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20 • Johan Lansen und Alexandra Rossberg
In dem Beitrag Die Adoleszenz der Zweiten Generation beschreibt David de Levita einen psychodynamischen Rahmen der Enrwicklungspsychologie. Er offenbart die Bedeutung der unterschiedlichen Phasen für die Entwicklung des Identitätsgefühls und das mögliche Scheitern in der Adoleszenz.
Eltern, die die Schoa überlebt hatten, waren oft traumatisiert, und der Umgang mit ihren Kindern war von den Folgen ihres Traumas gekennzeichnet. "Normale" Eltern geben ihre Erwartungen zu Gunsten der Kinder auf: Sie sind bereit das, was ihr Kind zu bieten hat, als die Erfüllung ihrer Erwartungen hinzunehmen. Traumatisierte Eltern können ihre Erwartungen oft nicht aufgeben, zumal wenn schon ein Kind während der Verfolgung getötet worden ist. Der Neuling ist nicht das Kind, auf das die Mutter gewartet hat; es ist nicht die Erfüllung ihrer Erwartungen. Das neue Kind ist nicht das Kind, das sie liebt. Der Autor gibt drei Beispiele dieser Problematik und Behandlung.
Der Beitrag Die Zweite Generation: Forschung, Theorien und Schlussfolgerungen in den Niederlanden von Johan Lansen gibt eine Übersicht über diesen Bereich.

Die Therapeuten, die als erste die typische Problematik in der jüdischen Nachkriegsgeneration feststellten, meinten zuerst, dass alle der Zweiten Generation Zugehörigen betroffen seien. Bald zeigte sich, dass dies nicht der Fall war. In den späteren Publikationen richtet sich das Interesse besonders auf die Art und Weise, in welcher die unverarbeiteten Verfolgungstraumata der Eltern die Entwicklung ihrer Kinder beeinflusst haben. Die Problematik zeigt sich in drei Bereichen: emotionales Gleichgewicht, Erlangen gefühlsmäßiger Autonomie und Identitätsbildung.

In den Niederlanden wurden zu diesem Thema mit staatlicher Förderung verschiedene wissenschaftliche Forschungen möglich; einige davon werden hier beschrieben. Als Folge der Ergebnisse dieser Erhebungen hat die Regierung besondere Unterstützungsmaßnahmen für die Zweite Generation subventioniert. Inzwischen blieb auf internationaler Ebene eine Kluft zwischen den Ansichten der Kliniker und der Forscher bestehen. Die Forschungsarbeit mit kontrollierten Studien konnte im Allgemeinen nicht bestätigen, was die Kliniker gefunden hatten.

Es folgt die Beschreibung, wie ein neuerer und noch fast unbekannter Beitrag in den Niederlanden des Forschers Peter van der Velden die Kluft zwischen Klinikern und Forschern überbrückt hat. Seine Forschung besteht in einer epidemiologischen Untersuchung der sogenannten Indischen Gruppe, d.h. der rassisch sehr gemischten Gruppe der Menschen, die wegen ihrer niederländischen Nationalität im II. Weltkrieg von den Japanern interniert wurde. Ein Teil dieser Studie betrifft die Frage der transgenerationellen Traumatisierung. Sie bestätigt die Hypothesen der Übertragungsmechanismen, die aufgrund der Studien über die jüdische Zweite Generation schon aufgestellt worden waren.

