"So hör, ich hab für dich gelacht."
Ein Buch kommt in Deutschland an
Aus dem
Vorwort der Neuauflage des Gedichtbands "Ich bin in Sehnsucht
eingehüllt", eingeleitet von Jürgen Serke September 2005 (Quelle
selma.tv)
Heute gehört sie zum literarischen Dreigestirn der Stadt Czernowitz,
das die Namen Paul Celan, Rose Ausländer und Selma Meerbaum-Eisinger
trägt. Czernowitz war jene deutschsprachige Insel aus Zeiten der
Habsburgermonarchie, die durch den Vernichtungsfuror
Hitler-Deutschlands unterging.
Zu den Opfern des Holocaust gehörte
auch die 18jährige Selma Meerbaum-Eisinger. Und nichts deutete darauf
hin, dass sie mehr sein würde als eine Zahl in den Todeslisten der
Nazis. Doch zwei Freundinnen, die nach dem Zweiten Weltkrieg nach
Israel gelangten, wahrten Seimas Gesicht, bewahrten ihre Gedichte, die
sie gerettet hatten und in ihren Herzen verwahrten. Deutsch, die
Sprache der Mörder, war lange Zeit in Israel eine tabuisierte Sprache.
An eine Veröffentlichung der deutschen Gedichte von Selma
Meerbaum-Eisinger war vorerst in Israel nicht zu denken.
Von Bukarest gelangt 1968 ein Gedicht Selma Meerbaum-Eisingers nach
Ostberlin in die von Heinz Seydel herausgegebene Anthologie »Welch
Wort in die Kälte gerufen«. Israel Chalfen, der Autor einer Biographie
über Paul Celans Jugend, berichtet: »Paul Celan hat dem Abdruck seiner
>Todesfuge< in diesem Band vor allem deshalb zugestimmt, um damit
seiner Verwandten Selma Meerbaum ein Denkmal zu setzen.« In Israel
liest Selma Meerbaum- Eisingers einstiger Klassenlehrer Hersch Segal
das »Poem« in der DDR-Anthologie, sucht nach den Freundinnen des toten
Mädchens und findet sie im Lande.
Auf eigene Kosten einen Verlag
findet er nicht druckt er 1976 sämtliche Gedichte in einer Auflage
von 400 Exemplaren. Ein Privatdruck. Ein weiterer Versuch mit Selma Meerbaum-Eisinger 1979 bleibt im universitären Bereich. Der Band
erscheint im Verlag der Tel Aviv University. Hilde Domin drückt mir
bei einem Besuch in Heidelberg den von Hersch Segal herausgegebenen
Privatdruck in die Hand und sagt: »Lies mal!«
Ich mache mich auf den
Weg nach Israel und schreibe für den Stern am 8. Mai 1980 »Die
Geschichte einer Entdeckung«, die am Ende dieses Buches abgedruckt
ist (Anm. folgt später). Der Hoffmann und Campe Verlag bringt die Gedichte noch im Herbst
1980 heraus.
Ein Buch kommt in Deutschland an. Die Resonanz der Medien ist groß.
Das Buch geht in die zweite Auflage und ins Taschenbuch von S.
Fischer, wo es weitere 14 Auflagen erlebt. Der Erfolg von 1980 ist
nicht zu denken ohne meine Stern-Serie »Die verbrannten Dichter« im
Jahre 1976 und das gleichnamige Buch ein Jahr später, das der
Wiederentdeckung der von den Nazis verfolgten deutschen Literatur den
Boden bereitete. Die Serie im Stern war, wie ich im Editorial schrieb,
»als Aufwiegelung der Leser gegen die Verleger« gedacht, »die Werke
der zu Unrecht Vergessenen endlich wieder zu veröffentlichen«. Noch
nie hatte sich ein Massenmedium in der Bundesrepublik so intensiv
dieses Themas angenommen.
Die Reaktion der Leser war überwältigend:
Zustimmende, ja euphorische Leserbriefe kamen waschkörbeweise in der
Redaktion an. Die Verlage druckten die Originalwerke der »verbrannten
Dichter« neu.
Selma Meerbaum-Eisinger und ihre Gedichte waren die
Fortsetzung dieser Erfolgsgeschichte. Ein Vierteljahrhundert blieben
sie wie auch die »Verbrannten Dichter« ununterbrochen im Handel. Ihre
Gedichte wurden auf unzähligen Literaturveranstaltungen rezitiert. Sie
wurden mehrfach vertont. Als erste sang sie die Berlinerin Ana Fonell
1985 in der musikalischen Interpretation von Johannes Conen. Ihr
Gesang kam auf einer Schallplatte heraus.
In der DDR wurden einige Gedichte Selma Meerbaum-Eisingers 1981 in der
berühmten Gedichtreihe »Poesiealbum« gedruckt. 1986 erschien der
Gedichtband in Japan und erlebte 1999 eine zweite Auflage. In
russischer Übersetzung und im deutschen Original erschien 2000 eine
Privatausgabe in Kiew. 2006 erscheint das Buch in holländischer
Übersetzung. Drei Theaterstücke wurden über Selma Meerbaum-Eisinger
geschrieben. Sie wurden in Wilhelmshaven, Frankfurt/Main und zuletzt
2001 im Stadttheater Fürth uraufgeführt. Bei Lesungen, die die
Verfolgung von Dichtern zum Thema haben, gehören ihre Gedichte längst
zum Repertoire. Aus Anthologien ist ihr Name nicht mehr wegzudenken.
