Der Mann, der die Sterne sammelt
Der Berliner Wolfgang Haney hat ein einzigartiges Mosaik aus den
Schrecken der Vergangenheit geschaffen: Er sammelt "alles zu Getto und KZ". Mehr
Judensterne als das Holocaust-Museum in Washington hat er. Die Sammlung machte
ihn krank. Und half, mit der eigenen Geschichte zurechtzukommen
von TOBIAS ASMUTH
Auf einmal steht er schnell auf, es ist schon Abend
geworden, ihm ist etwas eingefallen, er geht zum Regal, sucht zwischen Papieren
und Büchern, wo bloß, ja hier, er schlägt einen Ordner auf: "Sehen Sie sich doch
einmal diesen schönen Judenstern an, ein seltenes Stück, auf dem Juif und Jood
steht. So einen habe ich nur einmal in der Sammlung."
Mein Gott, denkt man, was soll man darauf sagen. Man
schaut auf den vergilbten Stern, auf das seltene Stück, unter dem
handgeschrieben "Aus Belgien" steht. "Wissen Sie", sagt er, "ich habe mehr
Sterne als das Holocaust-Museum in Washington. Es gab ja über sechzig
verschiedene Judensterne." Dann blättert er weiter, jede Seite im Ordner ein
Stern, er hat fast alle sechzig.
Das ist schon die Geschichte. Wie jemand
Sammlerbörsen abgrast, angetrieben von der Furcht, den einen Stern zu verpassen,
der die Serie komplett macht, wie er auf Trödelmärkten das fehlende Stück findet
- und dazu dieses Glücksgefühl, das so einzigartig ist wie das lange gesuchte
Teil. "Ich bin stolz auf diesen Ordner", sagt er, "er hat mich viel Zeit und
viel Geld gekostet." Und das ist nur der halbe Preis, den der Sammler Wolfgang
Haney bezahlt hat. Seinen inneren Frieden hat ihn seine Leidenschaft auch
gekostet, was wohl daran liegt, dass seine Besessenheit sich nicht auf
Briefmarken, Schneekugeln oder Sarotti-Mohren richtet.
"Ich sammele alles zu Getto und KZ."
"Alles?"
"Ja, alles."
Also setzt er sich wieder hin, berichtet in
Stichworten von seiner Sammlung, nun ruhig und sachlich wie ein Dokumentarist.
Da gibt es Lebensmittelkarten aus Lodz oder Brotmarken aus dem Getto in
Shanghai, da liegt zwischen Klarsichthüllen KZ-Geld, das in den Lagern die
Ersatzwährung war, neben Zigarettenprämien für Häftlinge, auf einem amtlichen
Schreiben wird die Einladung zur öffentlichen Hinrichtung eines
"Volksschädlings" ausgesprochen, und ein Gestapo-Formular hält die "korrekte
Überführung" des Friedrich Hirsch nach Auschwitz fest: Abgeholt um 12:58 Uhr,
Eingang, Kenntnisnahme, Stempel. Am Ende die Fotografien: Juden, deren Geschäfte
zerstört werden, Juden, denen die Bärte abgeschnitten werden, Juden, die
abtransportiert werden. Früher hätten die Militaria-Händler aus den Alben nur
das rausgenommen, was gut ging - also Bilder von U-Booten, Bombern,
Fallschirmjägern, Ritterkreuzträgern -, und den Rest einfach weggeschmissen:
"Jetzt haben sie auch einen, der Juden sammelt." Wolfgang Haney macht eine
Pause, verzieht das Gesicht, er bereitet ihm Unbehagen, der letzte Satz, er
trifft es nicht: "Eigentlich sammle ich ja Tote."