Der Beitrag Gefühle und Belastungen in der Arbeit mit Schoa-Opfern und anderen Extremtrauntatisierten von Johan Lansen beschreibt die Folgen emotionaler Belastung durch diese Arbeit für die Therapeuten selber. Anfang der 90-er Jahre des letzten Jahrhunderts ist zunehmend allgemein akzeptiert worden, dass die Konfrontation mit den grauenvollen Erzählungen der Traumatisierten menschlicher Gewalt und Verfolgung eine schwere Last für Therapeuten sein kann. Das gleiche gilt für die Gegenübertragung und andere Phänomene in der therapeutischen Interaktion. Negative Ansichten in der Gesellschaft, z.B. über Flüchtlinge, können die Arbeit erschweren. Die Beschädigung bei Therapeuten wird u.a. Sekundärer traumatischer Stress genannt. Die Symptome der Betroffenen ähneln manchmal den Symptomen der traumatisierten Menschen selbst (wie PTBS). Sie können aber auch als allgemeine Erschöpfung oder Persönlichkeitsveränderungen erscheinen. Der Autor beschreibt einen typischen Vorgang in der therapeutischen Interaktion, nämlich die projektive Identifikation, die der Entstehung von Sekundärem traumatischen Stress zugrunde liegen kann. Auch kann davon ein ganzes Team betroffen sein. Diese Erkenntnisse bieten Ansatzpunkte für die Behandlung und Prävention, sowohl für einzeln Arbeitende als auch für Behandlungsteams. Sie werden kurz beschrieben.
Teil III Entschädigung und zeitgemäße psychiatrische Begutachtung
Im dritten Teil findet man Beiträge von Experten psychiatrischer gutachterlicher Tätigkeit für die Anerkennungsverfahren bei deutschen Entschädigungsbehörden.
David de Levita berichtet in seinem Aufsatz Einige Erfahrungen mit der Begutachtung im Rahmen der Entschädigung von Verfolgten in den Niederlanden über die Entwicklung der Richtlinien von Kriegsende über die Einführung der umgekehrten Beweislast bis zur heutigen Situation. Er spricht von realen, aber in der Fachwelt kaum zur Kenntnis genommenen Spätfolgen des Traumas. Dazu gehört auch das von ihm so genannte Diachron-Trauma. Diachron bedeutet geschichtlich, enrwicklungsmäßig betrachtet. Er stellt den Bezug der Situation der während der Verfolgung alten Menschen zu der Situation der heute alten Überlebenden her. Dann kommt er noch auf die niederländischen Entschädigungsleistungen für die Zweite Generation zu sprechen, für deren Voraussetzungen sich in den letzten Jahrzehnten auch Grundlegendes geändert hat.
Reinhart Lempp schreibt in dem Beitrag Lernen von den Überlebenden über psychische Folgeschäden in Anbetracht der unangemessenen Entschädigungsregelung für die Opfer des Naziterrors. Bei deren Feststellung und Beurteilung gibt es besondere Probleme. In der verankerten Lehrmeinung der Psychiatrie kamen psychische Dauerschäden als Folge von Verfolgungstraumata und
22 • Johan Lansen und Alexandra Rossberg
Extrembelastungen weder bei Erwachsenen noch bei Kindern vor. Gleichzeitig löste sich die Psychoanalyse nicht von dem Dogma, dass nur Traumen in der frühen Kindheit neurotische Fehlhaltungen hervorrufen könnten. Reinhart Lempp selber musste wie andere Gutachter aus den vorliegenden Fakten lernen. Erst in den späten 80-er Jahren des letzten Jahrhunderts wurden Nachbegutachtungen möglich, die neue Erkenntnisse boten. Die zuvor beschriebenen Spätfolgen waren noch lange nicht die letzten. Es gibt Folgen bis in die nächsten Generationen hinein.
In seinem Beitrag Die Einschätzung einer verfolgungsbedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit bei psychischen Störungen nach Verfolgung im Kindes- und Jugendalter führt Reinhart Lempp seine Auseinandersetzung über den psychischen Schaden nach Verfolgung weiter. Bei der Feststellung der verfolgungsbedingten Erwerbsminderung wurden seiner Meinung nach die neuen Erkenntnisse nicht angemessen berücksichtigt. Er bezieht sich dabei auf die offiziellen Anhaltspunkte für die ärztliche Begutachtung. Er stellt dazu vier wichtige Fragen und beantwortet sie kritisch.
Der Beitrag Psychiatrische Expertise von Haim Basberg ist ein Bericht über die Wahrscheinlichkeit des späten Ausbruchs von PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung) bei Holocaust-Überlebenden im fortgeschrittenen Alter. Als Sachverständigengutachten wurde es als unterstützendes Beweismaterial beim Herantreten an die deutschen Behörden erstellt in der Absicht, die gegenwärtigen Entschädigungsgesetze zu verändern, welche die Einreichung neuer Anträge nach dem Jahr 1969 ausschließen.
Anstatt im Alter allmählich nachzulassen, verschlimmert sich viel mehr das chronische posttraumatische Leiden in zahlreichen Fällen. Nicht nur über jüdische Holocaust-Überlebende, sondern über eine enorme Anzahl anderer passiver Opfer oder aktiv Beteiligter aus der Epoche des II. Weltkriegs wird berichtet, dass sie an spät beginnenden, posttraumatischen Reaktionen leiden. Der Autor zitiert in diesem reichen Beitrag aus einer großen Menge von Forschungs- und Untersuchungsergebnissen vieler Experten aus diversen Ländern.
Teil IV Child Survivors an ihre Schicksalsgefährten
Im vierten Teil möchten die Autoren in kurzen Beiträgen ihre Schicksalsgefährten ansprechen und ihnen aus eigener Erfahrung sagen, dass das Mitteilen und das Wiedererlangen der Erinnerung heilend sein kann, auch wenn dies nicht immer schmerzlos geschieht. Haim Dasberg spricht über das Paradoxe der Treffen von Child Survivors, Louis Tas über das Mit-teilen, Robert Krell über das Geheimnis und die Würde der sehr jungen Child Survivors und Rachel Maier über die Bedeutung dieses Buches für sie ganz persönlich: Es kommt ein Buch, es kommt ein Buch ...

