Zum Schicksal eines hannoverschen
jüdischen Rechtsanwalts:
Dr. Horst-Egon
Berkowitz und seine Familie
Von Heide Kramer
Meine heute fast
94jährige Mutter erinnert sich sehr gut an die jüdische Familie Berkowitz, die
aus Königsberg stammte und in Hannover ansässig geworden war.
Mein Großvater, ein
Geschäftsmann, kontaktierte häufig mit dem in unmittelbarer Nachbarschaft im
Zooviertel von Hannover lebenden und wirkenden Rechtsanwalt Dr. Horst-Egon
Berkowitz. Man kannte sich gut und schätzte einander. Mein Großvater hatte
einen ausgedehnten jüdischen Kundenkreis.
Familie Berkowitz
Horst-Egon Berkowitz
wurde am 16. Januar 1889 als zweitjüngster Sohn eines jüdischen Kaufmanns in
Königsberg geboren. 1902 zog die Familie mit ihren vier Kindern nach Hannover.
Im Alter von erst 16
Jahren meldete sich Horst-Egon Berkowitz 1914 als Freiwilliger an die
Front. Eine Granate verletzte ihn schwer. Er verlor er ein Auge, fast das ganze
Gehör, eine halbe Hand und einen Teil seines Gehirns. Doch er überlebte, blieb
aber für immer entstellt. Die gravierenden Kriegsverletzungen machten stets
erneute schwere Operationen unumgänglich, was sich zeitlebens auswirkte.
Horst Berkowitz
studierte Jura, promovierte mit 21 Jahren und legte bereits mit 22 Jahren das
Zweite Staatsexamen ab. Bis zur Machtübernahme Hitlers im Jahre 1933 arbeitete
Dr. Berkowitz in Hannover als Rechtsanwalt und Notar. Im November 1938
verschleppten ihn die Faschisten unmittelbar aus seiner Wohnung in
das Konzentrationslager Buchenwald. Dass er dort bald wieder entlassen wurde,
verdankte er seinem Goldenen Verwundetenabzeichen aus dem Ersten Weltkrieg. Nach
seiner Haftentlassung musste er ab 1940 im Konzentrationslager Ahlem bei
Hannover Arbeitsdienst leisten. Er konnte lediglich nebenbei sein Büro als
degradierter "Jüdischer Konsulent" fortführen und für Juden als Rechtsberater
tätig sein. Dr. Berkowitz blieb bis zum Kriegsende dem Konzentrationslager Ahlem
zugeteilt. Aber er emigrierte nicht und wohnte weiterhin in Hannover. Er
überstand die Gräuel.
Trotz der erlittenen
schweren Schicksalsschläge nahm Dr. Horst Berkowitz nach 1945 seine
Anwalttätigkeit wieder auf. Fortan setzte er sich für besonders finanzschwache
Mitbürger ein. Er gewann durch dieses Engagement, seinen klaren Rechtsgeist und
seine humane konziliante Charakterhaltung schließlich den Ruf als "Anwalt der
Bedrängten“.
Als eine stadtbekannte
Persönlichkeit starb Dr. Horst-Egon Berkowitz 1983 in Hannover und wurde auf dem
jüdischen Friedhof Hannover-Bothfeld beigesetzt. Bis zuletzt lebte er mit seiner
sechs Jahre älteren Schwester zusammen. Nach dem Tod ihres Bruders verließ sie
Hannover und siedelte nach London über.
Dr. Berkowitz hatte ein
Merkmal: Die lederne Motorradkappe, die er ständig trug, um seinen Kopf wegen
der schweren Verletzungen vor Witterungseinflüssen zu schützen.
Der ältere Bruder
Harald realisierte seinen Wunsch und studierte Medizin. Unter großen
Schwierigkeiten und Lebensgefahr gelang ihm nach der Reichspogromnacht im
November 1938 die Emigration nach England. Wegen eines fehlenden englischen
Examens durfte er jedoch nach 1945 in England nicht weiter als Arzt arbeiten. Er
übersiedelte nach Indien und praktizierte in Kaschmir. Dr. Harald Berkowitz
starb 1952 an den Folgen von Röntgenverbrennungen. Er erwarb bereits in Hannover
sowie später im Ausland den Ruf eines außerordentlich fähigen, hoch geschätzten
und besonders sozial eingestellten Facharztes.
Der jüngste Bruder
Gerhard wandte sich nach einem misslungenen Chemiestudium der Musik zu. Weil er
Jude war, verlor er ab 1933 die Tätigkeit als Korrepetitor am Opernhaus
Hannover. Seine jüdische Ehefrau Else erlitt ein ähnliches Schicksal: Die
Opernsängerin musste ihre Karriere aufgeben.
