Nachwort
von Erich Hartmann
Wenn man früher von Dachau sprach, dann meinte man damit die schön gelegene,
mehr als 1000 Jahre alte Stadt in der Nähe von München; die nahe gelegenen Moore
waren ein Lieblingsmotiv vieler Landschaftsmaler.
Seit Anfang 1933, kurz nachdem
die Nationalsozialisten in Deutschland an die Macht kamen und bis Kriegsende
1945, stand Dachau für das Konzentrationslager, das am Stadtrand gebaut wurde,
wo sich früher Kartoffelfelder erstreckten. Seine offizielle Bezeichnung war
Arbeits- und Umerziehungslager, doch bald munkelte man, was sich dann zu
Gerüchten verdichtete und bald danach durch die Aussagen von Augenzeugen
bestätigt wurde: dass Dachau ein Ort war, der von Gewalt und Erniedrigung geprägt
war.
Das KZ
Dachau stand am Anfang eines sorgfältig geplanten und organisierten Systems von
Konzentrationslagern mit genau definierten Zwecken: der Ausschaltung aller
politischen Gegner durch Terror und Grausamkeit, der Ausnützung von
arbeitsfähigen Häftlingen durch Zwangsarbeit für die deutsche Industrie
(besonders nach Beginn des Krieges), bis sie, durch Arbeit und Hunger völlig
erschöpft, umgebracht wurden, und schließlich die seelische und dann körperliche
Vernichtung eines jeden gleich ob Mann, Frau oder Kind , der von den
Rassegesetzen des Herrenvolkes für lebensunwürdig befunden wurde: Slawen,
Zigeuner, Homosexuelle, Geistliche vieler Konfessionen, körperlich und geistig
Behinderte etc. Und selbstverständlich die Vernichtung aller Juden.
Als ich sehr jung war, hatte ich eine Begegnung mit
Dachau, die sich in mein Gedächtnis eingebrannt hat. Nach einem leichten
Fahrradunfall auf regennasser Straße in München hatten mich meine Eltern in die
nahe gelegene Klinik geschickt. Als ich in das Wartezimmer kam, waren schon zwei
Männer dort; einer stand, der andere saß auf der Bank. Der, der stand, trug die
schwarze Totenkopf-Uniform der SS und eine Pistole, der andere die
blaugrau-gestreifte Kleidung eines KZ-Häftlings und Holzpantoffeln. Sein Kopf
war geschoren, sein Gesicht war mager und zeigte dunkle Flecken. Keiner der
beiden sprach. Ich weiß nicht, warum sie dort waren. Der SS-Mann blickte hinaus
in den Frühlingsgarten, der Häftling sah meist zu Boden. Sie sahen einander
nicht an. Einmal schaute der SS-Mann zu mir hinüber, ohne Interesse. In seinen
Augen sah ich die Ruhe, die von rein physischer Macht ausgeht. In den Augen des
Häftlings sah ich etwas, das ich noch nie vorher in einem Gesicht gesehen hatte
keinen Ausdruck, keine Erwartung, keine Hoffnung. Ein entleertes Gesicht. Ich
wurde bald aufgerufen, das Knie war schnell behandelt, und auf dem Weg hinaus
waren die zwei nicht mehr im Wartezimmer. Ich habe sie nie wieder gesehen. Ich
würde den Häftling noch heute wiedererkennen.
