Meine Erinnerungen
Judith Jaegermann, geb. Pinczovsky
Karlsbad (Karlovy Vary) Tschechoslawakei
Schon mit 7 Jahren wusste ich, dass wir anders waren als
unsere Nachbarn. Wir wohnten in Karlsbad, wo ich auch zur Welt kam.
Es war Sukkot, und mein Papa hatte gerade an einer Sukkah
gearbeitet, im Hofe des Hauses, wo wir wohnten und wo meine Eltern ein großes
koscheres Restaurant besaßen. Plötzlich kamen Steine aus den Fenstern der
Nachbarn geflogen. Ich war ganz erschrocken und fragte meinen Papa, warum man
dies mit uns macht. Er sagte nur leise: "Weil wir Juden sind". Das war im Jahre
1937.
Prag
Noch zwei Jahre blieben wir in Karlsbad und mussten dann vor
den Deutschen nach Prag flüchten. In Prag mussten wir gelbe Judensterne am
Mantel tragen, durften nach 20 Uhr nicht mehr ausgehen und in der Straßenbahn
nur den letzten Waggon benutzen. Die ersten Waggone waren "Für Juden verboten".
Auf vielen Häusern stand ganz groß "Kauft nicht bei Juden" und
"Juden raus". Ich wollte instinktiv nichts davon wissen, und so war mein bester
Freund mein Teddybär. Ich liebte ihn heiß. Meine große Schwester Esther hat ihn
einmal aus Leipzig mitgebracht, obwohl ich schon 28 Puppen hatte. Ich war ein
sehr verspieltes Kind.
"Transport"
Eines Tages, als ich elfeinhalb Jahre alt war, erhielt meine
Mama eine schriftliche Vorladung in der stand, dass wir uns im Prager
Messepalast melden sollten, um mit dem Transport ins Ungewisse verschleppt zu
werden.
Mein Papa war zu dieser Zeit im Karliener Gefängnis, und ich
erinnere mich, dass meine liebe Mama alles versucht hat, um den Papa mit uns in
den Transport zu kriegen, und wirklich hatte man ihn herausgelassen und ihn auch
in den Messepalast gebracht, wo sich alle Leute versammelten, um weiter
deportiert zu werden. Es ging alles so schnell. Ich konnte diese plötzliche
Änderung in unserem Leben schwer verkraften. Das einzige Lichtchen in dieser
Situation war für mich, dass ich meinen lieben Papa nach seiner langen Haft
wieder umarmen und küssen durfte, denn während seiner Abwesenheit von Zuhause
hatte ich ihn sehr vermisst. Mama und ich hatten ihn manchmal besuchen dürfen.
Er konnte nur einen Finger durch ein sehr dichtes Gitter herausstecken, aber ich
war ganz glücklich, dass ich ihm einen Pussi auf den Finger geben konnte. Ich
bin die Jüngste von drei Mädchen, und so war ich auch dementsprechend von Papa
verwöhnt worden.
Im Messepalast waren die ersten Appelle, bei denen wir
stundenlang ganz stramm stehen mussten.
Eines Tages rief man uns ganz plötzlich zum Appell. Ich hatte mich vor dem
Geschrei und unmenschlichen Benehmen der Deutschen so erschrocken, dass ich
während des Stehens einfach bewusstlos umgefallen bin. Seit damals war ich
während der ganzen Jahre unserer Haft sehr traurig und habe sehr wenig
gesprochen. Ich habe immer alles ruhig aufgenommen ohne einen Muckser zu machen,
denn ich hatte diesen starken Instinkt in mir, dass mir in meinem grossen Kummer
und meiner Bestürzung niemand helfen konnte.
Theresienstadt
Nach einigen Tagen hat man uns aus Prag nach Theresienstadt
abtransportiert. Es war ein fürchterliches Durcheinander. Männer extra, Frauen
extra und wir Kinder, meine Schwester Ruth und ich kamen in das Kinderheim. Ich
habe dort in Theresienstadt vom ersten Tag an die ganze Zeit nur geweint, weil
ich mich nicht an diese Situation ohne Eltern zu sein, gewöhnen konnte. Ich habe
mich sogar von den anderen Kinder abgesondert. Das ging so einige Wochen, bis
ich eines Tages vom Kinderheim regelrecht ausgebrochen und zur Mama gelaufen
bin.
Mama und ich
Sie hatte mich irgendwie bei sich untergebracht und ich blieb bei ihr mit vielen
erwachsenen Frauen in einem Zimmer. Es waren meistens Tschechinnen aber auch
einige Wienerinnen und ein paar deutsche Jüdinnen, die überhaupt nichts vom
Judentum wussten und auch nicht glaubten, dass ihnen irgendetwas passieren
könnte. Sie waren "Deutsche" und fühlten sich als solche. So begann das
Zusammenleben mit ganz fremden Menschen. Meine Mama war sehr beliebt bei allen,
denn sie war eine ganz besondere Frau. Sehr fein, immer hilfsbereit, und niemals
hat sie gemeckert. Seit ich mit meiner Mama zusammen sein konnte und nicht mehr
im Kinderheim war, habe ich alles besser ertragen können, das schlechte Essen,
das Schnarchen der Frauen in der Nacht, die knappe Waschmöglichkeit und auch die
Kälte, denn es gab nicht genug Decken. Die Nähe meiner teuren Mutter hat mir Mut
zum Leben gegeben, obwohl ich meistens sehr niedergeschlagen war.
Ruth, meine Schwester, die nur ein Jahr älter war als ich, war
viel mehr mit den Mädchen zusammen, sie hat sogar in einem Gemüsegarten
gearbeitet und hat sich ihr Leben mit Ihren Freundinnen so erträglich wie
möglich gestaltet, je nach den gegebenen Bedingungen.
Mein Papa war inzwischen in der Hannoverkaserne als Koch
angestellt und musste schwer arbeiten, aber wenigstens hat er, so glaube ich,
nicht gehungert. Wir konnten ihn nur sehr selten sehen, denn er war sehr
beschäftigt. Alle Burschen, die ihn kannten und mit ihm arbeiteten, hatten ihn
liebgewonnen, und riefen ihn "Pinca", das kommt von seinem Namen "Pinczovsky".
