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Die Flucht von Deutschland nach Palästina (Eretz Israel) über Jugoslawien:
Ich wurde von Recha Freier gerettet

Von Kalman Givon (Karl Kleinberger)
givon-k@zahav.net.il

Hiermit möchte ich ein Kapitel von meiner Lebensgeschichte und zwar die Flucht aus Nazi Deutschland dokumentieren. Für die, die den Namen 'Recha Freier' noch nicht gehört haben: Recha hat Tausende Kinder aus Nazideutschland gerettet. Unter diesen Kinder war auch ich.

Die Jugend – Aliya (Jugend-Einwanderung) wurde in 1932 von Recha Freier gegründet. Es war ihr bewusst, dass es keine Zukunft für die jüdische Jugend in Deutschland gibt. Die ersten Kinder wurden schon in 1932 in das Jugenddorf Ben-Schemen mit Hilfe von Siegfried Lehman, dem Leiter des Dorfes, nach Eretz Israel geschickt. Nachdem die Jewish Agency ein Amt für Jugend Aliya in Jerusalem gegründet hatte, wurde Herietta Szold 1933 zur Leiterin der "Aliyat Hanoar" ernannt. Ich gehörte zum letzten Kindertransport, der Deutschland verließ.

Ich wurde 1924 in Frankfurt geboren. Meine Mutter starb als ich 4½ Jahre alt war und mein Vater musste schon sehr früh aus politischen Gründen ins Ausland fliehen. Meine beiden Geschwister kamen ins Frankfurter Israelitische Waisenhaus, ich wurde von der Familie meines Großonkels aufgenommen und später adoptiert. Diese Familie und ich wurden 1938 von den Deutschen nach Polen abgeschoben. Es wurden damals 17.000 Menschen polnischer Abstammung oder Staatenlose an die polnische Grenze deportiert. Bis heute ist es mir unverständlich, wieso meine Familie nach Polen kam, während ich auf der deutschen Seite blieb, nachdem die Polen die Grenzen geschlossen hatten. Ich, und ein großer Teil der anderen Deportierten, blieben also in Deutschland zurück. Nach einigen Tage eingeschlossen in einer Synagoge in Beuten an der polnischen Grenze, wurden die Menschen wieder in ihre Städte transportiert. Ich kehrte nach Frankfurt zurück und wandte mich an das Israelitische Waisenhaus, wo auch meine Zwillingsschwester und mein älterer Bruder waren. Das Waisenhaus war eine sehr berühmte, streng religiöse Anstalt und wurde von dem Ehepaar Marx geleitet. Diese Anstalt war unter Hitler ein Flüchtlingsheim für Kinder, deren Väter von den Nazis in Konzentrationslagern interniert wurden. Damals hatten die Nazis das Waisenhaus noch nicht angerührt.

Ende 1940 erfuhr ich, dass es für Waisenkinder polnischer Herkunft eine Möglichkeit gäbe, nach Jugoslawien illegal zu flüchten. Da meine Mutter verstorben und mein Vater im Ausland war, galt auch ich als Waisenkind.

Als die Nazis an die Macht kamen, bekam die Initiative der Recha Freier weitere Unterstützung. Recha gründete wie gesagt die Jugend Aliyah 1932 in Berlin. Diese Organisation war später Hilfsmittel für die Jugend Immigrationen nach Eretz Israel oder nach Amerika. Zu dieser Zeit, 1940, hörte ich zum ersten Mal den Namen Recha Freier. Man teilte mir mit, dass Recha Freier einen Transport nach Jugoslawien organisiere, und wir sollten uns bei der jüdischen Gemeinde in Frankfurt anmelden. Zwei Tage später waren wir schon im Zug nach Wien. Die Gruppe aus Frankfurt zählte 16 Kinder im Alter von 12 bis 16 Jahren. Die weitere Reise über die Grenze nach Jugoslawien wurde vom Wiener Palästinaamt organisiert.100 Kinder aus 4 Städten, Berlin, Leipzig, Frankfurt und Wien, kamen in verschiedenen Gruppen nach Zagreb. Von Wien wurden wir nach Graz geschickt, wo uns ein Nazi namens Schleich, der wahrscheinlich vom Palästinaamt Berlin bezahlt wurde, empfing.