Zum Beispiel hier, eine zerstörte Synagoge in
Russland, mittendrin grüßen drei Wehrmachtssoldaten. Das Foto wurde als
Postkarte verschickt, hintendrauf steht: "Liebe Hilde, freue mich schon auf
Kaffee und Kuchen auf Deinem Balkon. Ein Sieg Heil!" Das Bild hat Wolfgang Haney
krank gemacht. Die Abwesenheit der Juden aus der Synagoge hat ihn mehr gequält
als die Fotografien von Erhängten und Erschossenen. Als dann auch noch ein
Freund sagte, er fühle sich in seinem Haus, als säße er auf einem Berg von
Leichen, da hat er nicht mehr richtig geschlafen und bekam einen Ausschlag. Die
Sammlung begann, ihn auszusaugen, er fühlte sich müde und niedergeschlagen.
"Warum haben Sie dann mit dem Sammeln nicht
aufgehört?"
Er stutzt, überlegt, wischt er mit einer Hand über
den Tisch und lehnt sich im Stuhl zurück. "Der Gedanke ist mir nicht gekommen.
Ich habe meine Sammlung lieber neu geordnet."
Die quälende Neugier
Man kann auch sagen: Wolfgang Haney hat das Grauen
klassifiziert. Er hat seine knapp 7.000 Objekte in über 60 Ordner eingesperrt,
von denen die eine Hälfte rot und die andere schwarz ist. Rot bedeutet
Bürokratie und Verwaltung, schwarz Mord und Tod. Rot oder schwarz, dazwischen
gibt es nichts. Das klingt einfach, vielleicht zu einfach. Und es fällt Wolfgang
Haney schwer, zu erklären, warum ein Plakat, das die Erschießung von jüdischen
Geiseln ankündigt, in einer roten Kladde und eine Lebensmittelkarte aus dem
"polizeilichen Durchgangslager" Amersfoort zwischen schwarzen Leitz-Deckeln
steckt. Könnte schon sein, dass da ein Widerspruch ist und beides besser zu rot
oder doch zu schwarz gehören sollte. Schlimm aber ist das nicht, denn wichtig
ist nur: Er trifft die Entscheidung, er ordnet den zusammengetragenen Horror zu
einem System, das nach einer simplen, doch strengen Regel funktioniert. Das
Gefühl, die Macht über seine Sammlung zu haben, das hat ihn gerettet, sagt
Wolfgang Haney.
"Fühlen Sie sich eigentlich manchmal wie ein
Süchtiger?"
"Aber sicher."
"Oft?"
"Aber ja doch."
Deshalb müsse er seine Sammlung auch immer um sich
haben. Das sei wohl die Angst vor dem Entzug. Kein Lächeln, kein Zwinkern.
Man muss es sich so vorstellen: Wolfgang Haney sitzt
jeden Tag am Esstisch im Wohnzimmer mit Blick in den kleinen Garten. Schwere
Gardinen. Warmer Teppich. Und auf der Anrichte Ordner, Kataloge, Broschüren,
Briefe. Er steht ständig in Kontakt mit Kuratoren und Museen, die seine Sterne
ausstellen möchten oder um die Leihgabe eines Fotos bitten. Heute hat er an das
Simon-Wiesenthal-Zentrum in Wien geschrieben. Die Fachleute dort sollen für ihn
Bilder bestimmen, auf denen ein Getto irgendwo in Polen zu sehen ist. "Ich muss
immer herausfinden, was ich da erworben habe." Er hat sonst keine Ruhe. Es ist
die Neugier, die ihn quält, und es sind seine eigenen Erinnerungen an die Zeit,
deren schrecklichen Auswurf er sammelt. "Ich weiß, was ein Pass, ein Bild, eine
Nummer im Dritten Reich bedeutet haben. Sie konnten über Leben und Tod
entschieden." So wie im Winter 1944/45 als Wolfgang Haney in eine Kontrolle am
Bahnhof Friedrichstraße gerät und der SS-Mann ihn fragt: "Was bedeutet das in
Ihrem Wehrpass?"
"Aber das sehen Sie doch. Ersatzreserve 2: Nicht zur
Verwendung vorgesehen."
"Warum?"
"Meine Mutter ist Jüdin."