Scharlach
In Theresienstadt hatte ich schweren Scharlach und musste in die Quarantäne
gehen. Ringsherum starben Kinder an Meningitis, die als Folge vom Scharlach
eintrat. Ich habe mir damals vorgestellt, dass auch ich so enden würde.
Auschwitz
Sechzehn Monate waren wir in Theresienstadt bis wir eines
Tages hörten, dass von dort Transporte nach Auschwitz gingen und dass man dort
die Menschen vergaste. Natürlich wollte das niemand glauben, alle sagten, es sei
unmöglich und dass es nur Gerede wäre. Leider waren wir, Papa, Mama, Ruth und
ich auch unter denen, die nach Auschwitz deportiert wurden. Unsere Angst
steigerte sich stündlich, denn wir wussten nicht, was uns erwartet. Das
Ungewisse ist etwas ganz Fürchterliches, das man überhaupt nicht beschreiben
kann. Solange wir alle zusammen waren, auch wenn wir nicht zusammen wohnten, war
es einigermaßen erträglich. Aber wie würde es weiter gehen? Wohin schickte man
uns jetzt? Würde man uns auseinanderreißen? Würden wir am Leben bleiben? Es war
ein riesiges Chaos.
Eichmann
In Viehwaggone hat man uns hineingestoßen, in Anwesenheit von Eichmann mit den
gespreizten, gestiefelten Beinen in tadelloser Uniform. Mit seinem berühmten
schiefen Lächeln hat er zugeschaut, wie man diese unglücklichen, nichts ahnenden
Menschen wie Tiere behandelte. Wir waren alle bestürzt und erschrocken, und
niemandem wäre es auch nur eingefallen sich zu weigern oder sich zu sträuben, in
die Waggone einzusteigen. Es ging alles so unmenschlich schnell vor sich mit
Geschrei: "Na los, los ihr Saujuden" und Gebelle von Hunden aus allen
Richtungen. Hauptsache war, dachte ich, wieder mit meiner Familie zusammen zu
sein. Zusammen zu sein war für mich das Allerwichtigste. Die ewige Angst vor dem
Ungewissen oder dass man uns auseinanderreißt, war für mich die Hölle, es war
unerträglich, aber wir mussten noch viel Schlimmeres ertragen.
Die Menschen wurden schlimmer behandelt, als man es je mit Tieren tun würde.
In den Viehwaggonen hörte man nichts anderes als Stöhnen und
Weinen und ein Geflüster, dass dieser Transport nach Auschwitz gehen würde.
Natürlich wusste absolut niemand etwas Bestimmtes, aber alle hatten ein böses
Vorgefühl.
Ich weiss heute gar nicht mehr, wie lange wir eigentlich von
Theresienstadt nach Auschwitz gefahren sind, aber eine meiner ärgsten
Erinnerung, die mir bis heute noch unvergesslich geblieben ist, war, dass man
mitten im Waggon einen "Scheißkübel" aufgestellt hatte, der als Toilette für
Männer, Frauen und Kinder dienen sollte. Es was unmenschlich und entwürdigend.
Als wir schon ziemlich nahe an diese mörderische Todesmaschine
Auschwitz gekommen waren, hat mein Papa durch eine kleine Öffnung einen
Bahnbeamten gefragt, ob von hier auch Transporte woanders hingingen, worauf der
Beamte nur mit dem Daumen hinauf zum Himmel zeigte und sagte: "Ja, nach da oben
durch den Kamin, der 24 Stunden brennt. Dorthin gehen die Transporte".
Ich habe dies zufällig mitgehört und mein armer Papa, als er
das hörte, hat sofort Bauchkrämpfe und Durchfall bekommen. Ich habe zusehen
müssen wie mein großer starker Papa, der für mich der Mutigste und Stärkste auf
der Welt war, sich auf diesen Scheißkübel setzte, mit großer Scham sich die Hose
auszog und vor allen Menschen auf diese erniedrigende Weise aufs Klo ging. Für
mich brach die Welt zusammen. Mein Gedanke war sofort, dass wir ins Gas gehen,
aber auf welche Weise? Wie würde man uns quälen bis wir sterben? Schüttelfrost
packte mich und auch meinen Papa. Er war sehr deprimiert von jenem Moment an,
als er diese Auskunft mit dem Finger nach oben erhielt.
"Arbeit macht frei"
Endlich öffneten sich die Türen mit den Riegeln von draußen. Wieder das Gebelle
von Hunden und das Geschrei: "Raus, raus, schneller, schneller, los, los".
Niemand wusste, was vor sich ging. Männer und Frauen wurden getrennt. Alles ging
ganz schnell und schon waren wir wieder ohne Papa. Ich sah lauter Stacheldraht
und Scheinwerfer und spürte einen starken Geruch von Rauch. Man trieb uns in
eine riesige Halle wo wir uns nackt ausziehen mussten. Ich war 13 Jahre alt und
habe mich wahrscheinlich in diesem Alter mehr geschämt als die erwachsenen
Frauen, denen schon alles egal war.
Körperliche Entmenschlichung
Wir standen in Reihen, um überall rasiert zu werden. Unsere Kleider und Sachen
hat man uns sofort weggenommen und die Leute, die diese Aktion durchführten,
waren schon so gefühllos und abgestumpft von der langen Haft in Auschwitz, dass
sie gar keine Ähnlichkeit mit Menschen mehr hatten. Sie waren die
Alteingesessenen. Als ich zum Rasieren dran kam, endeckte ich, dass es ein Mann
war, der dies machte. Aber eigentlich war er gar kein Mann mehr. Ein armer
Sträfling in gestreiftem Anzug mit eingefallenen Augen und Wangen. Er machte es
ganz gleichgültig und ohne Kraft. Als alle Mädchen überall rasiert waren, am
Kopf, unterm Arm und an den Schamhaaren, haben wir wie Affen ausgesehen. Eine
traute sich nicht die andere anzuschauen, manche haben geweint, aber manche sind
in ein hysterisches Lachen ausgebrochen. Es war ausgesprochen grotesk.