Nach ein paar Tagen wurden wir mit einem "Schmuggler" zur jugoslawischen Grenze weiter geschickt. "Schmuggler" waren bezahlte Leute, welche die Flüchtlinge, zum größten Teil Juden, illegal über die jugoslawische Grenze brachten. Unsere Gruppe wurde an der Grenze erwischt und die jugoslawische Grenzpolizei nahm uns in Haft.

Nach einigen Tage ohne Essen waren wir sehr schwach. Nach einem nächtlichen Verhör bekamen wir etwas warmes zu trinken und wurden wieder zurück an die Grenze gebracht und dort den Deutschen übergeben, die uns wieder nach Graz brachten. Wir verweilten ein paar Tage in einer Scheune bei dem Nazi Schleich bis ein anderer "Schmuggler" kam und uns wieder zur Grenze führte. Wir erfuhren, dass der erste "Schmuggler" erschossen wurde. Einige Tage gingen wir zu Fuß, fast ohne Essen und Trinken. An der Grenze in Mariburg führte uns der "Schmuggler" in ein Bauernhaus, wo wir zu essen bekamen, hauptsächlich Schinken.

Mit mir waren noch einige religiöse Kinder. Alle, außer einem, haben das Schweinefleisch verspeist, doch noch lange danach hatten wir deswegen ein sehr schlechtes Gewissen. Wir wurden nun auf einem anderen Wege geführt. Nach einigen Tagen kamen wir in einen Wald und auf einem Berg verließ uns der "Schmuggler". Unten sahen wir eine Autostrasse. Nach einigen Stunden kamen zwei Autos, um uns mitzunehmen. Wir waren 16 Kinder, die sich allesamt in diese 2 Fahrzeuge hineinquetschten. Es war nicht sehr bequem, aber es ging irgendwie. Ich weiß nicht mehr genau, wie lange wir fuhren, aber mit Anbruch der Dunkelheit kamen wir in Zagreb an, wo uns jemand erwartete. Ich glaube, es war Armand Moreno von der dortigen Gemeinde.

Armand Moreno lebt heut in Kalifornien, ist Professor und immer noch sehr rüstig. Er war damals einer der drei "Madrichim" (Jugendführer), die die jüdische Gemeinde Zagreb uns, den "Zagreb Kindern", zugeteilt hatte. Diese drei Madrichim waren: Joschko Indik, Zahava ? , und Armand Moreno. Joschko kam nach dem Krieg nach Israel und war in einem Kibbutz, wo er vor einigen Jahren verstarb. Er war der Autor des Buches "Villa Emma", in dem er die Rettung von 50 Kindern beschrieb, welche er während des Krieges von Jugoslawien nach Italien (in die Villa Emma) begleitet und behütet hatte.

In Zagreb wurden wir bei verschiedenen jüdischen Familien untergebracht. Ich kam zu einer Familie Lachman, die schon mal in Israel gewesen war und die etwas Hebräisch sprach. Später traf ich die Familie in Kiryat Bialik wieder, wo sie eine Leihbibliothek eröffneten. Da auch ich in Kiryat Bialik (ein Vorort von Haifa) wohnte, trafen wir uns wieder. Ihr Sohn wohnt jetzt in Haifa und seine Mutter, die über 90 ist, lebt auch noch dort.

Wir blieben einige Monate in Zagreb, mit Recha und ihrer Tochter Maayan. 100 Kinder kamen nach Zagreb und jedes von ihnen hat seine persönlichen Geschichte.