Zu den Autoren

Chris Barneveld (1927-1998 Niederlande), Psychiater und Psychotherapeut, war zuerst als niedergelassener Allgemeinmediziner und Hausarzt tätig. 1970 trat er in den Dienst des Sinai Centrum Amersfoort und arbeitete sowohl in der Klinik als auch im ambulanten Bereich. Er wurde dort vom Direktor und Chefarzt Dr. Armand Sunier zum Psychiater ausgebildet. Als Psychiater arbeitete er für das Sinai Centrum weiter und übernahm 1983 die Leitung des Behandlungsteams des ambulanten Instituts in Amsterdam. Dort war er Ausbilder im Fachbereich Soziale Psychiatrie. Er verfügte über große Erfahrung in der Behandlung von Kriegs- und Verfolgungsopfern und gab nach seiner Pensionierung verschiedene Kurse beim ICODO, dem nationalen Institut für Information und Dokumentation auf diesem Gebiet.

Prof. Haim Dasberg (Psychiater, Jerusalem), geboren 1930 in Amsterdam, hat als Kind und Teenager die Schoa in Holland überlebt. Im Alter von 19 Jahren emigrierte er nach Israel, wo er als Psychiater ausgebildet wurde. Über viele Jahre war er Direktor des psychiatrischen Krankenhauses Ezrath Nashim und dessen Ambulanz in Jerusalem. Als Professor der Psychiatrie bildete er Psychiater und Psychotherapeuten in Jerusalem aus. Er publizierte viel; seine zahlreichen Beiträge über Spätfolgen des Holocaust und entsprechendes 'Care' für die Überlebenden haben die Literatur über Trauma sehr bereichert. Acht Jahre lang hatte er den ersten Lehrstuhl Psychosoziak Folgen des Holocaust an der Bar Ihm Universität inne. Gerne stellt er die Fragen, worüber nicht gesprochen wird, und verfügt über größte Erfahrung auf dem Gebiet der Psychotherapie mit Child Survivors. Er war Mitbegründer von psychosozialen Diensten für Schoa-Überlebende in Israel, ELAH und AMCHA, und von ESRA.

Leo Eitinger (1912 -1996) wurde in der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn geboren und in der Tschechoslowakei zum Mediziner ausgebildet. 1939 floh er nach Norwegen und wurde von dort während der Deutschen Besetzung nach Auschwitz deportiert. In Norwegen zum Psychiater ausgebildet, wurde er Professor der Psychiatrie an der Universität von Oslo. Er publizierte über 20 Bücher, u.a. eine Bibliographie, größtenteils über den Holocaust und dessen psychische Folgen, das gilt auch im Wesentlichen für seine über 150 Artikel (siehe Leo Eitinger in memoriam). Zudem stammen von ihm psychiatrische Lehrbücher über Neurosenlehre, Psychosen und Forensische Psychiatrie.
Er war Mitglied zahlreicher ausländischer und norwegischer Medizinischen Gesellschaften, der norwegischen Wissenschaftlichen Akademie und der Königlichen Akademie der Kunst und Wissenschaft sowie Empfänger von zahlreichen wissenschaftlichen Auszeichnungen, u.a. dem Preis für das freie Wort und Kommandeur des Sankt Olaf Orden in Norwegen. Er starb 1996 in Oslo.
 

