Der Todesmarsch
und mein Weg zurück zum Leben
von Bill Basch
Zwangsarbeit
Wir hatten Schützengräben entlang
von Eisenbahngleisen zu graben, in die sich die Deutschen zurückzogen,
während wir die durch Bomben beschädigten Gleise reparieren mußten.
Manchmal arbeiteten wir bei Tag und bei Nacht. Die Gleise, an denen wir
eingesetzt wurden, lagen nie weit von der Front entfernt und wurden
andauernd bombardiert um den Nachschub an Munition und Ausrüstung zu
verhindern.
Wir schwebten in der ständigen
Gefahr, von den Deutschen erschossen oder von Bomben getroffen zu werden.
Wenn jemand verletzt wurde, brachte man ihn weg. Wir hörten dann
Maschinengewehrfeuer - alle wußten, was das bedeutete. Ich arbeitete von
Dezember 1944 bis März 1945 an den Gleisen.

Als wir nur noch etwa vierzig Mann
waren, beschloß die SS, uns hinzurichten. Aber einige Soldaten machten
einen Handel mit der SS, dass sie unsere Gruppe übernehmen und zu einem
Lager bringen würden. Sie handelten nicht aus Nächstenliebe, sondern
weil sie wußten, dass der Krieg beinahe verloren war. Wir sollten für
sie aussagen, dass sie uns das Leben gerettet hätten.
Todesmarsch
Der Marsch war ein Todesmarsch.
Die meisten starben vor Entkräftung oder weil sie erschossen wurden. Noch
Jahre später hat mich verfolgt, was ich in dieser Zeit erlebte. Bis dahin
war ich mit zwei Freunden zusammen, und wir hatten uns geschworen, unser
Leben füreinander zu opfern - dass wir uns nie im Stich lassen würden.
Sie wissen schon, wie Kinder eben sind - wir dachten, es wäre
möglich.
Einer von uns dreien hatte eine
Knieverletzung und Wundbrand. Einer der Soldaten bemerkte, dass er hinkte,
kommt her und will ihn erschießen. Aber wir stellen uns vor ihn. Der
Soldat senkt die Luger und sagt: "Ich gebe euch drei Sekunden, ich zähle
bis drei. Entweder ihr lasst ihn los oder ich erschieße euch alle".
Können Sie sich vorstellen, welche Entscheidung wir in diesem Alter zu
fällen hatten? Ja, wir hatten uns versprochen, füreinander zu sterben.
Jetzt konnten wir das
Versprechen nicht halten. Wir ließen ihn fallen.
Eins
habe ich aus dieser schrecklichen Erfahrung gelernt. Ich kann nicht mehr
sagen, ich werde dieses oder jenes niemals tun. Im Angesicht des Todes tut
man alles, um zu überleben.
Es gab auch ein anderes Erlebnis
auf diesem Marsch - eines das mich lehrte, die Welt nicht zu verdammen -
nicht einmal die Deutschen. In Süddeutschland kamen wir durch ein kleines
Dorf, als an einem Fenster im oberen Stockwerk eines Hauses eine ältere
Frau erschien. Ich sehe sie noch heute vor mir. Sie hatte ihre Schürze
wie zu einem Beutel gerafft und stand am offenen Fenster. Wir waren halb
verhungert und daran gewähnt, dass die Leute uns mit Steinen bewarfen
oder mit heißem Wasser übergossen, doch als diese Frau ihre Schürze
öffnete, fielen zwanzig Brotlaibe auf die Straße. Selbstverständlich
liefen wir sofort los, um sie auf zuheben, und sahen daher nicht, wie ein
SS-Soldat seine Maschinenpistole hob und die Frau erschoß. Diese eine
Frau gab ihr Leben für uns, wie könnte ich also alle Deutschen hassen?

"Wir konnten nicht
moralisch handeln. Es ging einzig und allein ums Überleben, und
überleben konnte nur wer bereit war den Moralkodex zu brechen."
Dachau
Endlich, nach zehn qualvollen
Tagen, erreichten wir in der dritten Aprilwoche 1945 unser Ziel - Dachau.
Mit Dachau verbinden sich für mich weitere furchtbare Erlebnisse... Wir
schliefen auf Pritschen, schmutzigen, verlausten Pritschen, jeweils zu
viert auf einer, und mit einer einzigen, dünnen Decke.