Ende November 1940 Ankunft in Zagreb
Kalman Givon - Karl Kleinberger

Die jüdische Gemeinde in Zagreb gründete für uns einen Klub, in dem alle Aktivitäten organisiert wurden. Vorträge von Abgesandten aus Eretz Israel, Sport und Hebräisch-Unterricht. Wir konnten dort auch essen und bekamen meistens Frühstück und Abendbrot. Die Gemeinde sorgte dafür, dass wir mittags bei jüdischen Familien warmes Essen bekamen. Ich ging jeden Mittag mit noch einem 12-jährigen Kind zu einer orthodoxen Familie zum Essen. Es war die Familie Knacker aus Ungarn. Der Hausherr liebte jiddische Lieder und spielte jeden Mittag beim Essen die gleiche Schallplatte. Bis heute kann ich die Worte dieses Liedes auswendig. Am Samstag Abend gingen wir in die Synagoge zu "Schalschiles", die dritte Mahlzeit vor dem Ausgang des Sabbat. Dies war für uns ein Festessen.

Recha war immer mit uns zusammen, so dass wir über alle unsere Probleme mit ihr sprechen konnten. Sie war für uns Kinder eine feste Stütze und gab uns Hoffnung.

Eines Tages war im Hause Lachman eine gewisse Unruhe: Frau Lachmans Handtasche war verschwunden und der Verdacht fiel auf mich. Ich war sehr betroffen, beteuerte meine Unschuld und betonte, wie dankbar ich der Familie dafür war, dass sie mich als Flüchtling aufgenommen hatte. Ich war jedoch zutiefst verletzt und wollte nicht länger dort wohnen. Die "Madricha" Sahava sorgte dafür, dass für mich und noch zwei "Zagreb Kinder" eine andere Unterkunft gefunden wurde, und so zogen wir drei in ein gemietetes Zimmer. Später erfuhr ich, dass die Putzfrau der Familie die Handtasche gestohlen hatte.

Noch in Deutschland hatte ich die Möglichkeit gehabt, in einer Anlernwerkstätte Tischlerei zu lernen, was mir den Anlass gab in diesem Bereich Arbeit zu suchen. So fand ich mit Sahavas Hilfe einen jüdischen Tischler in Zagreb, der mich anstellte. Die Arbeit war einfach: er fabrizierte Kästen für elektrische Strominstallationen in Privathäusern. Jeden Tag gab er mir einige Dinars, damit ich mir ein Brötchen kaufen könne. Da ich aber Erdnüsse so gerne aß, kaufte ich mir öfters "za tri Dinara Kikiriki" – für drei Dinar Erdnüsse.

Von einem Herrn Stein, den ich später in Kiryat Motzkin wieder traf, wurde uns damals Kleidung zugeteilt.

Inzwischen kamen Gerüchte über den Verlauf des Krieges auf, und wir hörten, dass die Deutschen sich Jugoslawien näherten. Natürlich fürchteten wir, wieder in deutsche Hände zu fallen und Recha Freier gelang es, mit Hilfe ihrer Organisation unsere ganze Gruppe per Zug von Zagreb nach Belgrad zu bringen. Die Kroaten sympathisierten mit den Deutschen, während die Serben in Belgrad gegen sie eingestellt waren. Nach Belgrad begleitete uns der Gruppenführer (Madrich) Armand Moreno. Er brachte uns dort zur jüdischen Gemeinde, die uns für einige Tage aufnahm. Wir wurden gewarnt, keinesfalls deutsch auf der Strasse zu sprechen.

Damals hörten wir, dass die Deutschen inzwischen tatsächlich in Zagreb einmarschiert waren.

Kurz darauf gelang es uns Belgrad mit dem letzten Zug in Richtung Griechenland und die Türkei zu verlassen. Der Zug war verriegelt, so dass es unmöglich war, an den Stationen aus- und einzusteigen. Unser Lebensmittelvorrat war sehr gering und mein Freund Ossi Deutscher und ich waren für die Einteilung verantwortlich.

Der Zug hielt einige Male unterwegs an, wahrscheinlich wegen deutscher Luftangriffe. In Istanbul angekommen, fuhren wir auf Booten über den Bosperus zur asiatischen Seite. Es wurde uns erzählt, dass ein reicher Jude uns dort in einem Hotel unterbringen würde.