Dann standen wir noch stundenlang nackt, bis man uns alte
Fetzen zuteilte. Und wieder als ob die Menschen mit Absicht erniedrigt wereden
sollten, bekamen die großen Frauen ganz kleine Fetzen und die kleineren Frauen
übergrosse Sachen. Manchen Mädchen gab man nur einen Mantel, ohne etwas darunter
und anderen ein zerissenes dünnes Kleid ohne etwas darüber. Und keine
Unterwäsche. Alles ging sehr schnell. Man war vollkommen dem Schicksal
ausgeliefert, ohne sich bei jemandem beschweren zu können. Ich dachte nur:
"Wohin haben sie unseren Papa gebracht, werden wir ihn jemals wiedersehen? Was
passiert jetzt mit uns allen?" Als wir unsere Sachen zum Anziehen erhielten,
mussten wir wieder in der Reihe stehen, um eine Nummer auf den Arm tätowiert zu
bekommen. Stundenlanges Stehen in Auschwitz war nichts Seltenes. Die Mama stand
vor mir, dann ich und hinter mir meine Schwester Ruth. Die Mama bekam die Nummer
71501, ich 71502 und Ruth 71503. Das Tätowieren tat mir sehr weh und als ich die
Hand vor Schmerz wegnehmen wollte, bekam ich eine Ohrfeige erhalten. Es war eine
große miese Polin, die die Tätowierung durchführte.
Kurz: wir waren nach ein paar Stunden nachdem wir in Auschwitz
ankamen, keine Menschen mehr, sondern nur Nummern und keiner von uns konnte
etwas dagegen machen oder sagen. Ich dachte nur: "Wie kommt das, dass erwachsene
Leute imstande sind, anderen Menschen sowas anzutun? Wo ist die Gerechtigkeit
und womit haben wir das verdient?" In meinem Unglück wurde ich immer
schweigsamer und verschlossener.
Lebensbedingungen
Nach der Tätowierung jagte man uns in Baracken ohne Matratzen. Zusammengefercht
mussten die Frauen von nun an in dreistöckigen Kojen hausen. Es war fürchterlich
und kalt und wir wussten nicht, was die nächste Minute bringen würde. Wir
konnten uns nur alles in uns hineinfressen und still leiden. Das Essen war ein
Fraß aus dunkler, dünner Flüssigkeit, die man Suppe nannte, wofür man wiedermal
in der Reihe stehen musste, um ein kleines Blechgeschirr nicht einmal voll davon
zu bekommen. In ein paar Wochen wurden wir alle mager und gefühllos und
apathisch wie die, die schon vor uns in Auschwitz waren. Unser Lager hieß
Birkenau. B 2 B Block 12.
Birkenau. B 2 B Block 12
Unseren Papa haben wir nach ein paar Tagen wieder gesehen und das Herz weinte in
mir als ich ihn in einem ganz kurzen und engen Mantel sah. Wie armselig und
entwürdigt sah er aus. Er war völlig deprimiert, denn auch wir haben in seinen
Augen fürchterlich ausgesehen. Nach einiger Zeit hat er sich dort wieder als
Koch gemeldet und musste für die SS kochen. Wenn es ihnen nicht schmeckte, hat
man ihm den Kopf unter Wasser gehalten, bis er fast erstickte. Ich habe zufällig
zugehört, als er es meiner Mama erzählte. Manchmal hat er unter großer
Lebensgefahr ein bisschen gekochte Kartoffel gebracht und ist danach sofort
wieder zurück in seine Baracke gelaufen, wo er sich den Kopf wieder zerbrechen
musste, was er für die SS kochen sollte, so dass es ihnen auch schmeckte und er
nicht wieder gequält würde. Zuhause in Karlsbad hatten meine Eltern ein großes
koscheres Restaurant gehabt, aber gekocht hat mein Papa natürlich nicht, denn es
gab genug Küchenpersonal dafür.
Eines Tages hatte Ruth zugeschaut, wie wieder ein Transport
nach Birkenau am Bahnhof ankam. Es waren ungarische Juden. Die gingen direkt ins
Gas. Das hatte sie selbst gesehen zusammen mit einer Freundin, und man hat sie
beim Zuschauen erwischt und hat ihr und dieser Freundin wieder den Kopf ganz
abrasiert, nachdem die Haare nach der ersten Rasur schon ein bisschen
nachgewachsen waren. Ruth kam mit dem kahlen Kopf weinend in die Baracke zurück.
Als ich sie erblickte, weinte ich so, dass ich mich gar nicht beruhigen konnte.
Ich habe auch nicht gleich begriffen, weshalb sie diese Strafe bekam. Aber der
Anblick des kahlen Kopfes war für mich fürchterlich und ich konnte mich erst
nach Stunden beruhigen, nachdem eines der Mädchen mir sagte dass, wir für die
Ruth ein Tuch auftreiben würden und sie es dann als Kopftuch tragen könnte, so
dass man die Glatze gar nicht sähe. Aber dieser Vorfall brachte mich wieder in
eine tiefe Depression. Ich war sehr niedergeschlagen und hatte immer Angst, wenn
der Papa auf einen Augenblick kam, um uns zu sehen und um einen Bissen zu
bringen, wobei man ihn auf keinen Fall erwischen durfte. Man hat die Männer, die
die Frauen besuchten, ausgepeitscht bis sie ohnmächtig umfielen. Dies sollte
meinem Papa nicht passieren.
Frostbeulen
Die Appelle in Birkenau waren grausam. Man hat uns schon um halb fünf morgens
aus den Baracken getrieben und uns stundenlang in Habtacht stehen lassen, bei
eiskaltem Wetter oder bei größter Hitze. Viele Frauen konnten es nicht aushalten
und sind ohnmächtig umgefallen, denn sie waren schon sehr geschwächt vom
Hungern, und auch die Kälte hat uns sehr zu Schaffen gemacht. Mir sind die Füsse
erfroren. Ich hatte nur Holzpantoffeln, die mir immer von den Füssen fielen,
denn in Birkenau war im Winter immer ganz tiefer Matsch, in dem diese Pantoffeln
stecken blieben.
Meine Mama hat für mich ihre Decke zerrissen und Streifen
daraus gemacht und mir die erfrorenen Beine eingewickelt, um sie etwas wärmer zu
halten. Aber meine Beine wurden immer ärger, es war eiskalt 20 Grad unter 0 und
aus den Frostbeulen wurden offene Wunden mit Eiter und Infektion. Es ist mir
heute wie ein Wunder, dass es hier in Israel im Laufe der Jahre verschwunden
ist, aber ich bin noch jeden Winter empfindlich und trage nur Stiefel, denn die
Stellen, die erfroren waren, tun manchmal doch noch weh. Die hiesige Sonne hat
Wunder getan.
