen. Jeden Morgen wusch er sich das Gesicht. Wusch sich das heiße
Gesicht. Wusch sich die heiße Stirn mit kaltem Wasser. Rieb sich das Brennen
von der Stirn. Und jeden Morgen sah er neben sich die andern Kinder. Die
andern Kinder, die sich die Stirn mit kaltem Wasser rieben. Und sie
schwiegen alle. Keines wollte gezeichnet sein. Nur kein Abelsmal!
So schwieg er. Schwieg mit den anderen. Schwieg
mit den anderen Kindern. Schwieg zusammen mit den andern Kindern vor der
Welt. Schwieg sich in eine Zukunft. Schwieg sich in eine Zukunft ohne
Vergangenheit. Schwieg sich in einen Schulerfolg ohne Vergangenheit. Schwieg
sich in den Beruf ohne Vergangenheit. Schwieg sich in eine Zukunft, doch
nicht vorwärts. Schwieg sich nicht vorwärts. Denn er ließ nichts hinter
sich.
* * *
Er ließ nichts hinter sich, denn sie kam zurück.
Sie kehrte in der Nacht zurück. In der Nacht, als sich die Dunkelheit mit
seinem Schweigen mischte. In der Nacht mischte sich das Schweigen mit seiner
Dunkelheit. Und sie kam zurück. Fand in der Nacht den Weg zurück. Fand sich
zurück. Sie folgte ihm. Fand ihn. Fand ihn erneut. Fand ihn immer. Kam in
der Nacht zurück. Kehrte zu ihm zurück. Zurück zu ihm. Wurde zu seiner
Finsternis. Er träumte sie. Er träumte sich in die Vergangenheit zurück.
Träumte sich in die Vergangenheit zurück und kroch heraus aus ihr. Kroch
heraus aus ihr in jedem Traum. In jeder Nacht. Kroch heraus aus diesem
feuchten Schlamm. Kroch heraus und fiel erneut zurück. Fiel erneut zurück.
Zurück, bevor er draußen war. In jeder Nacht von neuem. In jedem Traum von
neuem. Von neuem lag er in dem tiefen Schacht. Setzte von neuem an. Setzte
von neuem an und kroch. Und kroch. Und kroch. Fiel wieder zurück. Und wieder
setzte er von neuem an. Behutsam. Sachte. Krümmte sich und krauchte. Schlich
sich hinauf und glitschte ab. Rutschte hinab ins Erdreich. Hinein ins
Erdreich. Zurück ins Erdreich. Rutschte ab und fiel erneut zurück. Und
wieder kroch er. Kroch und kroch und schlich sich aus der Vergangenheit
hinaus. Kroch hinan und schlich sich in die Hoffnung ein. Schlich sich in
die Hoffnung ein. Schlüpfte aus dem schwarzen Loch. Schlüpfte schweißgebadet
aus diesem schwarzen Loch, das ihn zurückverschlang. Schlüpfte aus dem
schwarzen Loch Vergangenheit hinaus, das ihn erneut verschlang. Vor dem
Erwachen noch zurückverschlang. Immer zurückverschlang. In jedem Traum
zurückverschlang. In jeder Nacht.
* * *
Er war wie die anderen Kinder. Die anderen
Kinder waren wie er. Auch sie hatten Träume. Alle hatten sie Träume. Sie
alle hatten Träume. Und jedes war allein mit seinen Träumen. Jedes Kind war
allein mit seinen Träumen. Und sie wussten es. Sie wussten es alle. Aber sie
schwiegen es sich zu. In der Dunkelheit des Schlafsraums schwiegen sie sich
ihr Geheimnis zu. Keines war allein mit seinen Träumen. Keines blieb allein
mit seinen Träumen. Sie hüllten ihr Schweigen in Märchen ein. Sie hüllten
Märchen in ihr Schweigen ein. Sie hüllten ihre Träume in Märchen ein. In der
Dunkelheit des Schlafsraums erzählten sie sich Märchen. Keines blieb allein
mit seinem Schweigen. Sie erzählten sich Märchen der Reihe nach. Erzählten
sich alte Märchen. Jede Nacht das nächste Kind, bis alle anderen schliefen.