Aus Abenteuergeschichten kannte ich den Ausdruck das Blut
erstarrte wie Eis in seinen Adern; jetzt wußte ich zum ersten Mal, was das
bedeutete: ich fühlte unmittelbare, greifbare Angst wie noch nie zuvor. Ich fing
an zu verstehen, was die Nazis begonnen hatten, aus dem Deutschland zu machen,
das auch mein Zuhause war und das ich liebte eine »eisige Hölle«, wie ein
Überlebender von Dachau später schrieb. In den paar Minuten in dem sauberen und
antiseptischen Klinikraum bekam ich eine Ahnung davon, was es bedeuten musste,
ein Gefangener der SS zu sein, und erst viel später wurde mir klar, dass ich in
die zwei Gesichter von Nazideutschland geblickt hatte und dass beide die
Gesichter des Todes waren das des Mörders und das des Opfers. Die Nazis
verstanden es, einen traditionellen und oft überstrapazierten deutschen Hang zur
Romantik, der große Literatur und Kunst hervorgebracht hatte, in Todesanbetung
zu verwandeln, und so überzogen sie ihre Feinde und sogar Deutsche mit einer
ungezügelten Orgie der Vernichtung. Der grausame, verherrlichte Tod wurde zum
Hauptinstrument des Tausendjährigen Reiches. Von einem SA-Offizier in
Buchenwald soll das folgende Zitat, frei nach Karl Kraus, stammen: »Wir sind
nicht mehr im Lande der Dichter und Denker, sondern im Lande der Richter und
Henker.«
In den mehr als fünfzig Jahren, in denen ich in den USA
lebe, habe ich nie eine Erklärung dafür gefunden, warum mein Vater nicht auch
sofort in ein Konzentrationslager kam. Wie viele andere war er Jude, der zum
Mittelstand gehörte, er war erfolgreich in seiner Arbeit, sein Leben lang, wenn
auch passiver, Sozialdemokrat, in seiner Stadt bekannt und anerkannt. Vielleicht
wurde er verschont, weil er als deutscher Frontsoldat im Ersten Weltkrieg diente
und mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet wurde, und davor hatten die Nazis,
wenigstens am Anfang, noch Respekt, sogar bei Juden. Doch wenn meine Mutter
nicht großmütige Verwandte in den USA gehabt hätte, die es der ganzen Familie
den Eltern, zwei Jungen und einem kleinen Mädchen ermöglichten, Deutschland im
Sommer 1938 zu verlassen, dann hätte keiner von uns den Lagern viel länger
entgehen können. Verwandte und Freunde, die nicht auswandern konnten oder
wollten , wurden bald danach in die Lager gebracht, und wenige haben sie
überlebt.
Ich war sechzehn, als wir auswanderten. Es war
schmerzlich, damals, mein Land und die Muttersprache zu verlieren, und anfangs
war es nicht leicht, in einem neuen Land Wurzeln zu schlagen auf jeden Fall
schien es mir so, zu der Zeit. Doch bald, mit jeder neuen Nachricht, die aus dem
besetzten Europa herüberkam, wurde uns immer klarer, dass uns ein Schicksal
erspart geblieben war, das sogar wir, die wir die Nazizeit von 1933 bis 1938
mitgemacht hatten, zuerst unglaublich fanden: eine legal gewählte Regierung
hatte ein Land, das große Philosophen und Künstler hervorgebracht hatte, in ein
Instrument planmäßigen Terrors verwandelt, in dem Brutalität, Sklavenarbeit,
Folter und Mord wie ein Flächenbrand Millionen unschuldiger Menschen, Juden und
viele andere, vernichtete. Bald waren es mehr als tausend Lager, Außenlager,
Außenkommandos und mehr dergleichen, die speziell für diese Folter- und
Tötungsindustrie errichtet wurden; eine endlose, trübe, trostlose Landschaft,
von Stacheldraht umgeben, erstreckte sich über Deutschland und das eroberte
Europa hin.
Es waren nicht nur wir und andere, die vor den Nazis
geflohen waren: auch die restliche Welt, wir alle wussten lange vor Kriegsende
von diesen unmenschlichen Taten, und bald danach wussten auch alle, dass die
Mehrheit der Deutschen kaum dagegen protestiert und fast nichts getan hatte, um
die zunehmende Verführung ihres eigenen Landes durch Gewalt und die
Vergewaltigung vieler anderer europäischer Länder zu bekämpfen. In Deutschland
höre ich heute noch »Wir wussten nicht, was sie taten«, und nicht oft genug »Wir
wollten nicht wissen, was sie taten«.
