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Sonderkommando Auschwitz:
Wir weinten tränenlos

Interview mit Gideon Greif, dem 'Sonderkommando-Forscher' Nr.1

Im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz haben die Nationalsozialisten mindestens 1,2 Mio. Menschen systematisch ermordet. Nur wenigen ist heute bekannt, daß die deutsche Lagerleitung hauptsächlich jüdische Häftlinge anhielt, Mitarbeiter der Todesfabrik zu werden.
Seit 1986 befaßt sich Gideon Greif, Historiker von Yad VaShem in Jerusalem, mit dem Schicksal des jüdischen "Sonderkommandos" in Auschwitz-Birkenau. Seine Gespräche mit Überlebenden veröffentlichte der Historiker in seinem Buch "Wir weinten tränenlos - Augenzeugenberichte des jüdischen Sonderkommandos in Auschwitz" (Fischer Taschenbuch 1999). Sein Ziel ist es,die Geschichte des Kommandos möglichst genau mit Hilfe der Zeugenaussagen und Dokumente zu rekonstruieren.
Gideon Greif

haGalil: Was war das Sonderkommando?

Greif: Das war eine Gruppe von jüdischen Häftlingen, die sich entwickelte von einer kleinen Gruppe zu einem riesigen Kommando, das zu seiner Spitzenzeit um die 900 Personen umfaßte. Diese Menschen wurden gezwungen, die fürchterlichsten Arbeiten, die jemand auf der Welt verrichten mußte, zu erledigen, nämlich: Juden, die zum Tode verurteilt waren, zu empfangen in der Entkleidungshalle des Krematoriumsgebäudes, später ihre Leichen aus der Gaskammer zu holen, die Leichen zu verbrennen und schließlich ihre Asche in den Fluß Wistula zu streuen.

haGalil: Auch wurde der Ausdruck von "Auschwitz als der Todesfabrik" geprägt. Wie erklären Sie sich diesen Wirtschaftsbegriff?

Greif: Ziel der Nazis war es, die Juden so schnell und so billig wie möglich zu ermorden. Und überhaupt muß man betonen, daß die Todesfabrik die einzige neue Erfindung der Nationalsozialisten war, denn Antisemitismus gibt es seit 3.000 Jahren, Ghettos einige Jahrhunderte.... So eine industrielle Tötung ist die Erfindung der deutschen Nazis. So etwas hat es davor nie gegeben. Die Häftlinge waren unfreiwillige Mitarbeiter des Unternehmens Auschwitz, der Todesfabrik. Wenn man überprüft, wie Auschwitz, Majdanek, Sobibor, Chelmno ... funktioniert haben, dann ist das am ehesten mit einer Fabrik zu vergleichen. Es gab Nachtschichten, Frühschichten, Mitarbeiter - prominente und einfache - usw., alles, was zu einer normalen Fabrik dazugehört. Die einzigen zwei Unterschiede bestanden im Rohmaterial, Menschen, in diesem Fall meistens Juden, und dem Endprodukt, nämlich menschlicher Asche.

haGalil: Wie hat die Arbeitsstätte dieser Häftlinge ausgesehen?

Greif: Am Anfang haben die ersten "Sonderkommando"-Leute noch im Krematorium des Stammlagers Auschwitz gearbeitet, wo man die ersten Transporte liquidiert hat, und erst im Mai 1942 wurde die systematische Vernichtung im Komplex Birkenau mit der Ermordung von Transporten in den sogenannten "Bunkern" I und II begonnen.
Dort mußten sich die Opfer in zwei großen Holzbaracken ausziehen, die "Sonderkommando"-Leute waren schon dabei und haben den Leuten gesagt, daß sie ein Bad oder eine Dusche erwartet. Damit vollzogen sie nur einen Befehl der SS, das zu wiederholen, was den ankommenden Opfern bereits auf dem Weg dorthin - ihrem letzten Weg - oder im Vorhof der Krematorien von der SS gesagt wurde. Dann mußten die Opfer zu den als Bauernhäuser getarnten Gaskammern laufen. Nach der Ermordung wurden die Leichen von den "Sonderkommando"-Leute herausgetragen und auf kleinen Karren zu den Gruben befördert, hineingeworfen und verbrannt. So primitiv wurden die Juden vergast und verbrannt bis Mitte 1943.
Dann wollten die Täter eine bessere Fabrik, wo alles unter einem Dach funktioniert: Ausziehen, Vergasen und Verbrennen, um den "Prozeß" zu beschleunigen. Unter der Leitung der SS-Bauzentrale haben deutsche Ingenieure innerhalb kurzer Zeit die Krematorien I-IV in Birkenau fertiggestellt. Von Mai / Juni 1943 bis Ende 1944 werden in diesen Todesfabriken mindestens 1,1 Millionen jüdische Kinder, Frauen, Säuglinge und ältere Leute vernichtet, die man von der Rampe direkt in die Krematorien führte.

haGalil: Primo Levi hat das "Sonderkommando" als das dämonischste Werk der Nationalsozialisten bezeichnet. Was ist das eigentlich teuflische an diesem "Sonderkommando"?