Es war eisig kalt, und oft wachte
ich nachts davon auf, dass der Mann neben mir mich nicht mehr wärmte,
weil er tot war. Doch das berührte mich nicht, ich hatte keine Tränen,
keine Emotionen. Statt dessen bat ich den nächsten auf der Pritsche,
gemeinsam mit mir die Leiche auf den Boden zu legen - jetzt brauchten wir
uns die Decke nur noch zu dritt zu teilen und konnten darauf hoffen, eine
weitere Nacht zu überleben.

Bill und sein Sohn betrachten
die hölzernen Verschläge in den Baracken des Konzentrationslagers
Dachau.
Selbstverständlich wußten wir
damals nicht, dass Dachau das erste Lager sein sollte, welches Eisenhowers
Armee befreien würde. Doch als es den Deutschen klar wurde, umgaben sie
das ganze Lager mit Sprengstoff und legten Drahtzünder daran. Früh am
Morgen des 29. April hörten wir Gewehrschüsse und Explosionen. Einen
Moment lang glaubten wir, das ganze Lager würde in die Luft gejagt, doch
es waren die Amerikaner, die unerwartet in das Lager einmarschierten. Die
deutschen Wachen waren völlig überrascht. Dann ereigneten sich
unglaubliche Szenen, einige der Deutschen wurden von den Lagerinsassen
buchstäblich zerrissen, Das war der Tag, an dem ich, gemeinsam mit 29.000
anderen Gefangenen, endlich befreit wurde.
Manche Menschen wurden nach
Kriegsende wahnsinnig und begingen Selbstmord, viele andere starben an
Typhus, und ich selbst brach etwa eine Woche nach meiner Befreiung auf der
Straße zusammen.
Als ich wieder zu mir kam -
fünfzehn Tage später, erkannte ich eine Krankenschwester, die an meinem
Bett saß. Es war der 4. Juni, und ich befand mich in einem amerikanischen
Feldlazarett. Die Krankenschwester erzählte mir, es seien so viele
Menschen aus dem Lager zu versorgen gewesen, dass man die, denen man keine
Überlebenschancen mehr ein räumte, zum Sterben auf Tische gelegt habe,
um sie dann zu beerdigen. Aus irgendwelchen Gründen hatte ich überlebt,
so dass man mich in das Feldlazarett zurückgebracht hatte - glatzköpfig
und vollkommen verlaust, aber ich überlebte.
Ein Weg zurück?
Als ich wieder gesund war,
kehrte ich nach Budapest zurück, um meine Familie zu suchen. Eine Woche
lang hatte ich keinen Erfolg. Doch dann erfuhr ich über eine jüdische
Agentur, dass jemand meine Schwester in Bukarest gesehen und sie gehört
hatte, dass ich nach ihr suchte. Meine Schwester hatte als Starthilfe
etwas Geld erhalten und fuhr nach Budapest, um mich zu finden. Doch zur
gleichen Zeit war ich auf dem Weg nach Bukarest!
Ich kehrte also in mein Heimatdorf
zurück, wo ich am Bahnhof eine Nachricht für meine Schwester
hinterlassen wollte, dass ich in unserem Haus sei. Doch als ich am Bahnhof
ankam, fingen mich zwei jüdische Kinder ab und brachten mich zum Haus
eines entfernten Verwandten.
Man erzählte mir, dass in unserem
Haus jetzt sieben nichtjüdische Familien lebten und dass andere
Uberlebende, die in ihre Häuser zurückkehren wollten, ermordet worden
waren. Ich hatte also den Krieg überlebt und mußte nun fürchten, dass
man mich in meinem Heimatort umbrachte. Im Haus meines Verwandten erhielt
ich ein Bett und etwas zu essen. Das war das letzte, was er für die
Überlebenden des Holocaust tat. Er erhängte sich, weil er mit dem, was
er erlebt hatte, nicht fertig wurde. Für viele Menschen war das die
einzige Lösung, um damit "fertig" zu werden. Ich blieb noch
einige Tage in seinem Haus, bis meine Schwester eintraf und wir
beschlossen, Ungarn zu verlassen.
Nachdem ich so lange im Ungewissen
gewesen war, ob jemand aus meiner Familie überlebt hatte, freute ich
mich, meine Schwester wiederzusehen. Wir warteten drei oder vier Wochen in
der Hoffnung, es könne noch jemand kommen. Doch als niemand kam, mußten
wir annehmen, dass alle tot waren. Erst als wir etwa ein Jahr später nach
Italien kamen, erfuhren wir, dass auch unser Bruder Ted überlebt hatte.