Ganz fürchterlich war auch die Latrine in Birkenau. Es war
eine tiefe Grube, die in der Mitte geteilt und mit einem schmalen Brett und mit
durchsichtigem Stoff unterteilt war, so dass die Frauen die Männer durch diesen
Stoff sehen konnten. Das war derart erniedrigend und unmenschlich, man sah nur
die nackten mageren Popos der Männer, und alle Menschen hatten von der langen
Unterernährung die ganze Zeit Durchfall wie Wasser. Das war es, was wir zu sehen
bekamen, wenn wir auf die Latrine mussten.
Ich werde niemals eine Frau vergessen, ich glaube sie hies
Kleinova, die immer ihre Brotportion als Reserve bei sich trug, damit sie nicht
verhungerte. Ihr ist eines Tages ihre Brotportion in diese dreckige Latrine
gefallen, und vor lauter Verzweiflung ist sie in die Grube heruntergekrochen,
besser gesagt, sie hat sich einfach hineinfallen lassen, um das Brot
herauszufischen. Sie war verdreckt, das Brot war verdreckt, aber das war für sie
nicht wichtig. Der tierische Instinkt zu überleben war stärker als alle
menschlichen Werte.
Dieselbe Frau Kleinova habe ich einige Monate später in
Bergen-Belsen neben mir sterben sehn. Es ist ein Wunder, dass sie noch so lange
am Leben blieb, denn sie hat buchstäblich nichts gegessen, sondern nur Reserven
gesammelt und bei sich aufgehoben. Dieser Vorfall mit der Latrine wird mir ewig
in Erinnerung bleiben. Menschen wurden einfach zu Tieren.
Die täglichen stundenlangen Appelle waren ganz sinnlos. Es
waren manchmal zwei bis drei am Tag nur, um uns zu schikanieren. Immer mehr
Menschen fielen einfach um. Diese wurden einfach abgeknallt und weggeschleppt.
Der ewige Stacheldraht war unsere einzige Aussicht, und sämtliche Lager waren
mit elektrischer Hochspannung umgeben. Viele Leute haben sich auf diese Weise
das Leben genommen. Sie sind einfach zum Stacheldraht gekrochen und sind daran
sofort tot kleben geblieben. Ich sehe noch ganz klar ein junges Mädchen vor mir,
das das gemacht hat. Ich habe sie noch lebend gesehen und im nächsten Moment
wählte sie mit ausgestreckten Armen fest den Stacheldraht umklammernd den Tod.
Es war dort die reinste Hölle, die man nicht beschreiben kann.
Mengele ("Todesengel")
Eines Tages, es war vormittag, erschien Mengele selbst in unserer Barake und
fragte die Blockälteste, ob es unter unseren Mädchen Zwillinge gäbe. Da man ja
niemals wusste, ob diese Fragen Leben oder Tod bedeuteten, wollte sie die
Antwort nicht auf sich selbst nehmen, sondern fragte ganz laut: "Sind hier
Zwillinge unter euch?". Zufällig hatte ich zwei Schwestern, die Zwillinge waren,
zu meinen besten Freundinen gewonnen. Sie schliefen mir gegenüber auf der Koje
im obersten Stock. Wir hatten uns sehr angefreundet, da wir im selben Alter
waren. Plötzlich hörte ich, wie diese zwei Mädchen sagten: "Ja, wir sind
Zwillinge". Mengele kam näher. Sie mussten runter kommen bis sie genau vor ihm
standen. Er sah sie genau an. Sie waren sich kolossal ähnlich und hatten viele
Sommersprossen. Mengele sagte nur: "Ja, kommt mal mit. Am Abend kommt ihr wieder
hierher zurück." Mein Vorgefühl sagte mir sofort, dass ich meine lieben
Freundinnen niemals wiedersehen würde, und wirklich habe ich sie niemals mehr
gesehen und kann nicht einmal jemanden nach ihnen fragen, da ich ihre Namen
vergessen habe. Ich habe noch lange an die Zwei denken müssen, wer weiß, was
dieser Unmensch mit ihnen für Experimente durchführte und wie sie sterben
mussten.
Und wieder fingen Gerüchte an, dass man jetzt einige Leute in
Deutschland zur Aufräumungsarbeit bräuchte. Aber wer wollte schon glauben, dass
man von Birkenau lebend herauskommt?
Das Zeichen
Ich glaube, es war Frühling als mir meine geliebte Mama sagte: "Komm Laluschka,
schau mal dort fliegt ein Vögelchen, ich sage dir, das ist ein Zeichen zum
Leben, wir werden mit Gottes Hilfe von hier rauskommen". Ich habe sie sehr
bewundert, so optimistisch sein zu können. Selbst habe ich an so ein Wunder
nicht mehr geglaubt und fragte nur ganz leise und kraftlos: "Glaubst du
wirklich, Mami?" "Oh ja, ich glaube daran, dass uns Gott helfen wird". Das gab
sie mir zur Antwort, diese arme kleine verhungerte aber zum Bewundern gläubige
teure Mama. Wie furchtbar musste ihr zumute sein, ihre Kinder so armselig und
hungrig zu sehen.
"Selektion"
Und wirklich, es war der 5. Juli, der Geburtstag meiner Mama, als Mengele selbst
die Selektion durchführte. Wir standen wiedermal in vierer Reihen und wussten
nicht, was jetzt mit uns passieren würde. Jedenfalls sind wir immer zusammen
geblieben und haben uns gegenseitig die Wangen gerieben, damit wir gesünder und
arbeitsfähiger aussahen.
Mein Abschied von Papa
Als wir so standen und auf unser Schicksal warteten, sah ich von weitem meinen
Papa stehen und zuschauen wie die Selektionen vor sich gingen. Ich wusste im
selben Augenblick, dass ich meinen geliebten Papa nie mehr sehen würde, ganz
egal wohin wir jetzt gingen. Ich riss mich von meiner Reihe los und lief zu ihm,
nicht dem Geschrei der Frauen zuhörend, dass alle meinetwegen bestraft oder
erschossen würden, weil ich aus der Reihe ausgerissen war. Ich habe meinen Papa
mit meiner ganzen Kraft umarmt und wusste instinktiv, dass es für mich der
Abschied für immer war. Ich bin ruhig zurück in meine Reihe gegangen mit dem
Gefühl mich von meinem Papa, der weinend dastand, verabschiedet zu haben. Ich
hatte Glück, dass es niemand von den SS Leuten gesehen hat. Und so standen wir
und warteten, was Mengele mit uns beschliessen würde.