Greif: Das teuflische ist, daß die Juden selber - gezwungenermaßen - dabei sein mußten beim Mordprozeß und zusehen mußten, wie ihre Brüder, Geschwister, Eltern, Familien ... und ihr Volk, das jüdische Volk, ermordet wurde. Als Mitarbeiter mußten sie sich daran beteiligen, die Opfer zu belügen und zu täuschen. Ich glaube man kann sich etwas schlimmeres gar nicht vorstellen - und das war Absicht, kein Zufall oder ein Mangel an anderen Mitarbeitern. Da waren Tausende von anderen Häftlingen oder die SS hätte es selber machen können, aber es war eine Idee, nämlich, daß die Juden selber Schuld fühlten. Das paßte zu den Ideen der Nationalsozialisten, wie die Tatsache, daß die späteren Opfer manchmal ihre Fahrkarte nach Auschwitz selbst kaufen mußten. "Du mußt sterben, aber Du mußt auch bezahlen". Oder das einige Judenräte die Listen selber vorbereiten mußten, wer deportiert wird und wer nicht. Das paßte sehr gut in die Denkstruktur der SS-Leute, die Opfer in das Verbrechen zu involvieren, oder besser gesagt, die Schuld zu teilen, nicht nur Täter und Opfer, sondern alles gemischt. Das ist sehr typisch, charakteristisch, das ist zynisch, sadistisch, das ist brutal, das ist dämonisch, wie Primo Levi sagt. Soll sich mal jeder der Leser vorstellen, er oder sie müßte die Leiche der eigenen Mutter oder Frau oder Kinder selber aus der Gaskammer herausholen und verbrennen. Ich glaube, es gibt nichts schlimmeres als das.

haGailil: Die SS zwang die Mitarbeiter des Sonderkommdos dazu, inmitten von Tausenden von Leichen des eigenen Volkes zu arbeiten. Sie haben mit sehr vielen Überlebenden gesprochen. Wie kamen diese Menschen mit ihrer Arbeit zurecht?

Greif: Das ist eine wichtige Frage, auf die wir heute wohl - und vielleicht nie - eine Antwort werden geben können. Diese Leute selber sagen, "man gewöhnt sich an alles." Wenn man muß, wenn man keine andere Wahl hat, dann gewöhnt man sich daran. Und scheinbar ist das so.
Außerdem hatten die SS-Leute dort eine spezielle Taktik, wie sie die Häftlinge zu Robotern, menschlichen Maschinen, machten. Und zwar war das so, daß am ersten oder zweiten "Arbeitstag" im Sonderkommando die neuen Mitarbeiter in eine Baracke geführt wurden, in der einige hundert Leichen gestapelt waren. Und für diese jungen Leuten, die meisten Anfang zwanzig, die nie vorher eine tote Person gesehen hatten, bedeutete dies einen solchen Schock, daß viele später überhaupt nicht mehr denken oder fühlen konnten. Ich glaube die Deutschen in Auschwitz haben die Gefühle der jüdischen "Sonderkommando"-Häftlinge getötet, was die Häftlinge zu roboterähnlichen Gestalten werden ließ. Nicht nur die Opfer wurden physisch ermordet, sondern auch die Gefühle der Mitarbeiter in der Todesfabrik.

haGalil: Gab es Widerstand im Sonderkommando?

Greif: Es wurde versucht, etwas gegen die deutschen Mörder zu unternehmen und den Prozeß des Mordens zu stoppen, Widerstand zu leisten. Zum Beispiel gelang es Photos von der Leichenverbrennung aus dem Lager zu schmuggeln.
Andere - meist sehr religiöse Juden - dokumentierten das Leben im "Sonderkommando" in geheimen Schriften, die sie um die Krematorien vergruben. Darin beschreiben sie die tägliche Arbeit, die Atmosphäre, die Täter, die letzten Minuten der Opfer, ihre Ideale usw. Die "geheimen Schriften" gehören zu den wichtigsten und eindringlichsten Dokumenten der Shoa.
Auch ging vom Sonderkommando der einzige bewaffnete Aufstand in Auschwitz aus. Am 7.Oktober 1944 kamen die Deutschen mit einer Liste, um 300 Mitarbeiter des "Sonderkommandos" auszuselektieren und danach zu liquidieren. Doch die Häftlinge weigerten sich und begannen den bewaffneten Aufstand im Hof des Krematoriums III, in dessen Verlauf drei SS-Männer getötet und mindestens zehn schwer verletzt werden. Unter anderem wurde das Krematorium III in Flammen gesetzt und konnte nie wieder in Stand gesetzt werden. Eine andere Gruppe in einem anderen Krematorium versuchte daraufhin zu fliehen. Innerhalb von fünf bis sechs Stunden wurde der Aufstand blutig niedergeschlagen. Alle Mitarbeiter des Sonderkommandos, die sich aktiv daran beteiligt hatten, - bis auf drei, die sich noch rechtzeitig im Chaos in ein anderes Krematorium schleichen konnten - wurden erschossen.
Dieser Aufstand zeugt vom Heldentum der "Sonderkommando"-Leute, die genau wußten, daß sie gegen die schwer bewaffnete SS keine Chance hatten. Dennoch haben sie diesen Kampf aufgenommen, allein, damit die Welt irgendwann erfährt, daß sie nicht wehrlos waren.