Nach einigen Tagen, die wir mit Besichtigung der Stadt verbrachten, ging es weiter per Bahn nach Syrien und Eretz Israel – damals Palästina genannt. In Aleppo – Syrien – hielt der Zug. Genau kann ich mich nicht erinnern, aber mir scheint als wären Mitglieder der dortigen jüdischen Gemeinde zum Zug gekommen und hätten uns Essen und Geschenke gebracht. Einen Tag vor Pessach kamen wir in Beirut an. Auch hier wurden wir ins Gemeindehaus gebracht und es wurde ein gemeinsamer Sederabend für die Gruppe organisiert, den wir nie vergessen werden. Pessach wird auch das Fest der Freiheit genannt.

In Eretz Israel

Mit der Ankunft in Eretz Israel am 17.4.1941 und nach einer kurzen Untersuchungshaft bei den Engländern in Atlit schloss ich mich meiner Gruppe in Kfar Hanoar Hadati an. Dieses religiöse Kinderheim lag in der Nähe von Haifa. Als junger Mann von 17 Jahren und als Flüchtling aus Deutschland empfand ich es als meine Pflicht, mich zum Militär zu melden, um gegen die Nazis zu kämpfen. Da ich noch keine 18 Jahre alt war, benötigte ich dafür die Unterschrift der Eltern oder der Leiterin der Jugendaliyah, Frau Henrietta Szold, die in Jerusalem ihr Amt hatte.

Die Leitung des Kinderheims, in dem ich verweilte, war gegen meine Pläne, aber mich und zwei meiner Freunde, auch "Zagreb Kinder", trieb es dermaßen zum Militär, dass ich mich entschloss nach Jerusalem zu Henrietta Szold zu fahren. Selbstverständlich fuhr ich per Anhalter, da ich ja kein Geld besaß. Hans Beyt, Frau Szolds Sekretär, öffnete mir die Tür ihres Büros, verweigerte mir jedoch den Eintritt. Frau Szold sah mich an der Tür stehen und sagte: "lass ihn reinkommen". Sie muss wohl Mitleid mit mir gehabt haben. Ich erklärte ihr, dass es meine Pflicht sei, gegen die Nazis zu kämpfen und dass sie wohl junge Menschen nicht verstehen könne. Mit unendlicher Geduld erklärte sie mir, dass sie zwar viel älter als ich sei, aber dadurch auch mehr Erfahrung im Leben hätte, und mir deswegen rate, zuerst meine Ausbildung zu vollenden und erst dann weitere Entschlüsse zu fassen. Als ich ihr Büro verließ fragte sie mich, wie ich nach Jerusalem gekommen sei, und ich erzählte es ihr. Sofort sagte sie Ihrem Sekretär, er solle mir ein halbes Pfund geben, damit ich per Autobus zurück fahren könne. Ich fuhr nach Kfar Hanoar Hadati per Anhalter und sparte das Geld.

Das Treffen mit Frau Szold war also, meiner Meinung nach, erfolglos, und ich beschloss das Lernen im Kinderheim aufzugeben. Ich fand Arbeit bei einem Tischler in Kfar Chasidim, ein Ort ganz in der Nähe. Die Leitung des Heimes hatte es nun satt mit mir und meinen 2 Freunden und gab ihre Zustimmung dazu, dass wir uns zum Militär melden. Wie gesagt, waren wir drei "Zagreb Kinder". Vier Jahre diente ich im britischen Militär, zum größten Teil in Ägypten, Nord Afrika, Syrien und Libanon. Wir dienten in einer "Royal Engineer" Einheit (870 mechanical equipment co), wo ich meinen späteren Beruf erwarb.

Recha Freier verdanken wir unser Leben Sie rettete uns und ermöglichte es uns somit, heute unsere Lebensgeschichte zu erzählen. Wir werden ihr ewig dankbar sein.


Die drei Musketiere
Von links: Asher Deutscher, Jizchak Zwick, Kalman Givon (Karl Kleinberger)

Zum Weiterlesen:

Recha Freier
oder der Traum 10.000 Kinder zu retten


70 Jahre Jugendalijah:
Als Pionier in Palästina


Alijath haNoar:
Recha Freier und Testimonium

Spontane Hilfe:
Villa Emma

hagalil.com 30-11-2004

 

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