Am Morgen nach Pearl Harbor meldete ich mich freiwillig
beim amerikanischen Militär; ich mußte ein Jahr warten, weil ich noch als
feindlicher Ausländer (»enemy alien«) und übereilter Antifaschist (»premature
antifascist«) in den Akten geführt war. Aber endlich wur-de ich eingezogen und
diente drei Jahre in der Armee, größtenteils in Europa in England, Frankreich,
Belgien, Deutschland , und als der Krieg vorbei war und wir gewonnen hatten,
glaubte ich, den USA eine Dankesschuld abgetragen zu haben: dem Land, das uns
aufgenommen und damit unser Leben gerettet hatte.
Kurz nach VE-day (»VE« für »Victory Europe«, 8. Mai 45)
war ich in Augsburg stationiert und fuhr hinüber zum ehemaligen KZ Dachau. Die
vielen Leichen, die die alliierten Befreiungstruppen vorgefunden hatten, waren
begraben worden, die meisten Baracken geleert und abgerissen, um die weitere
Verbreitung von Seuchen aufzuhalten. In der provisorischen Ausstellung, die in
einer noch erhaltenen Baracke für Besucher eingerichtet war, hing gleich am
Eingang eine Häftlingsuniform, mit einem Schild im Halsausschnitt, auf dem »ICH
BIN WIEDER DA« stand, und das an die Gefangenen erinnerte, die versucht hatten
zu fliehen, wieder ergriffen und zurückgebracht worden waren, mit dem Schild um
den Hals auf dem Appellplatz stehen mußten und dann vor dem versammelten Lager,
langsam und methodisch, totgeschlagen wurden. Ich erinnere mich noch an den
Schrecken, den ich empfand ich glaubte, das Schild gälte auch mir: ich war
zurück aus meiner neuen, freien Heimat, wieder im Land meiner Geburt, umgeben
von dem erdrückenden Widerhall der langen und grausamen Unmenschlichkeit, und
vor meinen Augen sah ich das Schicksal von unzählig vielen Menschen, die genau
wie ich gewesen waren. Mir wurde jetzt klar, dass die Angst, die mir in die
Glieder gefahren war, als ich den SS-Mann und den Häftling in der Klinik sah,
eine genaue Vorhersage dessen gewesen war, was mir hätte geschehen können und
dass ich nicht wußte (und bis heute nicht weiß), warum es nicht auch mein
Schicksal wurde. Lange Zeit glaubte ich, dass ich durch meine (höchst
bescheidene) Teilnahme an der Befreiung Europas auch mitgeholfen hatte, das
weitere Leiden und Abschlachten in den Lagern zu beenden, und dass die Schuld,
die ich gegenüber den schon Vernichteten empfand, damit auch abgetragen war. Ich
kam aus dem Krieg zurück und lebte mein Leben.
Aber anscheinend sind nicht alle Schulden so leicht
abzutragen. Im Lauf der Jahre, und um so stärker, je älter ich wurde, glaubte
ich, einen Ruf zu den Lagern zu hören, nicht plötzlich und nicht eindeutig,
sondern aus subtilen, manchmal mehrdeutigen und immer unerwarteten
Mitteilungen bestehend, so, wie z. B. durch einen Vorfall vor ein paar Jahren:
Mein Sohn und ich waren zufällig zur gleichen Zeit aus unterschiedlichen
beruflichen Gründen in München, er zum ersten Mal. Danach wollten wir ein paar
Tage zusammen Ferien machen, »aber zuerst«, so sagte er, »zeig mir bitte das
Lager in Dachau«. So wie ich zieht auch er es vor, Besichtigungen ohne Führung
zu machen, deshalb gab es wenige Worte und Erklärungen, und erst als wir zum
Parkplatz zurückgingen, nahm er mich am Arm und sagte: »Da drinnen dachte ich,
dass ich Dich genau hier hätte verlieren können.«
Schließlich kam ich zu der Einsicht, dass jetzt, gegen Ende
meines Berufslebens als Photograph und kurz vor dem 50. Jahrestag der Befreiung
der letzten Lager im Frühjahr 1945, das Persönliche und das Berufliche in mir
zusammenkommen mußten wie nie zuvor, um in den Überresten der Lager von dem, was
es heute dort noch zu sehen und zu fühlen gibt, Bilder zu machen. Im Verlauf
früherer Europareisen hatte ich mehrmals in Lagern photographiert, doch dieses
Mal sollte es eine Reise nur zu diesem Zweck sein. Ich hatte keine Illusionen;
ich wußte, dass ich keine Fakten zu der schon bestehenden ausführlichen
Dokumentation über die Lager hinzufügen konnte und dass meine Photographien
keinen einzigen Menschen vom Totenreich zurückbringen oder das oft noch
andauernde körperliche oder seelische Leiden keines einzigen Überlebenden
lindern würden. Ich mußte einfach zu den Lagern, um eine Pflicht zu erfüllen,
die ich nicht in Worte fassen konnte, und um mit den Mitteln meines Berufs einen
verspäteten Liebesdienst zu erweisen.