haGalil: Die Häftlinge des "Sonderkommandos" waren Augenzeugen der schlimmsten Verbrechen der Nationalsozialisten, und daher sollte, nach Planungen der SS, keiner von ihnen das Lager jemals lebendig verlassen. Wieso konnten dennoch einige entkommen?

Greif: Warum sie nicht ermordet wurden, ist unklar, scheinbar herrschten im Lager in den Tagen vor der Evakuierung chaotische Zustände. Fest steht nur, daß etwa 100 "Sonderkommando"-Häftlinge, als die Rote Armee immer näher rückte, in einer Baracke ausharrten und ihren Tod erahnten. Am 18.Januar begann die SS das Lager zu räumen und alle Häftlinge Richtung Westen auf den sogenannten Todesmärschen ins Reich zu evakuieren. Die "Sonderkommando"-Häftlinge rechneten als Geheimnisträger des Dritten Reiches jede Stunde mit ihrer Ermordung. Doch plötzlich stieß jemand die Tür auf und binnen Minuten mischten sie sich unter die marschierenden Kolonnen und verließen so das Lager. Kaum einer hatte zu große Hoffnungen gehegt, in die Freiheit zu kommen.

haGalil: Diesem Thema hat sich auch lange niemand gewidmet, auch wegen der Mauer des Schweigens, mit der sich die ehemaligen Häftlinge des "Sonderkommandos" umgaben. Wie sind Sie zu diesem Thema gekommen?

Greif: Vor meiner historischen und pädagogischen Tätigkeit in Yad VaShem habe ich seit 1969 für den israelischen Rundfunk ("Galei Zahal") gearbeitet. Unter anderem oblag mir die Verantwortung für die Sendungen zum Yom haShoa (Shoa-Gedenktag - der am Jahrestag des Beginns des Warschauer Aufstandes stattfindet). Damals habe ich nach speziellen Themen gesucht für Sendungen und ein Kollege hat mich darauf aufmerksam gemacht, daß er zwei Überlebende des "Sonderkommandos" kennt. Ich bin dann zu diesen Leuten gefahren und habe sie interviewt. Ab diesem Zeitpunkt habe ich mich mit diesem Thema befaßt, da es nicht einmal in professionellen Kreisen bekannt war, und habe meine noch andauernde Recherche begonnen. Bis heute habe ich das tiefe Gefühl und bin der Überzeugung, daß es unheimlich wichtig ist, das Leben der Menschen im Vorhof der Hölle zu erforschen, um es allen künftigen Generationen mit auf den Weg zu geben.

haGalil: Welche Bedeutung messen Sie Ihrer Erforschung der Geschichte und der Sammlung der Zeugenaussagen der Überlebenden des "Sonderkommandos" in Auschwitz bei?

Greif: Ich betrachte diese Arbeit mehr als wissenschaftliches Forschen, vielmehr als eine Mission - nicht im religiösen Sinne- sondern als Aufklärungsarbeit, denn die Welt, nicht nur Deutschland - alle Länder, soll wissen, wie die "Endlösung der Judenfrage" durchgeführt wurde. Das wollten auch die Sonderkommando-Leute. Ich sehe mich als einer, der ihren letzten Willen erfüllt.

haGalil: Mehrmals im Jahr kommen Sie zu Recherchen nach Deutschland. Finden Sie es schwierig über das "Sonderkommandos" in Auschwitz vor einem Publikum in Deutschland zu sprechen?

Greif: Meiner Erfahrung nach besteht enormes Interesse an diesem Thema. Manchmal reagieren Leute sehr emotional und verlassen den Saal in Tränen. In Halle habe ich im Frühjahr 1999 gesprochen, wo auch einige Skinheads im Publikum saßen. Während des Vortrages stellten sie ziemlich provokante Fragen, aber am Ende kam ein junger Mann und meinte, daß er bis zu diesem Vortrag Zweifel an der Shoa gehabt hätte. Jetzt habe er an der Massenermordung des jüdischen Volkes in Auschwitz keine Zweifel mehr. Für mich sind solche angenehmen Überraschungen ein Zeichen, daß es die Zeit wert ist, nach Deutschland zu Vorträgen zu kommen. Auch habe ich in einigen Schulen gesprochen und war von der offenen fragenden Art des Gesprächs mit den Schülern sehr zufrieden.

haGalil: Herr Greif, vielen Dank für dieses Gespräch.

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