Ein Apfel für Birgit Berkowitz
Es
muss um 1940 gewesen sein. Meine damals im elterlichen Haushalt lebende Mutter
hatte soeben in einem Lebensmittelgeschäft nahe ihres Elternhauses eine Tüte
Äpfel erstanden, eine Rarität in jenen Zeiten und außerdem nur durch
Lebensmittelmarken zu erwerben. Nachdem sie mit der Kostbarkeit den Laden
verließ, traf sie auf der Straße Frau Else Berkowitz mit ihrer kleinen etwa
dreijährigen Tochter Birgit, die sehnsüchtig auf die Äpfel schaute. Frau
Berkowitz reagierte plötzlich und hauchte meiner Mutter im Vorübergehen zu:
"Ach, bitte, nur einen Apfel für das Kind". ---Meine Mutter wollte der Frau
spontan die Tüte geben mit dem Bemerken, nur ein Apfel sei doch zuwenig, sie
könne gern die ganze Tüte für die Kleine nehmen. Worauf die Frau entsetzlich
erschrak, abwehrend reagierte und erwiderte, um Gotteswillen, nein, ein Apfel
reiche wirklich aus.
Meine
Mutter kannte auch die Schwägerin des Dr. Horst Berkowitz durch die väterlichen
Geschäftsverbindungen, warum sollte sie seiner Nichte nicht wenigstens einen
Apfel schenken? So gab meine Mutter die Tüte weiter an die kleine Birgit, die
sofort gierig hinein griff.
Birgit
habe große schwarze Augen und lange dunkle Locken gehabt, aber Frau Else
Berkowitz färbte damals ihre Haare blond, dieses sei ein krasser Gegensatz zu
ihren dunklen Augen und daher sehr auffällig gewesen, so erinnert sich meine
Mutter.
Noch
am selben Nachmittag des Geschehens suchte ein zuständiger Blockwart der NSDAP
die Wohnung meiner Mutter auf. Ein Nachbar wollte beobachtet haben, dass sie
öffentlich einem jüdischen Kind einen Apfel geschenkt hatte und sofort
denunziert. Da dieser Nachbar jedoch keine weiteren Zeugen nennen konnte,
verhielt sich der Blockwart human. Er hätte den "Vorfall" ansonsten melden
müssen. So blieb es lediglich bei einer Verwarnung.
Judenhaus,
Deportation und Vernichtung
Als im
ersten Kriegsjahr verschiedene Häuser in Hannover den Bomben zum Opfer gefallen
waren, hatten die Juden ihre Wohnungen zu räumen und in Judenhäuser
überzusiedeln. Die Gedemütigten lebten dort eng zusammengepfercht und
menschenunwürdig bis zu ihrer Überstellung in unterschiedliche
Konzentrationslager.
Meine
Mutter weiß noch, dass Gerhard Berkowitz mit seiner Frau Else, der am 1. Oktober
1937 geborenen Tochter Birgit und seiner Mutter Esther in das "Judenhaus"
Ellernstraße 16 (Israelitisches Krankenhaus) einziehen musste. Im Sommer 1941
erfolgte die Deportation der Mutter Esther nach Theresienstadt, bereits im
Dezember traf die Todesnachricht ein. Der Vater starb noch kurz vor der
Verschleppung nach Theresienstadt.
Die
Nazi-Schergen holten die Familie Berkowitz am 15. Dezember 1941 mit zahlreichen
anderen Unglücklichen von der Ellernstraße 16 ab. Die Menschen, darunter
befanden sich außer Birgit noch weitere Kinder, wurden von der Sammelstelle
Hannover-Ahlem aus nach Hannover-Linden zum Bahnhof Fischerhof gebracht. Diesen
ersten Transport in das Ghetto Riga führte die Deutsche Reichsbahn
durch. Bevor Else Berkowitz mit ihrer Tochter Birgit den Weg in die Gaskammern
von Auschwitz ging, konnte sie gemeinsam mit ihrem Mann Gerhard im Ghetto Riga
noch einige öffentliche musikalische Veranstaltungen arrangieren.
Gerhard Berkowitz verblieb zunächst in Riga. Er war unter den letzten
Insassen dieses Ghettos, die kurz vor dem Eintreffen der Roten Armee zu einem
Transport nach Tallinn zusammengefasst wurden. Die Häftlinge starben unterwegs.
Am 18. September 2013 erfolgte durch den
Künstler Gunter Demnig die Stolpersteinverlegung für die Familie Berkowitz in
Hannover, Erwinstr. 3 (Zooviertel).
Fotos: © Heide Kramer, Hannover, 20.
Oktober 2013.
©Textbeitrag: Heide Kramer, Hannover, März 2007
Quellen:
© Meine Mutter Hildegard Kramer, Hannover.
© Prof. Dr. Ulrich Beer: "Dr.
Horst Berkowitz. Ein jüdisches Anwaltsleben".
©Deutsch-Israelische Gesellschaft Hannover sowie Mahn- und Gedenkstätte
Hannover-Ahlem (Auszug aus den veröffentlichten namentlich geführten
Deportationslisten).
Aktualisiert: Oktober 2013.
Frau Hildegard Kramer, geb. am 24. April 1913,
ist im August 2016 verstorben.
hagalil.com 13-03-2007
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