Vorigen Winter besuchte ich dann die Stätten, von denen
viele in diesem Buch abgebildet sind. Das Wetter entsprach der Jahreszeit fast
immer bewölkt und naßkalt, häufig lag Schnee, und manchmal war es neblig. Die
Tage waren kurz, und oft war es schon mittags halbdunkel. In den meisten Lagern
war es unheimlich still manchmal nur hörte ich Hundegebell oder das Knirschen
meiner Schuhe auf der Erde, oft das Pochen des Pulsschlags in meinem Kopf. Es
war eine schweigsame Reise, sogar dann, wenn meine Frau dabei war; was gibt es
in den Lagern schon zueinander zu sagen? Nicht selten waren wir die einzigen
Besucher es war die Zeit der Feiertage und Schulferien.
Ich war überrascht von der Intensität, mit der nach so
vielen Jahren immer noch der Widerhall der dunklen und bitteren Vergangenheit
fühlbar war. In jedem der Lager wollte ich nichts so sehr, als sie wieder
möglichst schnell zu verlassen, und jeden Tag war ich dankbar dafür, dass ich
eine Kamera hatte, einen Apparat ohne eigene Gefühle, mit dem ich wenigstens
versuchen konnte, etwas davon auszudrücken, was mir in meinem Inneren vor Augen
stand. Ich bin überzeugt, dass ich keines der Lager überlebt hätte.
Die Reise dauerte etwas über acht Wochen. In Polen, wo wir
noch nie vorher waren, hatten wir eine Begleiterin, den Rest fuhren wir mit der
Bahn oder, wann immer es notwendig war, mit einem Mietwagen. Manchmal gab es
einen Ruhe- oder Aufräumtag, einmal feierten wir sogar an Sylvester, den wir
in der gemütlichen und ruhigen Bar unseres kleinen Hotels in Hamburg
verbrachten, zusammen mit zwei anderen Paaren, die vermutlich auch weit weg von
zu Hause waren, betreut von einem netten Barkeeper mit einem Vorrat an Sekt und
Berliner Krapfen. Im Hintergrund kam altmodische Musik leise aus einem
Lautsprecher. Es wurde wenig gesprochen, jeder hatte Respekt vor den privaten
Gedanken der anderen. Meine waren vorauszusehen den Weihnachtstag hatte ich in
der kalten und nebligen Gedenkstätte Buchenwald zugebracht, um dann bei Anbruch
der Dunkelheit in Richtung Bergen-Belsen weiterzufahren; in diesem Moment jedoch
befand ich mich in festlicher Umgebung, und ich war in lieber Begleitung. Am
übernächsten Tag sollten wir nach Polen fliegen, zu den Vernichtungslagern, die
die SS errichtet hatte: nicht nur, um Juden und Zigeuner und Homosexuelle und
andere Kriminelle zu vergasen, sondern auch, um später die Millionen
sowjetischer Kriegsgefangener zu töten, welche die Wehrmacht gefangenzunehmen
erwartete, und um danach die fruchtbaren polnischen und ukrainischen Ebenen
den Brotkorb Osteuropas von ihren Einwohnern zu reinigen und dort, nach
dem gewonnenen Krieg, deutsche Einwanderer anzusiedeln. Mir war es gleichzeitig
warm und kalt, ich fühlte mich gleichzeitig wohl und hatte Angst, es war eine
Atempause zwischen der Erinnerung an die vergangenen freudlosen Wochen und der
beunruhigenden Voraussicht auf die kommenden.
