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[Die Erinnerung von Überlebenden]
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Tollkühner Widerstand:
Befreiung aus dem Deportationszug

zdf.de / 25.05.2004 Frontal21
Daniela Breitbart und Astrid Randerath
© ZDF 2004

Ihre Widerstandsaktion war mehr als spektakulär: Ausgestattet mit gerade mal drei Kneifzangen, einer roten Sturmleuchte und einem Revolver überfallen drei junge Belgier 1943 einen Deportationszug, der von Mechelen nach Auschwitz unterwegs ist.

Willy BerlerWilly Berler, ein Überlebender von Auschwitz, über die ungewöhnliche Tat im besetzten Belgien: "Ich glaube, dass der Überfall auf den 20. Transport eine der größten Widerstandsaktionen überhaupt war."

Drei Leute mit einer Laterne und einem Revolver, die einen gut bewachten deutschen Transportzug aufhalten wollen, dazu gehört mehr als Mut, dazu gehört Tollkühnheit.

"Ins Leben gesprungen"

Régine KrochmalRégine Krochmal, eine Überlebende der Deportation, erzählt: "Ich habe die Gitter durchgesägt, dann habe ich mich festgekrallt und darauf gewartet, dass der Zug langsamer wird." Simon Gronowski, ein weiterer Überlebender, kann sich ebenfalls noch gut erinnern: "Mit einem Satz bin ich ins Leben gesprungen. Ich hatte eine Zukunft, konnte ein ganz normales Leben führen."
Am 19. April 1943 springt der damals elfjährige Simon Gronowski in sein neues Leben. Nicht ahnend, wohin der Zug unterwegs ist: nach Auschwitz.

Im Mai 1940 besetzen die Deutschen Belgien. Danach beginnt für 25.000 Juden der Abtransport in die Konzentrationslager. Mit 27 Zügen rollen die Menschen ins Vernichtungslager und wissen nicht, was auf sie zukommt.

Robert MaistriauWiderstandskämpfer Robert Maistriau erinnert sich: "Man sagte, dass sie ins Feldarbeitslager in Polen geschickt würden, und viele Juden glaubten das auch. Wir wussten nicht, was wir glauben sollten. Aber wir hielten die Befreiung der Gefangenen für einen höchst humanitären Akt."

Gewagter Plan

Die Befreiung der Gefangenen war ein gewagter Plan, den Robert Maistriau und seine Schulfreunde Jean Franklemon und Youra Livchitz aushecken. Livchitz, ein junger Brüsseler Arzt, ist der Kopf der Gruppe. Als Kommunist und Jude druckt er in einem Künstleratelier Flugblätter gegen die verhassten Deutschen. Hier fasst er den ungeheuren Plan, den Deportationszug zu überfallen.

Gedenkstein am früheren Sammellager in MechelenEin Gedenkstein am Gebäude des früheren Sammellagers

In der Stadt Mechelen war das zentrale Sammellager für alle belgischen Juden vor der Deportation nach Auschwitz. Unter ihnen ist die junge Kranken-schwester Régine Krochmal. Sie soll am 19. April 1943 nach Auschwitz fahren. Als sie einsteigen will, warnt sie ein Arzt und gibt ihr ein Messer.

Régine Krochmal über die Tat des Arztes: "Er hat sein Leben riskiert! Wenn die Deutschen ihn dabei gesehen hätten, hätten sie ihn getötet. Er hat gesagt: 'Schneid' die Gitter durch, denn man wird dich verbrennen.'"

Sie will fliehen und ist nicht die einzige. Häftlinge schmuggeln Zangen und Messer aus den Werkstätten des Lagers in den Zug - in der Hoffnung, die Waggontüren von innen öffnen und entkommen zu können. Sie ahnen nicht, dass ihnen Landsleute von außen zu Hilfe kommen wollen.

"Warum soll ich mein Leben riskieren?"

Der Zug rollt an. Einigen jungen Männern gelingt es, das Fenster zu öffnen und aus dem fahrenden Zug zu springen. Schließlich ist die Reihe an Willy Berler.

