[Zeitzeugen] [Gedenken] [Geschichte und Diskurs] [Erinnerung] [Nationalsozialismus] [Entschädigung] [Webausstellungen] [Suchformulare] [Literatur]
schoah.org

Wir versuchen auf diesen Seiten alle Dienste kostenlos anzubieten und sind somit auf Unterstützung angewiesen, denn leider wird haGalil im Rahmen der Bundesmittel zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Antisemitismus, trotz mehrfacher leitlinien-konformer und fristgerechter Antragstellung, in keiner Weise unterstützt. Wir müssen Sie deshalb bitten, haGalil auch weiterhin mit Ihrer ganz persönlichen Spende zu unterstützen. Schon zwanzig Euro helfen, haGalil zu erhalten; wenn's zweihundert sind, finanzieren Sie die Information für weitere Leser gleich mit.

haGalil e.V., Münchner Bank BLZ 701 900 00, Konto Nr. 872 091.
Sie finden weitere Angaben zu Überweisungen aus dem Ausland, zu Lastschriftverfahren, Spendenquittungen etc. auf den Seiten des haGalil e.V..

 

Entrance haGalil
Search haGalil
Jahaduth: Jüdische Religion
Jüd. Kalender
Forum Judaicum
Spenden Sie mit PayPal - schnell, kostenlos und sicher!

Der Todesmarsch
und mein Weg zurück zum Leben
von Bill Basch

Zwangsarbeit

Wir hatten Schützengräben entlang von Eisenbahngleisen zu graben, in die sich die Deutschen zurückzogen, während wir die durch Bomben beschädigten Gleise reparieren mußten. Manchmal arbeiteten wir bei Tag und bei Nacht. Die Gleise, an denen wir eingesetzt wurden, lagen nie weit von der Front entfernt und wurden andauernd bombardiert um den Nachschub an Munition und Ausrüstung zu verhindern. 

Wir schwebten in der ständigen Gefahr, von den Deutschen erschossen oder von Bomben getroffen zu werden. Wenn jemand verletzt wurde, brachte man ihn weg. Wir hörten dann Maschinengewehrfeuer - alle wußten, was das bedeutete. Ich arbeitete von Dezember 1944 bis März 1945 an den Gleisen.

Als wir nur noch etwa vierzig Mann waren, beschloß die SS, uns hinzurichten. Aber einige Soldaten machten einen Handel mit der SS, dass sie unsere Gruppe übernehmen und zu einem Lager bringen würden. Sie handelten nicht aus Nächstenliebe, sondern weil sie wußten, dass der Krieg beinahe verloren war. Wir sollten für sie aussagen, dass sie uns das Leben gerettet hätten.

Todesmarsch

Der Marsch war ein Todesmarsch. Die meisten starben vor Entkräftung oder weil sie erschossen wurden. Noch Jahre später hat mich verfolgt, was ich in dieser Zeit erlebte. Bis dahin war ich mit zwei Freunden zusammen, und wir hatten uns geschworen, unser Leben füreinander zu opfern - dass wir uns nie im Stich lassen würden. Sie wissen schon, wie Kinder eben sind - wir dachten, es wäre möglich. 

Einer von uns dreien hatte eine Knieverletzung und Wundbrand. Einer der Soldaten bemerkte, dass er hinkte, kommt her und will ihn erschießen. Aber wir stellen uns vor ihn. Der Soldat senkt die Luger und sagt: "Ich gebe euch drei Sekunden, ich zähle bis drei. Entweder ihr lasst ihn los oder ich erschieße euch alle". Können Sie sich vorstellen, welche Entscheidung wir in diesem Alter zu fällen hatten? Ja, wir hatten uns versprochen, füreinander zu sterben. Jetzt konnten wir das Versprechen nicht halten. Wir ließen ihn fallen.

Eins habe ich aus dieser schrecklichen Erfahrung gelernt. Ich kann nicht mehr sagen, ich werde dieses oder jenes niemals tun. Im Angesicht des Todes tut man alles, um zu überleben.

Es gab auch ein anderes Erlebnis auf diesem Marsch - eines das mich lehrte, die Welt nicht zu verdammen - nicht einmal die Deutschen. In Süddeutschland kamen wir durch ein kleines Dorf, als an einem Fenster im oberen Stockwerk eines Hauses eine ältere Frau erschien. Ich sehe sie noch heute vor mir. Sie hatte ihre Schürze wie zu einem Beutel gerafft und stand am offenen Fenster. Wir waren halb verhungert und daran gewähnt, dass die Leute uns mit Steinen bewarfen oder mit heißem Wasser übergossen, doch als diese Frau ihre Schürze öffnete, fielen zwanzig Brotlaibe auf die Straße. Selbstverständlich liefen wir sofort los, um sie auf zuheben, und sahen daher nicht, wie ein SS-Soldat seine Maschinenpistole hob und die Frau erschoß. Diese eine Frau gab ihr Leben für uns, wie könnte ich also alle Deutschen hassen?