Wir waren einen Monat lang in Polen, und ich glaubte, an
den Tatorten der tiefsten Unmenschlichkeit der Nazis gestanden zu haben, aber
ich hatte mich geirrt. Kurz nach unserer Rückkehr wurden wir von einem Beispiel
ihrer vollen ungezügelten, unglaublichen Tötungswut geradezu überflutet, in
einer kleinen Gedenkstätte in Hamburg. Ruth Bains Hartmann, meine Frau, schrieb
in ihr Tagebuch:
Jedesmal, wenn man glaubt, in die entferntesten Tiefen der
menschlichen Grausamkeit geschaut zu haben, öffnet sich eine weitere Tiefe. Nach
all dem Fürchterlichen, nach all den Orten des menschlichen Leidens durch
Menschenhand, die ich erlebt hatte, wie konnte ich mir Schlimmeres vorstellen?
In einem Hamburger Industriegebiet, nicht weit von einem
der vielen Kanäle, die die Stadt durchziehen, befindet sich ein kleiner
Rosengarten. Er ist unregelmäßig angelegt, und ein Holzzaun trennt ihn auf einer
Seite von einer vielbefahrenen Straße, auf der anderen vom Spielplatz eines
Kindergartens, auf dem an einem Wintermorgen bunt gekleidete Kleinkinder
begeistert in kalten Pfützen spielten, bis eine Lehrerin sie zu weniger
gefährlichen Spielen veranlaßte.
Weiter hinten befindet sich der Spielplatz der
Bullenhuser-Damm-Schule, während der Nazizeit ein Außenlager von Neuengamme, dem
Konzentrationslager in der Nähe von Hamburg. Heute heißt sie »Janusz
Korzak-Schule«, benannt nach dem Leiter des Warschauer Waisenhauses, der
freiwillig seine Kinder in die Gaskammer von Treblinka begleitet hatte.
Ein paar
Tage vor Kriegsende brachte die SS zwanzig jüdische Kinder, zusammen mit zwei
französischen Ärzten und zwei Holländern, ihren Betreuern, alle KZ-Häftlinge. Im
November 1944 waren diese Kinder, zehn Jungen und zehn Mädchen (die Nazis waren
immer methodisch), alle zwischen fünf und zwölf Jahre alt, von Auschwitz nach
Neuengamme transportiert und für medizinische Experimente von dem SS-Arzt Kurt
Heißmeier benutzt worden. Er infizierte die Kinder mit dem TBC-Bazillus, der sie
sehr krank machte, dann wurden ihre Lymphdrüsen zur Analyse herausoperiert.
In der Nacht
des 20. April 1945 die britischen Truppen waren nicht weit von Hamburg
entfernt brachte die SS diese Kinder zusammen mit den vier Erwachsenen in den
Heizraum im Schulkeller und erhängte sie. Erhängte sie. Die jüngsten waren fünf
Jahre alt.
Millionen Menschen starben in Auschwitz. Man kann nicht
einmal versuchen, sich nur eine Million vorzustellen; die Wirklichkeit dieser
Millionen von gequälten Leben und fürchterlichen Morden kann man kaum erfassen.