Man wusste ja nie, welche Seite zum Leben und welche Seite zum
Tode führen würde. Wie ein Wunder wurden wir alle drei auf eine Seite schubst,
und so sind wir wieder zusammen geblieben.
Wie gesagt, wir wussten jetzt nicht, ob es Leben oder Tod
bedeutete. Wir sahen wie man Kinder aus den Armen der Mütter riss, und die
Schreie der Mütter habe ich noch heute in den Ohren. Nach langer Zeit des
Ungewissens hat man uns durch das Frauenlager, das sich F.K.L. nannte, zur Bahn
geführt. Aber im Frauenlager hat man uns vorher noch in glühender Hitze stehen
lassen, ohne einen Bissen und ohne einen Schluck Wasser. Dort war die
Lagerälteste keine Frau, sondern eher eine Hyäne. Wir mussten stundenlang
strammstehen und sie guckte nur, ob sich jemand bewegte.
Unter uns war ein Mädchen aus Wien. Sie hiess Martha und sie
sah aus als würde sie lächeln, und das hat die Lagerälteste so aufgeregt, dass
sie die Martha mit den Händen nach oben auf die Knie fallen liess. So musste sie
eine ganze Zeit unbewegt bleiben und wieder schien es ihr als ob Martha
lächelte. Die Hyäne wurde noch wütender und gab der Martha einen Ziegel, den sie
kniend und mit beiden Armen nach oben halten musste. Ich stand ihr gegenüber und
kann bis heute mein Mitleid und Herzweh mit ihr nicht beschreiben. Ich sah ganz
klar, dass ein Mensch noch niedriger als bis zu einem Wurm erniedrigt werden
kann. Ich hatte vollkommen das Vertrauen zu Erwachsenen verloren noch bevor ich
es gewinnen konnte. Dies war für mich wiedermal ein erschütterndes Erlebnis.
Ich werde es niemals, solange ich lebe, vergessen. Man erzählt
mir heute, dass Martha es überlebte und irgendwo im Ausland lebt. Ich weiss gar
nicht, wie lange wir noch so standen, bis man uns nach langem, langem Stehen vom
Bahnhof in die Viehwaggone jagte.
Da sagte mir meine Mama: "Siehst Du, Laluschka, ich habe dir
gesagt, dass das Vögelchen uns die gute Nachricht brachte, aus dieser Hölle raus
zu kommen. Das ist mein schönstes Geburtstagsgeschenk in meinem Leben". Sie
hatte auch die Hoffnung nicht aufgegeben, unseren Papa eines Tages wieder zu
sehen.
Wir fuhren ins Ungewisse. Niemand wusste wohin, aber alle
sagten, schlimmer als in Auschwitz könne es nirgends sein. Wie lange wir in
diesen Viehwaggonen fuhren, wie die Heringe zusammen gequetscht, weiß ich heute
gar nicht mehr, man hatte ja auch das Zeitgefühl verloren. Viele Mädchen sind
erstickt und tot herausgefallen, als man die Waggone öffnete.
Hamburg
Angekommen sind wir in Hamburg, wo man uns neben dem Hafen
untergebrachte und uns gleich zu Räumungsarbeiten nach den Bombardierungen
einteilte. Ich war die Jüngste von allen und öfters haben mir die älteren
Mädchen bei der schweren Arbeit geholfen, weil ich nicht nachkommen konnte.
In Hamburg war mehr Wasser, und wir waren alle ganz glücklich,
dass wir uns nach langer Zeit einigermaßen waschen und auch trinken konnten. Am
Anfang war auch sogar etwas mehr Essen, aber der Winter kam. Wieder war der
Schnee hoch, und wir mussten unter einer Brücke bei fürchterlicher Kälte den
Schnee wegschaufeln. Ich erinnere mich, wie mir eines Tages bei der Arbeit
plötzlich schwarz vor den Augen wurde und ich ohnmächtig wurde. Plötzlich spürte
ich, dass man mich weckte und ich ahnte die Frauenköpfe über mir. Ich hörte wie
sie sagten: "Die Kleine ist uns fast erfroren". Man hat mich noch ein bisschen
liegenlassen und viele Mädchen haben mich am ganzen Körper massiert und
gerieben, damit ich meinen Körper, Hände und Füsse wieder spürte. Es war mir
Elend zu Mute, ich war vollkommen deprimiert und ohne Kraft. Ich stand auf und
habe weiter Schnee geschaufelt. Wie kann man nur so weiterleben, dachte ich.
Es war ja alles so unmenschlich, immer mit Angst verbunden und
man musste sich immer hüten, dass die SS Leute nicht merken sollten, wenn jemand
von uns Frauen sich schlecht fühlte, damit man nicht als arbeitsunfähig erklärt
wurde, denn da war immer die Gefahr, dass man zurück nach Birkenau geschickt
würde, was natürlich Gas bedeutete. Damit haben die Deutschen uns fortwährend
gedroht. So arbeiteten wir buchstäblich über unsere Kräfte. Auf dem Weg zur
Arbeit vom Lager haben wie wir sogar, so hungrig wir waren, manchmal ein
Marschlied gesungen, es hieß: "Das kann doch einem Seemann nicht erschüttern,
keine Angst, keine Angst Rosmarie. Wir lassen uns das Leben nicht verbittern,
keine Angst, keine Angst Rosmarie".
Das erlaubte uns sogar die SS Frau, denn so sind wir etwas
rascher marschiert, und selbst das Lied hat uns etwas Mut zum Leben gemacht.
Manchmal haben wir auch politische Gefangene gesehen, die
natürlich viel bessere Lebensbedingungen hatten. Und armselig, abgehungert und
zerfetzt wie wir waren, warfen sie uns manchmal eine Zigarette oder ein
Stückchen Brot zu. Ich selber hätte nie gewagt irgendetwas aufzuheben. Alles war
mit größter Gefahr verbunden. Mädchen, die das Glück hatten etwas aufzufangen,
haben es sich meistens mit ihrer Freundin oder Nachbarin geteilt. Gerauft hat
man sich eigentlich nie.