Erzählten sich neue Märchen. Jede Nacht ein anderes Kind. Erzählte, bis alle
anderen schliefen. Hüllte seine Träume in ein Märchen ein, bis alle anderen
schliefen. Ein anderes Märchen jede Nacht. Ein neues Märchen von den
gleichen Träumen jede Nacht. Die gleichen Träume in einem neuen Märchen jede
Nacht. Erzählt von einem andern Kind. Und jedes Kind hüllt sein
verschwiegenes Leben in einem Märchen ein, bis alle anderen schlafen.
Umhüllt mit einem Märchen die verbotene Vergangenheit, bis alle anderen
schlafen. Enthüllt in einem Märchen sein geplündertes Dasein, bis alle
anderen schlafen. Entschweigt das ungelebte Leben in sein Märchen, bis alle
anderen schlafen. Jede Nacht ein anders Kind. Ein anderes ungelebte Leben
jede Nacht. Jede Nacht das nächste Kind. Entschweigt sein ungelebtes Leben
und erfindet sich die Zukunft, jede Nacht, wenn alle anderen schlafen.
Schenkt sich die Zukunft eingehüllt im Märchen jede Nacht, wenn alle andern
schlafen. Träumt sich in die ersehnte Zukunft, jede Nacht. Träumt seiner
Vergangenheit die Zukunft, jede Nacht, wenn alle andern schlafen.
Wenn alle Kinder schlafen ist sie da. Sie ist
bei ihnen, die ersehnte Zukunft. Sie ist bei den Kindern in der Dunkelheit
des Schlafsraums. Die erträumte Zukunft ist bei den schlafenden Kindern. Sie
ist bei den träumenden Kindern. Sie ist in ihren Träumen. Versöhnt mit der
Vergangenheit ist sie in ihren Träumen. Die Kinder träumen weiter. Träumen
sich ihre Vergangenheit bis in die Zukunft. Träumen sich eine Zukunft aus
der Vergangenheit heraus. In der Dunkelheit des Schlafsraums schweigen sie
sich ihr neues Geheimnis zu. Sie geben es im neuen Märchen preis. Ihr
eigenes Geheimnis. Ein jedem eigenes Geheimnis. Sie geben es im neuen
Märchen preis. Sie schöpfen ihre Welt im Märchen. Ihre neue Welt. Ihre
Märchenwelt. Die Märchen der Gezeichneten. Die Märchenwelt ohne Gezeichnete.
Sie leben ihre Utopie im Märchen. In ihrem Märchen lebt die Utopie. Die
Utopie der Opfer. Die Utopie der Welt ohne Opfer. Die Märchenwelt der
Kinder. Die Kinderwelt der Utopie. Ihr neues Geheimnis. Im neuen Märchen
geben sie es preis. Ihr eigenes Geheimnis. Einem jeden sein eigenes
Geheimnis verhüllt im Märchen. Die Kinder geben es im Märchen preis, wenn
alle anderen schlafen. Die Kindergruppe gibt ihr Schicksal preis im Märchen.
Nimmt ihr Schicksal an im Märchen, wenn alle anderen schlafen. Die Kinder
haben ein Geheimnis, wenn alle anderen schlafen. Ein Schicksal, wenn alle
anderen schlafen. Ein gemeinsames Schicksal, wenn alle anderen schlafen.
Gemeinsam zu ertragen, wenn alle anderen schlafen. Sie geben es im Märchen
preis. Wenn alle anderen schlafen, sind sie ein Schicksal.