Die Gräßlichkeit, zwanzig Kinder zu erhängen, kann man sich eindringlich
vorstellen. Einige dieser Kinder können nicht älter als drei Jahre gewesen sein,
als sie von ihrem Zuhause in Italien, Frankreich, Polen, Holland, Jugoslawien
gewaltsam weggerissen wurden, hunderte von Meilen in verschmutzten Waggons
transportiert wurden, von ihren Familien getrennt, methodisch und lange gequält
und dann vernichtet, in einem Keller aufgehängt. Das kann man sich vorstellen;
sie können für Millionen stehen:
-
Marek
James, sechs Jahre alt, aus Radom in Polen.
-
H.
Wassermann, ein achtjähriges Mädchen aus Polen.
-
Roman
Witonski, sechs Jahre alt, und seine fünf Jahre
-
alte
Schwester Eleonora, aus Radom in Polen.
-
R. Zeller,
ein zwölfjähriger Junge aus Polen.
-
Eduard
Hornemann, zwölf Jahre alt, und sein Bruder
-
Alexander,
neun Jahre alt, aus Eindhoven in Holland.
-
Riwka
Herszberg, ein siebenjähriges Mädchen aus
-
Zdunska in
Polen.
-
Georges
André Kohn, zwölf Jahre alt, aus Paris.
-
Jacqueline
Morgenstern, zwölf Jahre alt, aus Paris.
-
Ruchla
Zylberberg, ein achtjähriges Mädchen.
-
Edouard
Reichenbaum, zehn Jahre alt.
-
Mania
Altman, fünf Jahre alt, aus Radom in Polen.
-
Sergio de
Simone, sieben Jahre alt, aus Neapel.
-
Marek
Steinbaum, zehn Jahre alt.
-
W.
Junglieb, ein zwölfjähriger Junge.
-
S.
Goldinger, ein elfjähriges Mädchen.
-
Lelka
Birnbaum, ein zwölfjähriges Mädchen.
-
Lola
Kugerman, zwölf Jahre alt.
-
B. Mekler,
ein elfjähriges Mädchen.
Angesichts
der Abscheulichkeiten von Treblinka, von Sobibor und Belzec, von Dachau,
Birkenau, Kulmhof und all den andern, kann man Zorn, Wut, Trauer, Besorgnis,
Ekel und Angst um die Menschheit empfinden, doch im Rosengarten hinter der
Bullenhuser-Damm-Schule kann man nur weinen.
Die schwache Wintersonne schien auf das helle Grün der
ersten Blätter der Frühlingsblumen unter den schlafenden Rosenbüschen. Dann zog
eine schwarze Wolke heran und eiskalter Regen fiel auf den Garten hinab, wo ich
stand und die Namen an den Gedächtnistafeln las, die den Zaun entlang stehen.
So wie die Morde an diesen Kindern für die Morde an
Millionen stehen, so spricht die Tafel im Gedächtnisgarten für alle Orte des
Terrors und des Todes:
HIER STEHST DU
SCHWEIGEND
DOCH
WENN DU
DICH WENDEST
SCHWEIGE NICHT.
Es gibt
viele Anzeichen dafür, dass sich die Funktion und Bedeutung der noch bestehenden
Lager bald und vielleicht grundlegend ändern werden. Gegenwärtig dienen sie
hauptsächlich zur Dokumentation und zur Beschreibung dessen, was dort geschehen
ist und warum. Sogar das war schon von Anfang an schwierig genug, weil es den
Nazis nicht selten gelungen war, trotz ihres oft fluchtartigen Abzugs, alle
Beweise auszulöschen. Was man heute sieht, sind sorgfältige Dokumentationen; die
Überreste der Lager heute Gelände, Gebäude, Baracken, Objekte sind sauber,
während sie damals verschmutzt waren; jetzt ist es fast erschreckend ruhig,
statt des vielfältigen Lärms, der damals geherrscht haben muß das Gebrüll der
Aufseher, die Schreie der Gefangenen, das wütende Knurren der Hunde, das
Geräusch über den Boden schlürfender Füße, Schnarchen, Husten, Stöhnen. Heute
sind die Lager leer, damals waren sie oft überfüllt, und die Menschen waren oft
zusammengepfercht, es fehlte an Wasser, an Wärme, an Nahrung, an Hygiene. Bald
darauf voraussehbar und unaufhaltsam kamen Krankheiten und Epidemien.