Aber fürchterlich war es am Abend, wenn wir von der Arbeit ins
Lager zurückkamen. Da hat man uns kontrolliert, sogar gynäkologisch, ob wir
nicht etwas von draußen reingeschmuggelt haben. Unsere Lagerälteste hieß Trude.
Sie und der Obersturmführer Spiess haben uns sehr gründlich untersucht und wehe,
wenn man nur eine Kartoffelschale oder sonst was erwischt hat. Dann wurde
diejenige auf den nackten Popo mit 50 Knüppelhieben vom Spiess mit Wonne vor
allen ausgepeitscht. Das hat mich derart betrübt, dass ich tagelang kein Wort
herausbrachte. Einmal war es eine Freundin meiner Mama, die diese Schläge bekam,
sie wurde ohnmächtig und konnte danach wochenlang nicht sitzen, wurde ganz
geschwollen und hat nur gewimmert vor Schmerzen.
Furunkolose
Von der langen Unterernährung haben wir alle Furunkolose bekommen. Ich selbst
hatte auch viele Furunkeln unter den Armen und unzählige am Popo. Wir hatten
unter uns eine Kinderärztin, sie hieß Dr. Goldova, und sie hatte sich irgendwie
einen Skapell verschafft - wahrscheinlich über die SS - und damit hat sie uns
behandelt, sie hat den Eiter rausgedrückt. Natürlich gab es keine hygienische
Hilfe, so wie beispielsweise eine Desinfektion, so dass sich die Eiterbeulen
immer mehr vermehrten, eine verschwand und eine andere tauchte auf. Es war sehr
ansteckend und auch sehr schmerzhaft. Ich konnte meine Furunkel Monate lang
nicht los werden. Ich bekam auch hohes Fieber davon und musste operiert werden.
Ich bin aber sehr bald trotzdem mit unmenschlicher Kraft oder vielleicht aus
Angst davor "liquidiert" zu werden, wieder zur Arbeit gegangen. Ich habe
wahnsinnige Schmerzen gelitten, aber ich wollte niemandem zur Last fallen und
habe auch das ganz still ertragen, bis es eines Tages wieder wie durch ein
Wunder doch besser wurde. Das war ja auch eines der Wunder, das geschah.
Scheinbar hat Gott uns immer geholfen gesund zu werden und das Schicksal weiter
zu tragen.
Es waren auch viele Ratten in der Baracke, die bei Nacht sogar
auf uns herumkrochen. Auch daran musste man sich gewöhnen und lernen damit zu
leben.
Bombardierung
Einmal, als wir am Abend totmüde ins Lager zurückkommen wollten, war unser Lager
nicht mehr da. Es war von den Engländern bombardiert worden, und wir hatten
nichts mehr, wo wir unseren Kopf hinlegen konnten. Einige Mädchen, die an diesem
Tag aus irgendeinem Grund im Lager geblieben waren, wurden erschlagen oder
verwundet. Auch unsere Ärztin wurde getroffen und verwundet. Auch einer unserer
Wächter lag ausgestreckt, erschlagen da. Ich sehe das Bild noch genau vor mir.
So wurden wir wieder weitergeschickt. Wieder ins Ungewisse ohne etwas in der
Hand, nur mit Angst in der Seele, hungrig und abgerissen und nicht wissend, was
uns weiter erwartet. Immer wie eine Herde. Und ich hatte nur im Sinn, dass das
einzig Wichtige ist zusammen zu bleiben, nur zusammen bleiben, denn das war, was
uns am Leben hielt. Viele Frauen, die alleine waren, haben sich einfach gehen
lassen, wollten nicht mehr leben und sind aus seelischer Erschöpfung gestorben.
Das zweite Lager
Wir sind in einem anderen Lager in Hamburg untergebracht worden und begannen
gleich wieder zu arbeiten. Es war ein eiskalter Tag und die SS Frau erlaubte uns
ein kleines Feuer zu improvisieren, um uns die Hände, die schon ganz steif vor
Kälte waren, zu wärmen. So suchte jede von uns ein Stückchen Holz oder Papier,
um es in einem Kübel, der in einer Ruine eines Hauses lag, zu geben und daraus
ein Feuer zu machen. Die SS Frau hatte die Zündhölzer und nach langem Bemühungen
gelang es uns das nasse Papier und diese paar Brettchen zum Brennen zu bringen.
Natürlich hat es sehr geraucht und auch gestunken, aber wir waren froh und stolz
es geschafft zu haben. Die ganze Gruppe hielt die Hände ausgestreckt über dem
Eimer. Wir haben auch die Füsse bewegt, damit sie nicht erfrieren.
Kopfverbrenung
Plötzlich hörten wir von den Ruinen heraus das Geschrei eines Mannes, "Was macht
ihr hier, ihr Saujuden, weg mit euch, schaut dass ihr sofort wegkommt, ihr
Gesindel". Natürlich haben sich alle erschrocken, sogar unsere SS Frau wusste
nicht, wer da hinter den Steinen sein mochte. Alle liefen so schnell wie möglich
weg, und wir hörten, dass sich dieser Mann näherte. Nur ich war die Letzte. Ich
konnte nicht gut laufen und so hat mich dieser Mann erwischt und mir den ganzen
Kübel mit Glut über den Kopf und den Hals geschüttet. Ich bin vor Schmerz und
Schreck hingefallen. Alle Mädchen waren schon längst voraus, nur meine Mama hat
sich nach mir umgedreht. Als sie sah, dass ich brannte, hat sie mich mit aller
Kraft mit sich geschleppt und geschrien, dass man mir helfen solle.
So sind manche Mädchen zu uns zurück und haben mit ihren
Händen auf meine Fetzen geklopft, um das Feuer auszulöschen. Es hat wahnsinnig
gebrannt, es war ein Glück, dass ich einen Fetzen um den Kopf gewickelt hatte,
so wurden keine richtigen Brandwunden daraus.
Am selben Abend zurück nach der Arbeit, hat sogar der
Obersturmbandführer Spiess angeordnet, mir eine Suppe Nachschub zu geben, die
ich aber nicht essen konnte. Ich war von dem Geschehenem so erschrocken und
unglücklich.
Derselbe Spiess hat einmal meine Mama mit einem Revolver fast
zu Tode geschlagen, weil sie eine Kartoffelschale fand. Sie sagte, er wollte sie
erschiessen, aber wahrscheinlich war der Revolver nicht geladen, und so hat er
auf ihren Kopf rasend herum geschlagen, bis ihm der Schaum vor den Mund kam. Die
Mama konnte wochenlang nicht zur Arbeit gehen und hatte einen ganz dicken und
geschwollenen Kopf.