* * *
Und als er an die Reihe kommt, als die Reihe an
ihm ist, zu erzählen, sein Märchen zu erzählen. Seine Variation des Märchens
zu erfinden. Er weiß nicht wo beginnen. Er weiß nicht wie beginnen. Soll er
vom Traum erzählen. Vom geheimen Traum. Vom vielgeträumten Traum. Vom
Kriechen und vom dunklen Schlamm. Soll er den Traum erfinden, wo er dem
schwarzen Loch entrinnt. Den Traum, wo er das Licht sieht. Wo er sich
hinauswirft aus dem dunklen Erdreich. Den Traum, wo er sich in die helle
Zukunft einhüllt. Den Traum, wo er ans Ziel gelangt. Soll er es wagen. Soll
er sich verraten, soll er den Traum vom Baum
Und schon beginnt er. Beginnt
und weiß nicht wie. Weiß nicht, dass er das Märchen kennt. Dass er sich noch
erinnert an das Märchen. Das Märchen von den Parzen und den dunklen Nornen.
Sie hoben ihn hinweg. Hoben ihn, trugen ihn fort. Fort von den Seinen. Er
sieht sie jetzt erneut. Sie schwirren. Schwirren um ihn herum. Schwirren
herum und strecken ihre dürren Arme aus. Strecken die Arme aus, um ihn
hinwegzuheben. Doch sie können nicht. Können ihn nicht fassen. Denn sie
sehen ihn nicht. Er sieht sie, und sie sehen ihn nicht. Können ihn nicht
sehen. Können ihn nicht packen, nicht wegheben. Er sieht sie, und er sieht
ihr Suchen. Jetzt sieht er auch die Seinen. Sie standen da und merkten
nichts. Da stehen sie erneut und haben wieder nichts bemerkt. Bemerken
nichts, denn sie lauschen. Lauschen jenen zu, die dort bei ihnen stehen.
Jetzt sieht auch er sie. Sieht sie jetzt erst. Erst jetzt bemerkt er die
zwei kleinen Moiren. Hat er sie doch bereits gesehen. Hat er sie schon
gehört, die beiden Lebensquellen. Lethe und Mnemosyne murmeln. Lethe und
Mnemosyne flüstern. Lethe und Mnemosyne erzählen ihm sein Leben. Das Leben,
das sie ihm erzählen, ist sein Leben. Es ist das Leben, das er jetzt
erzählt. Das Märchen, das er jetzt erfindet. Und die anderen Kinder
lauschen. Lethe und Mnemosyne sind zwei Zwillingsquellen. Nur gemeinsam
löschen sie den Durst. Und ihr gemischtes Wasser ist das Leben.
* * *
Die Kinder schlafen. Die Kinder träumen.
Schlafen und träumen. Sie haben ihre bösen Träume ausgeträumt. Jetzt träumen
sie die Märchen. Jede Nacht ein neues Märchen. Heute ist er an der Reihe.
Die Kinder träumen jetzt sein Märchen. Seinen Traum. Träumen den Traum vom
Baum. Träumen das Märchen vom Traum vom Baum. Die Kinder sind der Samen. Sie
sind der Samen, der im feuchten Schlamm zum Keimen kommt. Keimen. Der
feuchte Schlamm Vergangenheit ist fruchtbar. In seinem Traum ist
Fruchtbarkeit in der Vergangenheit. Die Kinder sind der Samen. Der Samen,
der sich keimend in die Zukunft treibt. Die Kinder sind der Samen. Samen,
der keimt. Der Triebe treibt. Triebe treibt hinauf. Triebe hinauf. Triebe
treibt hinab. Triebe hinab. Aus der Vergangenheit hinauf ans Licht. Aus der
Vergangenheit hinaus ans Licht. Aus der Vergangenheit hinab in die
Vergangenheit. Tiefer hinab in die Vergangenheit. Triebe hinaus. Triebe
hinab. Tiefer hinab in die Vergangenheit. Triebe aus der Tiefe der
Vergangenheit. Triebe mit der Tiefe der Vergangenheit hinaus ans Licht der
Zukunft. Vergangenheit ans Licht der Zukunft.
Die Kinder schlafen. Die Kinder träumen. Träumen
sich als Bäume. Bäume mit Wurzeln aus Vergangenheit und Zukunft. Bäume mit
Ästen aus Vergangenheit und Zukunft. Bäume mit jungen Ästen, die noch weiter
in die Zukunft reichen.
hagalil.com 27-07-2003 |