Überlebende haben ausgesagt, dass das Fehlen jeglicher Privatsphäre einer der
schwersterträglichen Aspekte des Lagerlebens war. Heute ist man dort allein.
Die Zeit vergeht schnell und ist nicht aufzuhalten. Die
Anzahl der Überlebenden der Lager wird jeden Tag kleiner. Bald wird es niemanden
mehr geben weder Opfer noch Täter , der dort war. Physikalische Bestandteile
wie Gebäude und Gegenstände verfallen und müssen durch Rekonstruktionen ersetzt
werden. Die scheinbar endlosen Kilometer Stacheldraht werden heute schon alle
paar Jahre erneut gezogen. So ist es unvermeidlich, dass die Lager zu Museums-
und Schulzwecken umgestellt werden müssen. Das Areal vieler Lagerüberreste wird
verkleinert werden müssen kein Staat und keine Behörde stellt genug Geld zur
Aufrechterhaltung der Gelände zur Verfügung, Industrie und Wohnungspolitik
heischen nach mehr Boden. Photographien wie diese werden wahrscheinlich nicht
mehr lange möglich sein.
Auf dieser Reise wurde mir wieder einmal klar, dass sogar
nach den vielen Jahren seit der Befreiung der Konzentrationslager die
Nazivergangenheit immer noch nicht zur Ruhe gekommen ist. In Deutschland ist sie
fast fühlbar, der ungebetene und oft unerwartete Gast in vielen Bereichen des
öffentlichen und auch privaten Lebens. Die Erinnerung daran, was Deutsche taten
und die meisten Deutschen vorzogen, nicht zu bemerken, wirkt heute noch wie eine
offene Wunde, die nicht aufhört zu schmerzen und die nicht heilen will. In den
oft zufälligen und manchmal ernsten Unterhaltungen während meiner Reise wurde
ich meistens für einen Einheimischen gehalten, nach dem Zweck meiner Reise wurde
nicht gefragt, und von mir wurde er nur selten genannt. Die Vergangenheit kam
meistens und fast immer schnell zur Sprache, oft mit einer Heftigkeit, die
an Sucht erinnert man tut sein Bestes, gegen sie zu kämpfen, doch am Ende
siegt sie doch. Oft hörte ich Haß gegenüber dem Thema und Selbsthaß heraus
weil man nicht aufhören konnte, darüber zu sprechen.
Es hat mich nicht überrascht, dass in den Gesprächen kein
klarer Konsens darüber zu erkennen war, was mit der Nazivergangenheit geschehen
solle, aber in wenigstens einer Hinsicht schien es eine klare Scheidung zwischen
zwei Meinungen zu geben.
Viele Deutsche, vielleicht die meisten, glauben, dass es
weiterhin eine Pflicht gibt, sich daran zu erinnern, was in den Lagern geschehen
ist und warum es geschah und geschehen konnte, und sie glauben, dass Deutschland
eine noch nicht beendete Verantwortung dafür hat, dass Ähnliches nicht wieder
geschieht oder geschehen darf und kann.