Mein Kummer war sehr groß, weil die Mama nicht bei mir bei der
Arbeit war, und ich hatte die ärgsten Angstvorstellungen, dass ich sie nicht
mehr wiederfinde. Aber unsere Lagerälteste hat sie während der Krankheit im
Lager beschäftigt.
Im Lager war am Abend totale Verdunklung, denn die Briten
haben Hamburg sehr stark bombardiert. Einige Male am Tag und auch in der Nacht
waren ganz starke Bombenangriffe, und so konnten wir auch nicht auf die Latrine
gehe, denn die Finsternis war so vollkommen, dass man überhaupt nichts sah. Das
hat mir sehr viel Angst gemacht, denn ich konnte mich nicht orientieren und
wollte auch die Mama nicht aufwecken, die ja so müde war von der schweren
physischen Arbeit. So habe ich mich immer bis früh zurückhalten müssen, konnte
nicht mehr schlafen und hatte grosse Mühe, es bis in der Früh zu halten. Als wir
in der Früh zur Latrine durften, ging natürlich die Hälfte schon verloren.
Läuse
Die vielen Läuse, die wir hatten! Man konnte sie nicht beherrschen, denn es gab
ja überhaupt keine Hygiene. Auf der Säule in der Baracke stand, "Eine Laus, dein
Tod", und so durften wir uns nicht ansehen lassen, dass wir verlaust waren und
haben uns ganz verstohlen, eine der anderen, die Läuse gesucht und sie
zerquetscht.
Eines Abends, wieder müde nach einem schweren Arbeitstag,
standen wir mit dem Blechteller in der Reihe, um das bisserl warmes Wasser, das
man Suppe nannte, zu bekommen. Als ich an die Reihe kam, war ich schon so
hungrig und erschöpft vom Stehen, dass ich glaubte, ich könne einfach nicht
mehr. Endlich war die Suppe schon auf meinem Teller. Ich drehte mich um, um zu
essen und stolperte in der Finsternis. Die ganze Suppe wurde ausgeschüttet, und
ich hatte nur noch den leerem Teller.
Ich begann so zu weinen, dass es mich nur so schüttelte. So
bin ich tothungrig, den ganzen Tag hatte ich nichts gegessen, schlafen gegangen.
Ich habe mich nicht getraut an die Lagerälteste heran zu gehen und noch ein
bisschen Suppe zu verlangen.
Wir waren schon ziemlich abgemagert, denn es waren schon 9
Monate vergangen, seit wir in Hamburg ankamen. Wir haben fürchterliche
Bombardierungen erlebt, manche schrien "Schmah Israel", und öfters dachten wir
es sei unser Ende, denn neben unserem Lager waren lauter Fabriken, die das
eigentliche Ziel der Engländer waren.
Todesmarsch
Dann kam der Tag, wo sich die Front näherte und man uns wiedermal evakuierte.
Wir wurden wieder in Viehwaggone zusammengedrückt, und ich hatte das Gefühl,
dass ich erstickte. Der Knall von dem Riegel als man uns einsperrte, blieb mir
bis heute in den Ohren. Nach einigen Tagen, ich weiss gar nicht wie lange, hat
sich die Tür geöffnet, wir waren schon alle halb tot. Wir sahen auch andere Züge
mit abgemagerten Menschen in gestreifter Kleidung. Das waren Leute von anderen
Konzentrationslagern, die man auch woanders hin evakuierte. Vor den Zügen
draußen, standen wir schon wieder in vierer Reihen, und so begann der
Todesmarsch zu Fuß. Wieder hatten wir keine Ahnung, wohin man uns schleppte.
Am Anfang ging es noch einigermaßen, denn wir waren froh an
der Luft zu sein und nicht wie Rinder im Viewaggon. Aber langsam ist immer eine
von uns am Straßenrand sitzen geblieben, mit geschwollenen Beinen und konnte
nicht mehr weiter laufen. Diejenigen, die nicht mehr konnten, hat man einfach
erschossen. Ohne viel Wesen daraus zu machen. Weiter, weiter mit eisener Kraft
und eisernem Willen sind wir gegangen. Wieder muss ich betonen, hätte ich nicht
meine geliebte Mama neben mir gehabt, wäre ich bestimmt nicht mehr am Leben
geblieben. Sie hat mir Mut gegeben. Sie hat mich getröstet in meiner
Verzweifelung. Sie, die selber verzweifelt war. Sie war mein Schutzengel. Sie
war auch Mutter für alle Mädchen, die alleine waren, denn sie hatte immer ein
Trostwort für sie. Alle Mädchen suchten ihre Nähe und fühlten sich durch sie
beschützt.
Bergen-Belsen
Nach tagelangem Gehen sind manchen die Pantoffel von den
geschwollenen Füssen gefallen. Schliesslich kamen wir in Bergen-Belsen an. Wir
hatten keine Ahnung, wo wir waren, aber später erfuhren wir es. Der erste
Anblick in diesem grauenhaften Lager war ein riesengroßer Berg mit nackten toten
Menschen, die eigentlich nur Skelette waren.
So etwas Schreckliches und Erschreckendes habe ich nicht
einmal in Auschwitz gesehen. Sofort dachte ich, in ein paar Tagen würden wir
auch so ausschauen und aufgestapelt werden. Denn lange würden wir es auch nicht
aushalten können. Wir hatten ja schon einige Frauen unterwegs vor Erschöpfung
verloren, also lange konnte es auch mit uns nicht gehen.
Die, die noch lebten, haben sich nur noch langsam bewegen
können, wie in Zeitlupe.
Beschuß
Zum Essen gab es gar nichts. Wasser war überhaupt keines da. Es war ein
absolutes Durcheinander, denn die Deutschen waren alle weggelaufen, und die
Front näherte sich immer mehr. Man hörte Kanonenschüsse, aber niemand konnte
abschätzen aus welcher Entfernung. Es war niemand da, der auf uns aufpasste und
bei dem man etwas fragen konnte.
Plötzlich sahen wir ungarische Soldaten oder vielleicht waren
es Ukrainer, die die Wachhütten übernommen hatten. Die haben ganz brutal um sich
geschossen, es machte ihnen grossen Spaß jemanden zu treffen. Darüber haben sie
sich gefreut und amüsiert.