Ulla Hahn hat sie beispielsweise in das Reclam-Buch »Stechäpfel.
Gedichte von Frauen aus drei Jahrtausenden« aufgenommen. Auch die
Lexika haben Selma Meerbaum-Eisinger inzwischen verzeichnet. Nicht
zuletzt setzen die Schulbuchverlage Gedichte von Selma
Meerbaum-Eisinger ein. Die Palette reicht vom Buch für Deutschlernende
bei EF International Language Schools B.V. bis zu Schöninghs
»Blickfeld Deutsch«.
Als ich mich vor einem Vierteljahrhundert auf die Recherche-Reise nach
Israel machte, um die Lebensdaten und Lebensstationen bei den dort
lebenden Czernowitzern zusammenzutragen, schickten sie mich von
Wohnung zu Wohnung, von Ort zu Ort, als ob ich nur, wie man unter
ihnen sagte, zum »Butterbrot« kommen sollte. Die Sehnsucht nach dem
Geburtsort Czernowitz war geblieben. Irgendwie waren sie alle einsam
und suchten in mir das vertraute europäische Fluidum. Eine merkwürdige
Situation.
Im Herbst 2005 habe ich nach Israel zurückgebracht, was ich an
Materialien Erstausgaben, Widmungsexemplare, Briefe, Dokumente,
Manuskripte und Fotos zusammengetragen hatte, um meine Bücher über
Verfolgung und Exil schreiben zu können. Die Ausstellung trug den
Titel »Liebes- und Musengeschichten. Das fragile Glück im Unglück von
Verfolgung und Exil«. Eine der Vitrinen war dem Leben und Werk Selma
Meerbaum-Eisingers gewidmet. Andreas Wilink schrieb in der
Süddeutschen Zeitung über die Ausstellung, die bereits in Solingen,
Berlin, Breslau und Prag gezeigt wurde: »Abbrechende Linien bei Selma
Meerbaum-Eisinger, die keine 18 ist, als sie in einem SS-Arbeitslager
umkommt und deren berühmtes Gedicht >Tragik< wie ein Testament klingt.
Wurden sie und die anderen nicht zweimal getötet? Auf den physischen
Tod folgte das Verlöschen der Erinnerung an sie und ihr Werk. Die
Liebe als Aufschub ihrer Fahrt in den Tod verhilft ihnen zum
Weiterleben.«
Ein Vierteljahrhundert nach der ersten Ausgabe von Selma Meerbaum-Eisingers Gedichtband »Ich bin in Sehnsucht eingehüllt.
Gedichte eines jüdischen Mädchens an seinen Freund« in Deutschland
liegt nun diese Jubiläumsausgabe vor mit dem Blumenbild des Albums, in
das Selma ihre Gedichte schrieb. Außerdem bietet Hoffmann und Campe
ein
Hörbuch an, auf dem Iris Berben die Gedichte Selma
Meerbaum-Eisingers liest.
»The World Quintet«, eine Gruppe Schweizer
Juden, hatte bereits 2003 mit einer CD Aufsehen erregt, auf der
zwischen Instrumentalstücken Herbert Grönemeyer ein von David Klein
vertontes Selma-Gedicht (»Trauer«) sang. Nun liegen unter dem Titel
»In Sehnsucht eingehüllt« zwölf weitere vertonte Gedichte Selma Meerbaum-Eisingers auf einer neuen CD vor. Es singen: Sarah Connor,
Xavier Naidoo, Yvonne Catterfeld, Volkan Baydar, Joy Denalane,
Reinhard Mey, Inga Humpe, Hartmut Engler, Thomas D., Stefanie Kloss,
Jasmin Tabatabai und Ute Lemper. »Ich träume, atme, lebe, singe mit
Selma«, sagt David Klein, Jahrgang 1961, der Schlagzeuger des
Quintetts. Und er sagt auch: »Wir vergessen nicht Seimas
Lebensbedrohung. Aber wir sehen sie in unseren musikalischen
Interpretationen als eine junge Frau, die ihre Liebe so intensiv lebt,
wie es heute die jungen Menschen auch tun. Sie gehört ihnen.«
Heute lebt Selma Meerbaum-Eisinger nicht nur in ihren Gedichten fort
der »Selma Meerbaum-Eisinger Fonds«, den ihre Erben an der Universität
Tel Aviv einrichteten und in den alle Einnahmen aus Rechten und
Tantiemen fließen, unterstützt bedürftige jüdische Studenten.
Jürgen Serke, September 2005
Renée Abramovici:
"Mit Selmas Gedichten habe ich die Heimat herumgetragen
und hierher
gebracht".
haGalil onLine 27-01-2006
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