Doch gibt es Deutsche, die anders denken. Die Überreste
der verbrannten sogenannten Judenbaracken in der Gedenkstätte Sachsenhausen
sind eines von vielen Beispielen, die man heute in Deutschland findet, an dem
eine ganz andere Sicht der Vergangenheit und eine ganz andere Botschaft für die
Zukunft unmißverständlich geäußert wird. Sie drückt sich besonders in den
Angriffen und Zerstörungen von Friedhöfen und Synagogen aus, in Bränden, die an
Läden und Wohnungen von Ausländern gelegt werden, mit dem einzigen Zweck, Haus
und Menschen zu verbrennen; es ist eine Botschaft, die man dieser Tage nicht
selten in Zeitungen und Büchern und in den Stellungnahmen radikaler Parteien und
von deren Politikern und in ihren Ansprachen liest und hört. Die Ausdrucksweisen
mögen sich unterscheiden, doch die Absicht ist immer dieselbe: Ihr Juden und all
ihr Einwanderer aus Osteuropa oder wo immer auch ihr hergekommen seid, ihr seid
nicht Deutsche, ihr seid hier nicht willkommen. Geht weg, und nehmt die
Erinnerung mit an das, was euch, wie ihr behauptet, hier geschehen ist. Wir
glauben es sowieso nicht, doch wenn es jemand getan hat, dann waren es unsere
Großeltern, nicht wir. Wir haben genug von dem Kainsmal, das ihr uns auf die
Stirn setzen wollt, wir haben die Bürde dieser Schuld lange genug getragen. Geht
weg.
Ich weiß nicht, welche dieser Botschaften Verantwortung
oder Verneinung in Deutschland siegen wird; viele Umstände und Faktoren tragen
zu dem Klima bei, in dem solche Entscheidungen stattfinden. Obwohl die von der
ehemaligen DDR-Regierung aufgestellten Denk- und Mahnmale meist der staatlichen
Propaganda dienen sollten, bleibt mir der Spruch, der auf mehreren steht, im
Gedächtnis und steht mir vor Augen: »MENSCHEN, SEID WACHSAM!« Davon spüre ich
heute in Deutschland nicht viel, nicht genug.
Es ist nicht nur ein deutsches Problem. Brutalität und die
Vernichtung von Unerwünschten aus politischen Gründen sind auch anderswo
geschehen und geschehen immer noch Beweise sind überall in der Welt zu sehen.
Die Idee der hochtechnologischen Menschenzerstörung, die von den Nazis mit
Riesenerfolg angewendet und ausgebaut wurde, lebt weiter.
In den Gaskammern ist die Unerbittlichkeit des Tötens und
der Vernichtung auf mich eingedrungen wie nie zuvor, mehr sogar als im Krieg.
Ich werde es nie vergessen können, es wird mich immer daran erinnern, was
Menschen imstande waren, Mitmenschen anzutun, wenn Gewissen und grundlegender
Respekt vor dem anderen von Wut und Leidenschaft verdrängt wurden und wie
leicht es jetzt ist für die wenigen, mit ungehemmter Machtlust den machtlosen
vielen ihre Freiheit und selbst das Leben zu nehmen. Niemand ohne Unterschied,
wer er ist oder wo er sich befindet ist vor diesen Gefahren sicher. Die Grenze
zwischen Gut und Böse ist schmal und ist oft kaum wahrzunehmen. Wer heute die
Peitsche in der Hand hat, kann morgen der Gepeitschte sein.
Was habe ich von den Überresten der Lager gelernt? dass es
nicht mehr möglich ist, nur für sich alleine zu denken und zu handeln.
Vielleicht mit Ausnahme von Träumen findet das Leben nicht mehr auf der Ebene
des einzelnen statt; es ist jetzt unwiderruflich komplex, und wir, wer immer wir
auch sein mögen, sind miteinander verbunden. Der Glaube, dass wir dies in der Tat
sind und danach handeln müssen dass »wir« lebenswichtiger ist als »ich« , ist
vielleicht der einzige Weg, um die Konzentrationslager auch innerlich
loszuwerden. Vielleicht wäre das auch ein besserer Beitrag zur Erinnerung an die
Opfer der Lager, als nur zu trauern oder zu schwören, dass es nie wieder
geschehen darf. Ich bin kein Optimist, doch glaube ich an die (zugegeben nicht
nahe) Möglichkeit, dass wir zusammen eine Zukunft schaffen können, in der
die Gaskammern auf immer leer stehen und schließlich zerfallen, ein Leben, in
dem Kinder, darunter meine Enkelkinder, nicht einmal wissen werden, was das ist.
New York, September 1994
Erich Hartmann
hagalil.com
29-04-2003 |