Nach einigen Tagen habe ich selbst miterlebt, wie einer dieser
Soldaten auf zwei Schwestern, die schon kaum kriechen konnten, geschossen hat.
Eine von den beiden war sofort tot. Das Jammern der überlebenden Schwester war
herzerschütternd. Sie konnte nur noch wimmern und jammern. Wir wurden alle zu
"Muselmänner". Abgemagert, ohne Leben, zusammengefercht in einer schmutzigen
Baracke, hat mich das Schicksal wieder mit der Frau zusammen gebracht, der in
Auschwitz ihre Brotportion in die Latrine gefallen war. Sie starb eines Morgens
am Boden in meiner Gegenwart. Ihre Tochter saß neben ihr teilnahmslos und
stumpf. Ich glaube, wir waren ungefähr zwei Wochen in dieser Schlangengrube,
ohne Essen, ohne Trinken. Menschen starben wie Fliegen. Sie fielen einfach um.
Überall war Tod und überall wartete man auf den Tod.
Befreiung
Eines Morgens hörten wir Panzer, und jemand kam in die Baracke und sagte:
"Kinder wir sind frei!" Aber niemand rührte sich, denn niemand hatte die Kraft
sich zu freuen. Wir waren alle schon ganz apathisch. Das kann man beim besten
Willen nicht beschreiben.
Typhus
Jetzt begann die Epidemie von Typhus, denn die Engländer, als sie mit den
Panzern ins Lager kamen, bewarfen uns mit Konserven und Brot. Die, die noch
kriechen konnten, haben davon gegessen, aber die Folgen waren schlimm. Die
Menschen sind von dem ungewohnten Essen einfach wie Fliegen gestorben. Mein
Schutzengel, die Mama, sagte uns gleich mit leiser Stimme: "Kinder, rührt dies
nicht an, der Magen kann nach so vielen Jahren Hunger das Essen nicht
verarbeiten. Wartet und esst langsam, nehmt immer nur ein bisschen zu euch". Ich
selbst konnte gar nichts essen, bekam schweren Typhus mit ganz hohem Fieber,
auch Mama und Ruth wurden krank. Es war wiedermal ein Wunder, dass wir es
überlebten. Rings um uns sind Menschen gestorben. Überall Armseligkeit und
Verzweiflung, ganz fürchterlich. Ich konnte vor Schwäche nicht mehr sprechen,
und auch gehört habe ich nur wie durch einen Nebel. Nach einiger Zeit, ich
glaube es war wirklich ein Wunder, ging das Fieber zurück.
Die englischen Soldaten lehrten uns wieder zu gehen, so wie
man es kleinen Kindern beibringt. So waren wir noch einige Zeit dort, und die
Engländer haben dann Transporte organisiert, um jeden in seine Heimat zu
bringen.
Wir waren schon etwas gekräftigt, denn wir hatten viele
Vitaminpillen zu uns genommen und auch etwas Brot und Milch. Ich dachte wieder
an meinen lieben Papa, der sicherlich nicht mehr lebte. Er war ja die ganze Zeit
alleine und hatte nichts von uns gehört. Es war uns sehr traurig zu Mute, als
wir in Prag ankamen und natürlich den Papa nicht mehr wiederfanden. Und so
erhielten wir dann vom "Joint" (American Jewish Joint Distribution Committee)
menschliche Kleidung und Nahrungsmittel. Die Haare wuchsen auch wieder. Halbwegs
sahen wir wieder menschlich aus.
Die Erinnerung an die Berge von entwürdigten nackten Leichen,
bevor sie in die Massengräber hereingeworfen wurden, wird immer in mir ganz
wachbleiben. Bergen-Belsen war ein grauenvolles Lager, ohne Hoffnung, ohne
Leben.
Rückkehr
Auf dem Weg von Bergen-Belsen nach Prag, nach der Befreiung, gab es einige Male
Unterbrechungen. Die Bahn blieb stehen, und wir konnten manchmal sogar für ein
paar Minuten aussteigen.
Einer dieser Stops war in Pilsen in der CSR. Als man uns sah,
fragte man uns, von woher wir kämen und was die Nummern auf dem Arm zu bedeuten
hätten. Wir erzählten, dass wir drei Jahre im Konzentrationslager gewesen waren
und Fürchterliches erlebt hatten. Worauf diese Leute uns fragten, "Warum seid
ihr nicht geblieben, von wo ihr gekommen seid? Wer braucht Euch hier?" Wir sind
zurück in den Zug, seelisch ganz erschlagen. Das war die Begrüssung in der
Freiheit, auf die wir so gewartet hatten.
In Prag wussten wir nicht, was wir machen sollten. Es wurden
Transporte nach Palästina organisiert, und so hat mich meine Mama in die
Jugendaliya nach Palästina eingeschrieben. Wenigstens eine von uns, so sagte
sie, sollte den Schritt in die Freiheit machen, nachdem wir unseren Papa nicht
wieder gefunden haben.
Meine große Schwester Esther war schon sieben Jahre in
Palästina, sie lebte in Natanya, und zu ihr bin ich gekommen.
In Haifa angekommen, hat man uns wieder interniert, diesmal in
Atlit.
Drei Monate musste ich dort bleiben und war wieder hinter
Stacheldraht.
Ich, mit meinen 16 Jahren konnte nicht begreifen, dass
dieselben Engländer, die uns das Gehen beigebracht hatten, uns hier wieder
gefangen hielten.
Ich habe Tag und Nacht geweint und konnte es nicht begreifen,
warum das sein musste.
Zum Glück hatte ich gute Freunde, die alle von verschiedenen
Konzentrationslager kamen. Meistens waren es ganz alleinstehende Menschen, die
sich für die Kibbuzim meldeten.
Endlich kam der Tag als mich Esther abholte. Sie nahm mich zu
sich nach Hause, wo sie mit ihrem Mann und Sohn nur ein Zimmer bewohnte.
Meine schweren traumatischen Erinnerungen werde ich niemals
los. Es lebt noch alles in mir.
Meine geliebte Mama wird für mich immer heilig bleiben. Gott
segne ihr Andenken. Sie war mein Schutzengel in den bittersten Zeiten.
Judith Jaegermann
Israel, Dezember 1985 |