Han Groen-Prakken, 1927 in Amsterdam geboren, ist Ausbildungsanalytücerin der Nederlandse Vereniging voor Psychoanalyse. Sie war wissenschaftliche Hauptmitarbeiterin in der Abteilung Kinderpsychiatrie der Universität von Amsterdam und danach therapeutische Mitarbeiterin des Niederländischen Psychoanalytischen Instituts. Sie war aktiv beteiligt an der Entwicklung der Psychoanalyse in ehemaligen Ostblockländern. Ihre Publikationen betreffen u.a. Entwicklungsphasen Erwachsener, technische Probleme in der Behandlung von Erwachsenen und das Thema Trauma und Entwicklungsinterferenz.
Dr. phil. Dierk Juelich (Jahrgang 1945) ist niedergelassener Psychoanalytiker (DPV/IPA), Kliniktätigkeit in Hamburg und war 1983 -1992 Lehrbeauftragter an der Universität Bremen. Forschungsgebiet: Spätfolgen des Nationalsozialismus in der intrapsychischen Struktur. Diverse Veröffentlichungen zu diesem Thema, u.a. (Hrsg.): Geschichte als Trauma. Frankfurt/Main 1991 und 1999. Prof. Robert Krell (Kinderpsychiater, Vancouver), geboren 1940 in Amsterdam, hat als Kind die Schoa in Holland überlebt. Als 11-Jähriger emigrierte er mit den Eltern nach Kanada. Er ist Professor em. der Psychiatrie an der University of British Columbia. Sein frühes audio-visuelles Zeitzeugen-Projekt mit 120 Überlebenden war Vorlage für andere. 1983 rief er in Los Angeles die erste Gruppe für Child Survivors ins Leben, 1985 leitete er den ersten Kongress zu diesem Thema. Von ihm sind viele Publikationen erschienen, u.a. Research Bibliographien (zusammen mit Leo Eitinger 1985 und mit Marc Sherman 1997) über körperliche und seelische Folgen von Konzentrationslager auf Überlebende.

Johan Lansen Jahrgang 1933, Niederlande) ist Psychiater und Psychoanalytiker. Von 1981 bis 1992 war er medizinischer und allgemeiner Direktor vom Sinai Centrum, der jüdischen psychiatrischen Gesundheitsfürsorge in Amsterdam und Amersfoort (Niederlande); 1982 -1992 Ausbildungsleiter für psychodynamische Psychotherapie in der Ausbildung von Psychiatern in Zentral-Holland. Seitdem war er aktiv involviert als Berater, Supervisor und Dozent beim Aufbau von ESRA Berlin und bei verschiedenen Projekten in Europa im Bereich der psychosozialen Versorgung und Behandlung der Opfer von Krieg und Verfolgung. Er leitet im Auftrag der nationalen Zentren Centrum 45, ICODO und Sinai Centrum einen Kurs zur Ausbildung von Supervisoren in diesem Bereich. Seine Publikationen betreffen besonders Spätfolgen bei Opfern von Krieg und Verfolgung und ihre Behandlung, emotionale Betroffenheit von Therapeuten sowie Supervision.
Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhart Lempp (Jahrgang 1923, Stuttgart) hat sich als erster nichtjüdischer Kinder- und Jugendpsychiater in Deutschland mit den psychischen Folgen und Spätfolgen des Holocaust bei den überlebenden Kindern und Jugendlichen befasst. Nach Dasberg teilen Psychiater die Vorurteile ihrer Gesellschaft, ihre blinden Flecken, Tabus und Mythen (Myths
Zu den Autoren • 25
2000). Reinhart Lempp ist eine Ausnahme davon. 1979 erschien von ihm -gleichzeitig mit Sequentielle Traumatisierung von Hans Keilson - als erste deutsche Veröffentlichung darüber die Extrembelastung im Kindes- und Jugendalter.
Er studierte Medizin und erhielt seine Facharztausbildung an der Universitäts-Nervenklinik Tübingen unter Ernst Kretschmer. 1963 habilitierte er sich für Neurologie und Psychiatrie, ab 1966 war er ärztlicher Direktor der selbständigen wissenschaftlichen Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Klinikum der Universität Tübingen und dort seit 1971 Ordinarius. Schwerpunkte der wissenschaftlichen Tätigkeit: Organische Psychosyndrome, endogene Psychosen und frühkindlicher Autismus, gerichtliche Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Prof. David Joel de Levita (Kinderpsychiater, Amsterdam), geboren 1926 in Amsterdam, hat als Jugendlicher die Schoa in Holland überlebt. Er wurde ausgebildet als Psychiater und Psychoanalytiker und war über viele Jahre Inhaber des Lehrstuhls für Kinderpsychiatrie an der Universität von Amsterdam. Nach seiner Emeritierung hatte er den ersten Lehrstuhl für Transgenerationelle Folgen von Krieg und Verfolgung an der Katholischen Universität Nijmegen inne. Von ihm stammen verschiedene Publikationen über die Folgen von Traumatisierung durch Verfolgung und ein grundlegendes Werk über den Begriff der Identität (The Concept of Identity 1965). Er hat ein Programm für die Behandlung von traumatisierten Kindern in Ex-Jugoslawien erarbeitet und vermittelte diese Methode dort den professionellen Helfern. Seit 1999 ist er im Vorstand von ESRA-Berlin.
Alexandra Rossberg (Jahrgang 1945) wurde ausgebildet in Psychotherapie mit Extremtraumatisierten und Gruppenanalyse. Sie studierte Psychologie, weil sie verstehen wollte, wie die Schoa geschehen konnte. Anlässlich des 9. Novembers machte sie 1990 in Ostberlin ein internationales Symposium Spätfolgen des Naziterrors für AMCHA möglich. Danach hat sie ESRA initiiert und zusammen mit Dr. Johan Lansen und Dr. Werner Platz, Chefarzt in einer psychiatrischen Klinik in Berlin, aufgebaut. Sie organisiert und leitet seit 1991 die in Deutschland beispiellosen überregionalen ESRA-Treffen für die Zweite Generation und für Child Survivors. Seit 12 Jahren arbeitet sie einzeln oder in Gruppen psychotherapeutisch und beratend mit Überlebenden der Schoa und deren Nachkommen. Dabei hat sie ungewöhnliche Wege im therapeutischen Umgang mit sehr früh und schwer traumatisierten Kindern beschriften.