Der Mann schmeißt das Papier weg und brüllt: "Du Schwein, du wirst uns auch noch
überleben."
Wolfgang Haney hat damals seinen Pass vom
Bürgersteig aufgehoben und sich fest vorgenommen, genau das zu tun: zu
überleben. Er hat die letzten Monate des Krieges in einer Arbeitsbrigade
verbracht, nachdem er von der Schule verwiesen worden war und nicht studieren
durfte. Auch sein Vater hat in einem so genannten Strafbataillon gearbeitet, er
musste Bomben entschärfen, weil er sich von seiner Frau nicht scheiden lassen
wollte. Knapp berichtet Wolfgang Haney vom Glück der Familie, dass seine Mutter
der Verfolgung entkommen konnte. Zuerst habe sie in der Blindenwerkstatt von
Otto Weidt gearbeitet, die für zahlreiche Berliner Juden eine Zuflucht war.
Dann, als sie morgens dorthin zur Arbeit will, warnt sie eine Nachbarin, dass
die Gestapo die Werkstatt durchsucht. "Danach haben wir sie im Wald in der Nähe
von Berlin versteckt." Nach Kriegsende hat sie erfahren, dass ihr Bruder in
Auschwitz umgebracht wurde.
"Haben Sie den Stern Ihrer Mutter in der Sammlung?"
Er schaut ein bisschen erstaunt. Die Idee überrascht
ihn. "Nein, nein, die Zeit damals war anders."
Alle Geheimnisse
Die Zeit war so, dass Wolfgang Haney nach dem Krieg
nach Israel auswandern wollte, die Einreisepapiere waren schon fertig, aber dann
ist er doch nicht gegangen: das fremde Land, die neue Sprache: "Außerdem habe
ich mich nicht als Jude gefühlt. Meine Mutter war sehr assimiliert, Religion
spielte bei uns keine Rolle."
Er blieb also in Deutschland, dessen Bürger er
eigentlich nicht mehr sein wollte. Er wurde Ingenieur und hat Berlin
mitaufgebaut. Es war seine Stadt, aber nicht mehr ganz sein Land. Erst später,
da war er schon fast sechzig Jahre alt, hat er mit dem Sammeln angefangen. Erst
das KZ-Geld (es faszinierte ihn, dass es so etwas gegeben hatte), dann kamen
antisemitische Postkarten dazu, bald auch Lebensmittelscheine und die Sterne. Er
nennt sie Splitter aus der Vergangenheit.
Splitter sind klein, sie können schnell verloren
gehen. Wolfgang Haney hat deshalb in seinem Keller zwei schwere Tresore, in
denen die Ordner liegen. Er hat geträumt, ein Wasserrohrbruch habe alles
fortgespült. Das wäre das Ende. Ein Sammler ohne Sammlung, das ist wie ein König
ohne Land, nur er kennt alle Orte in seinem Reich. Alle Wege. Alle Geschichten.
Außerdem weiß Wolfgang Haney, dass aus den Splittern etwas sehr Kostbares
entstanden ist, ein Ausschnitt der Wirklichkeit, ein Bild der Vergangenheit. So
hat es ihn auch nicht wirklich überrascht, dass die Stadt Ludwigsburg überlegt,
seine Sammlung zu erwerben und in einem kleinen Museum auszustellen.
"Stolz?"
"Erstens: stolz, zweitens: erleichtert, dass meine Arbeit zusammenbleiben
könnte, drittens:
"
"Ja?"
"Erschrocken. Ich kann mir eine Trennung noch nicht vorstellen. Erst soll meine
Sammlung weiter wachsen."
Die Händler kennen mittlerweile den Mann, "der die
Juden sammelt". Kommende Woche trifft er einen alten Esten, der ihm
antisemitische Plakate aus dem Baltikum verkaufen will.
Etwas für die roten und schwarzen Ordner.
taz Berlin lokal Nr. 7126 vom 9.8.2003
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17-08-2003 |