Bis dahin lebten meine Schwester und ich einige Zeit in österreichischen
Lagern für "Displaced Persons". Mein Bruder kämpfte für die Gründung
des Staates Israel, bevor wir uns sechs oder sieben Jahre später in
Amerika trafen, wo er sich niederließ.
Amerika
Ich selbst kam am 21. November
1947 in Los Angeles an und begann am darauf folgenden Tag in einer
Reinigung zu arbeiten, wo ich Hosen kürzte. Zuallererst wollte ich
Englisch lernen, deshalb besuchte ich die Abendschule, wo ich eine junge
Frau aus der Tschechoslowakei kennen lernte, die ebenfalls eine
Überlebende des Holocaust war.
Sie war sehr nett, zwei Jahre
später heirateten wir und bekamen einen Sohn und zwei Töchter. Rose -
oder Holly, wie ich sie nannte - und ich waren 47 Jahre verheiratet. Ihr
Schicksal war sehr traurig, denn sie litt unter einer unbekannten
Krankheit. Nach dem sie jahrelang krank war und viele Behandlungen über
sich hatte ergehen lassen, stellte man an der Universität von Oslo, wo
umfangreiche Forschungen zu den Krankheiten von Holocaustüberlebenden
durchgeführt wurden, die Diagnose, dass es keine Heilungsmöglichkeit
gab, und dass die Krankheit meiner Frau von dem Gift herrührte, das ihr
bei Experimenten in Auschwitz verabreicht worden war. Manche Menschen
haben das Konzentrationslager körperlich fast unbeschadet überstanden,
doch in ihrem Fall zersetzten sich die Blutgefäße von innen, und nach
fünfzehn jährigem Leiden starb sie schließlich an einer inneren
Blutung.
Sie schenkte mir drei wunderbare
Kinder und diese wieder um fünf hinreißende Enkel - sie sind die Freude
und Erfüllung meines Lebens. Auch wirtschaftlich geht es mir wieder gut;
Gott war mit mir, half mir, und so war ich mit 61 Jahren in der Lage, in
den Ruhestand zu gehen und ein traditionsgemäßes jüdisches Leben mit
meiner Familie zu führen.
Glauben und Leben
Direkt nach dem Holocaust hatte
ich keine Zeit, über meinen Glauben nachzudenken. Alles drehte sich
darum, zu überleben. Später stellte ich meinen Glauben in Frage. Wenn
Gott gerecht und gnädig ist, wie konnte er dann einfach nur zusehen? Es
war für mich sehr schmerzhaft, dass es mir nicht gelang, ihn so
bedingungslos zu akzeptieren, wie ich es als Kind getan hatte. Ich fand
einen Kompromiß: Ich glaube noch an Gott, bin aber kein so frommer Jude
mehr, wie ich es einmal war.
Gegenwärtig versuche ich etwas von
meinen Erfahrungen an die Gesellschaft weiterzugeben, indem ich in Schulen
gehe und mit den Kindern über den Holocaust spreche. Nicht so sehr über
die scheußlichen Details, sondern wie und warum es dazu kommen konnte.
Ich versuche ihnen zu erklären, wozu Hass führen und wie er ein ganzes
Volk vernichten kann. Die Reaktionen darauf sind ganz erstaunlich, nicht
selten sehe ich Tränen. Ich habe eine Mappe mit Briefen, die mir diese
Kinder geschrieben haben. Viele von ihnen bedanken sich dafür, dass ich
ihnen gezeigt habe, welches Leid Hass anderen Menschen zufügen kann, und
sie versprechen, niemals einen Menschen zu hassen. Ich beantworte ihre
Briefe und habe dabei das Gefühl, dass ich zu etwas Sinnvollem beitrage.
Es ist richtig, anfangs habe ich
mich oft gefragt, warum ich überlebte und nicht meine Eltern, Brüder und
Schwestern. Aber ich fühle mich nicht schuldig dafür, dass ich die
Willenskraft besaß, um zu überleben. Heute führe ich ein neues Leben,
heute stelle ich mir eher die Frage, was ich der Welt, wenn ich gehe,
hinterlassen kann, damit sie eine bessere wird.
Erschienen in "Die
letzten Tage"
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haGalil onLine 02-05-2000 |