"Wir konnten nicht moralisch handeln. Es ging einzig und allein ums Überleben, und überleben konnte nur wer bereit war den Moralkodex zu brechen."

Dachau

Endlich, nach zehn qualvollen Tagen, erreichten wir in der dritten Aprilwoche 1945 unser Ziel - Dachau. Mit Dachau verbinden sich für mich weitere furchtbare Erlebnisse... Wir schliefen auf Pritschen, schmutzigen, verlausten Pritschen, jeweils zu viert auf einer, und mit einer einzigen, dünnen Decke.

Es war eisig kalt, und oft wachte ich nachts davon auf, dass der Mann neben mir mich nicht mehr wärmte, weil er tot war. Doch das berührte mich nicht, ich hatte keine Tränen, keine Emotionen. Statt dessen bat ich den nächsten auf der Pritsche, gemeinsam mit mir die Leiche auf den Boden zu legen - jetzt brauchten wir uns die Decke nur noch zu dritt zu teilen und konnten darauf hoffen, eine weitere Nacht zu überleben.


Bill und sein Sohn betrachten die hölzernen Verschläge in den Baracken des Konzentrationslagers Dachau.

Selbstverständlich wußten wir damals nicht, dass Dachau das erste Lager sein sollte, welches Eisenhowers Armee befreien würde. Doch als es den Deutschen klar wurde, umgaben sie das ganze Lager mit Sprengstoff und legten Drahtzünder daran. Früh am Morgen des 29. April hörten wir Gewehrschüsse und Explosionen. Einen Moment lang glaubten wir, das ganze Lager würde in die Luft gejagt, doch es waren die Amerikaner, die unerwartet in das Lager einmarschierten. Die deutschen Wachen waren völlig überrascht. Dann ereigneten sich unglaubliche Szenen, einige der Deutschen wurden von den Lagerinsassen buchstäblich zerrissen, Das war der Tag, an dem ich, gemeinsam mit 29.000 anderen Gefangenen, endlich befreit wurde.

Manche Menschen wurden nach Kriegsende wahnsinnig und begingen Selbstmord, viele andere starben an Typhus, und ich selbst brach etwa eine Woche nach meiner Befreiung auf der Straße zusammen.

Als ich wieder zu mir kam - fünfzehn Tage später, erkannte ich eine Krankenschwester, die an meinem Bett saß. Es war der 4. Juni, und ich befand mich in einem amerikanischen Feldlazarett. Die Krankenschwester erzählte mir, es seien so viele Menschen aus dem Lager zu versorgen gewesen, dass man die, denen man keine Überlebenschancen mehr ein räumte, zum Sterben auf Tische gelegt habe, um sie dann zu beerdigen. Aus irgendwelchen Gründen hatte ich überlebt, so dass man mich in das Feldlazarett zurückgebracht hatte - glatzköpfig und vollkommen verlaust, aber ich überlebte.

Ein Weg zurück?

Als ich wieder gesund war, kehrte ich nach Budapest zurück, um meine Familie zu suchen. Eine Woche lang hatte ich keinen Erfolg. Doch dann erfuhr ich über eine jüdische Agentur, dass jemand meine Schwester in Bukarest gesehen und sie gehört hatte, dass ich nach ihr suchte. Meine Schwester hatte als Starthilfe etwas Geld erhalten und fuhr nach Budapest, um mich zu finden. Doch zur gleichen Zeit war ich auf dem Weg nach Bukarest!

Ich kehrte also in mein Heimatdorf zurück, wo ich am Bahnhof eine Nachricht für meine Schwester hinterlassen wollte, dass ich in unserem Haus sei. Doch als ich am Bahnhof ankam, fingen mich zwei jüdische Kinder ab und brachten mich zum Haus eines entfernten Verwandten.

Man erzählte mir, dass in unserem Haus jetzt sieben nichtjüdische Familien lebten und dass andere Uberlebende, die in ihre Häuser zurückkehren wollten, ermordet worden waren. Ich hatte also den Krieg überlebt und mußte nun fürchten, dass man mich in meinem Heimatort umbrachte. Im Haus meines Verwandten erhielt ich ein Bett und etwas zu essen. Das war das letzte, was er für die Überlebenden des Holocaust tat. Er erhängte sich, weil er mit dem, was er erlebt hatte, nicht fertig wurde. Für viele Menschen war das die einzige Lösung, um damit "fertig" zu werden. Ich blieb noch einige Tage in seinem Haus, bis meine Schwester eintraf und wir beschlossen, Ungarn zu verlassen.