Leo Eitinger in memoriam

"Die Würde eines Menschen ist sein Eigentum, niemand kann es ihm wegnehmen. Es liegt an seinem eigenen Verhalten", sagte Leo Eitinger an seinem 80. Geburtstag in einem Interview.1
Er kam 1912, in Mähren, damals Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, zur Welt. Seine Ausbildung zum Mediziner erhielt er in der Tschechoslowakei und war damit 1935 fertig. Zwei Jahre später absolvierte er seinen Militärdienst in der Slowakei, war an der Verteidigung eines Flugplatzes gegen ungarische Angriffe beteiligt und kam dabei fast zu Tode. Er arbeitete in seiner Heimat für die Liga für Menschenrechte und half den Flüchtlingen aus Deutschland, die illegal die Grenze überschritten hatten.Er selbst sagt im Interview dazu: "Unsere Aufgabe war, die Flüchtlinge weiter von der Tschechoslowakei über Norwegen nach USA zu schaffen. Hier haben wir mit der Nansen-Hilfe in Norwegen zusammengearbeitet. Im März 1939 war ich plötzlich selbst ein Flüchtling und beantragte ein Visum für Norwegen, was ich auch bekam. Die Deutschen hatten die Tschechoslowakei okkupiert und sie verboten den Ärzten zu reisen, aber 1939 konnte ich reisen, weil ich ein Visum für Norwegen hatte."
Der Journalist schreibt: "Bei sich hatte Leo Eitinger seinen kleinen Neffen. Er wird still, wenn er davon spricht. Als die Deutschen am 9. April 1940 Norwegen überfielen, verlangten die Eltern ihren Sohn zurück. Der Junge kam in der Gaskammer von Auschwitz ums Leben", und weiter: "Leo Eitinger brachte sich Norwegisch bei und arbeitete im Krankenhaus Kroghst0tten in Oslo. Damals mussten ausländische Ärzte eine Lizenz vom König haben, um zu praktizieren. Am 5. April 1940 bekam Leo Eitinger seine Lizenz für eine Stelle im psychiatrischen Krankenhaus in Bodo. Aber dann kam der Krieg, die Flucht nach Vestland (in Norwegen), dramatische Tage in einer Hütte in Lejaskog. Er versuchte über Andalsnes nach England zu kommen, aber das letzte Schiff war schon weg. In Bod0 konnte er aber noch ein halbes Jahr arbeiten bis Quisling dafür sorgte, dass er seine Lizenz verlor, weil er Jude war. Dann kam er wieder nach Vestland, wo er als Sägewerksarbeiter arbeitete und illegal als Arzt tätig war."
Selbst sagt Leo Eitinger: "Im März 1942 wurde ich entdeckt und verhaftet. Fast alle norwegischen Gefängnisse habe ich erlebt. Später kam ich mit der Gotenland nach Stettin und weiter mit dem Zug nach Auschwitz im März 1943."
Als die Rote Armee in Polen einrückte, wurde Leo Eitinger im Januar 1945 auf den Todesmarsch nach Buchenwald geschickt. Dort wurde er am 11. April 1945 befreit.Er sagt: "Ich habe Glück gehabt, ich habe überlebt, ich war Arzt, auch in
1 Interview mit Bjarn Breymer: Menneskerverdet..., Aftenposten, Oslo 12.12.1992, S. 18.
28 • Johan Lansen und Alexandra Rossberg
den Konzentrationslagern. Wir müssen optimistisch sein, sonst können wir nichts ausrichten."