Berler erinnert sich noch an diesen Moment: "Ich war schon mit dem halben Körper aus dem Fenster draußen. Da sah ich meinen Vorgänger, der vor mir gesprungen war, wie er mit dem Kopf zwischen zwei Stoßdämpfer kam. Sein Kopf explodierte wie eine Melone. Das war wohl der erste Tote, den ich in meinem Leben gesehen habe. Daraufhin ließ ich mich in den Waggon zurückfallen und sagte mir schließlich: Warum soll ich mein Leben riskieren? Ich fahre zur Arbeit, ich bin jung, ich bin kräftig. Ich werde eben arbeiten."

Einmal durch die Hölle

Willy Berler entscheidet sich, nicht zu springen und fährt mit dem Zug nach Auschwitz. Heute sagt er darüber, dass er einmal durch die Hölle gegangen ist. Berler aus der Rückschau: "Wenn ich nur die leiseste Idee gehabt hätte, was mich erwartet: Da wäre ich ganz bestimmt gesprungen."

Rote Laterne auf den Gleisen

Während Willy Berler im Zug verharrt, bereiten die Widerstandskämpfer den Überfall vor. Um den Zug zum Anhalten zu zwingen, stellen sie eine rote Laterne auf die Gleise. Nur mit ein paar Kneifzangen wollen sie dann die Waggons aufbrechen und die Menschen befreien. Zeitgleich überlegt der kleine Simon, vom fahrenden Zug zu springen.
Simon GronowskiSimon Gronowski erinnert sich: "Meine Mutter sagte auf Jiddisch zu mir: 'Der Zug fährt zu schnell.' Das waren die letzten Worte, die ich von ihr hörte. Plötzlich ist der Zug langsamer geworden, und in diesem Moment bin ich gesprungen."

"Drei wunderbare Helden"

Krochmal über ihr Erleben der Situation: "Es war Vollmond, es war eine ganz klare Nacht. Ich bin herausgesprungen, und in diesem Moment blieb der Zug stehen. Warum? Weil die drei wunderbaren Helden den Zug zum Anhalten gebracht hatten. Ich habe mich hingekauert und mir Erde in den Mund gesteckt, um nicht aufzuschreien, wenn ich entdeckt werde."

Maistriau ist etwas anderes in Erinnerung geblieben: "Ich war überrascht von der ungeheuren Stille in diesem Moment. Man hörte keinen Laut, kein Vogelzwitschern. Nichts außer dem Zischen der Lokomotive. Ich ging zum Zug und stand direkt vor einem Waggon. Ich nahm meine Werkzeuge, öffnete die Tür. Mir standen etwa 50 Menschen gegenüber, die alle schwiegen."

Die ganze Nacht gelaufen

17 von ihnen springen aus dem Waggon. Ein sehr gefährlicher Moment, denn der Zug wird von schwer bewaffneten SS-Leuten begleitet. Der kleine Simon steht allein auf den Gleisen, als Schüsse fallen.

Für Simon Gronowski waren es die letzten Momente bei seiner Mutter: "Ich höre, wie die Wachen in meine Richtung laufen, weil sie etwas bemerkt hatten. Sie schießen und schreien. Meine Mutter konnte nicht mehr springen. Ich bin in den Wald gelaufen, die ganze Nacht bin ich gelaufen, aber meine Mutter habe ich nie wiedergesehen."

Transportliste für Züge nach AuschwitzSimons Mutter wird in Auschwitz ermordet. Der kleine Simon flieht und hat Glück. Er wird von Landsleuten versteckt. In den Deportationslisten müssen die Nazis ihn, Regine Krochmal und fast 200 weitere Juden als geflohen vermerken.

Ende im KZ

Der Hass der Nazis trifft die Befreier des Zugs. Sie werden gefasst und kommen selbst ins KZ. Ihr Anführer Youra Livchitz wird am 2. Juni 1943 zum Tode verurteilt und erschossen. Diejenigen, die sich befreien konnten, verdanken ihr Leben den drei Widerstandskämpfern von Mechelen.

Literaturhinweis:
Marion Schreiber: Stille Rebellen. Der Überfall auf den 20. Deportationszug nach Auschwitz.
Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 2002, 360 S.

haGalil onLine 28-05-2004

 

Jüdische Weisheit
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