Nachdem ich so lange im Ungewissen gewesen war, ob jemand aus meiner Familie überlebt hatte, freute ich mich, meine Schwester wiederzusehen. Wir warteten drei oder vier Wochen in der Hoffnung, es könne noch jemand kommen. Doch als niemand kam, mußten wir annehmen, dass alle tot waren. Erst als wir etwa ein Jahr später nach Italien kamen, erfuhren wir, dass auch unser Bruder Ted überlebt hatte. Bis dahin lebten meine Schwester und ich einige Zeit in österreichischen Lagern für "Displaced Persons". Mein Bruder kämpfte für die Gründung des Staates Israel, bevor wir uns sechs oder sieben Jahre später in Amerika trafen, wo er sich niederließ.

Amerika

Ich selbst kam am 21. November 1947 in Los Angeles an und begann am darauf folgenden Tag in einer Reinigung zu arbeiten, wo ich Hosen kürzte. Zuallererst wollte ich Englisch lernen, deshalb besuchte ich die Abendschule, wo ich eine junge Frau aus der Tschechoslowakei kennen lernte, die ebenfalls eine Überlebende des Holocaust war.

Sie war sehr nett, zwei Jahre später heirateten wir und bekamen einen Sohn und zwei Töchter. Rose - oder Holly, wie ich sie nannte - und ich waren 47 Jahre verheiratet. Ihr Schicksal war sehr traurig, denn sie litt unter einer unbekannten Krankheit. Nach dem sie jahrelang krank war und viele Behandlungen über sich hatte ergehen lassen, stellte man an der Universität von Oslo, wo umfangreiche Forschungen zu den Krankheiten von Holocaustüberlebenden durchgeführt wurden, die Diagnose, dass es keine Heilungsmöglichkeit gab, und dass die Krankheit meiner Frau von dem Gift herrührte, das ihr bei Experimenten in Auschwitz verabreicht worden war. Manche Menschen haben das Konzentrationslager körperlich fast unbeschadet überstanden, doch in ihrem Fall zersetzten sich die Blutgefäße von innen, und nach fünfzehn jährigem Leiden starb sie schließlich an einer inneren Blutung.

Sie schenkte mir drei wunderbare Kinder und diese wieder um fünf hinreißende Enkel - sie sind die Freude und Erfüllung meines Lebens. Auch wirtschaftlich geht es mir wieder gut; Gott war mit mir, half mir, und so war ich mit 61 Jahren in der Lage, in den Ruhestand zu gehen und ein traditionsgemäßes jüdisches Leben mit meiner Familie zu führen.

Glauben und Leben

Direkt nach dem Holocaust hatte ich keine Zeit, über meinen Glauben nachzudenken. Alles drehte sich darum, zu überleben. Später stellte ich meinen Glauben in Frage. Wenn Gott gerecht und gnädig ist, wie konnte er dann einfach nur zusehen? Es war für mich sehr schmerzhaft, dass es mir nicht gelang, ihn so bedingungslos zu akzeptieren, wie ich es als Kind getan hatte. Ich fand einen Kompromiß: Ich glaube noch an Gott, bin aber kein so frommer Jude mehr, wie ich es einmal war.

Gegenwärtig versuche ich etwas von meinen Erfahrungen an die Gesellschaft weiterzugeben, indem ich in Schulen gehe und mit den Kindern über den Holocaust spreche. Nicht so sehr über die scheußlichen Details, sondern wie und warum es dazu kommen konnte. Ich versuche ihnen zu erklären, wozu Hass führen und wie er ein ganzes Volk vernichten kann. Die Reaktionen darauf sind ganz erstaunlich, nicht selten sehe ich Tränen. Ich habe eine Mappe mit Briefen, die mir diese Kinder geschrieben haben. Viele von ihnen bedanken sich dafür, dass ich ihnen gezeigt habe, welches Leid Hass anderen Menschen zufügen kann, und sie versprechen, niemals einen Menschen zu hassen. Ich beantworte ihre Briefe und habe dabei das Gefühl, dass ich zu etwas Sinnvollem beitrage.

Es ist richtig, anfangs habe ich mich oft gefragt, warum ich überlebte und nicht meine Eltern, Brüder und Schwestern. Aber ich fühle mich nicht schuldig dafür, dass ich die Willenskraft besaß, um zu überleben. Heute führe ich ein neues Leben, heute stelle ich mir eher die Frage, was ich der Welt, wenn ich gehe, hinterlassen kann, damit sie eine bessere wird.

Erschienen in "Die letzten Tage"
Bestellbar direkt beim Verlag

haGalil onLine 02-05-2000

 

Jüdische Weisheit
Die bei haGalil onLine und den angeschlossenen Domains veröffentlichten Texte spiegeln Meinungen und Kenntnisstand der jeweiligen Autoren.
Sie geben nicht unbedingt die Meinung der Herausgeber bzw. der Gesamtredaktion wieder.

[Impressum]
Kontakt: hagalil@hagalil.com
haGalil - Postfach 900504 - D-81505 München

1995-2011 © haGalil onLine® bzw. den angeg. Rechteinhabern
Munich - Tel Aviv - All Rights Reserved
haGalil onLine - Editorial