Wovon er in dem Interview nicht sprach: Trotz Mangels an allem und trotz der kriminellen Haltung der SS-Ärzte und der Misshandlungen der Patienten konnte er noch manche Kranke vor dem Tod retten. Er assistierte z.B. bei einer Operation am Fuß von Elie Wiesel, der ohne diesen Eingriff, Betäubungsmittel gab es nicht, sicherlich mindestens den Fuß, und deswegen als Arbeitsunfähiger auch das Leben verloren hätte.
Nach der Befreiung kehrte er nach Norwegen zurück. Obwohl er die Verfolgungsereignisse nicht ganz verarbeitet hatte, wie er in einem Gespräch im Nachhinein gestand, war es für ihn eher eine Quelle von Energie, die ihn als Wissenschaftler inspiriert hat. Angefangen hat es mit dem Studium von Schulkindern und ihrer Lebensumstände in einer norwegischen Kleinstadt, die von Bomben zerstört war. Es folgten Recherchen über den Einfluss des Militärdienstes auf junge Männer in Friedenszeiten.
Später recherchierte er in Norwegen über alle Flüchtlinge, die während der ersten zehn Jahre der Nachkriegszeit von psychiatrischen Institutionen behandelt worden waren. Alle hatten deutsche KZ-Lager überlebt. Das Zuhören und der Versuch zu verstehen waren, so sagt er, für ihn als Psychiater-Überlebender eine gute persönliche Therapie.
1957 wurde er Mitglied eines medizinisch-psychiatrisch-psychologischen Teams der Universität Oslo, dessen Aufgabe das Studium der überlebenden Opfer war. Bei seiner Riesenarbeit wurde er der "Star" dieses Teams. Seitdem hat ihn diese Arbeit nicht mehr losgelassen.
Er hat Überlebende aus fast allen Herkunftsländern, die in Norwegen oder Israel lebten, untersucht. Er hat die Morbidität und die Mortalität aller Norweger festgestellt, die sich während des Krieges in Lagern außerhalb Norwegens befanden. Er hat die wenigen jüdischen Überlebenden unter ihnen bis zu dreißig Jahren nach der Befreiung begleitet.
Zu den mehr als fünfzig Veröffentlichungen über Überlebende aus seiner Feder gehört auch seine wichtige bibliographische Arbeit. Angefangen wurde sie in einem Sabbatical Year in Israel (1979), fortgesetzt wurde sie in Zusammenarbeit mit Miriam Rieck1. Der 1940 in Holland geborene kanadische Psychiater Robert Krell besaß 1980 gleichfalls eine große Literatursammlung. Zusammen haben sie 1985 eine Research Bibliograph}/ herausgegeben2. Eine dritte, ergänzte Auflage ist 1997 kurz nach dem Tode Eitingers (15. Oktober 1996 in Oslo) erschienen3.
Sehr wichtig war ihm zum Ende seines Lebens, dass sein 1985 in Norwegisch erschienenes Buch über Antisemitismus und Fremdenhass Mennesker blant Mennesker [Menschen unter Menschen] in Deutschland veröffentlicht wird. Leider ist uns das bisher nicht gelungen. Damit ein wenig von seinen
Leo Eitinger in memoriam • 29
Gedanken doch in einer deutschen Publikation erscheint, zitieren wir noch einmal aus dem Interview vom 12.12.1992.
Was er denke, wenn er die Neonazis in den deutschen Städten in Aktion sieht? "Ich finde es schrecklich, dass sich dieses wirklich wiederholt. Mit dem Verstand verstehe ich ja den Hintergrund für das, was heute geschieht. Ich weiß, dass es junge Menschen sind, die wenig Erfolg haben. Sie haben persönliche und soziale Schwierigkeiten, sind frustriert und um ihr Vertrauen in sich selbst aufrechtzuerhalten, müssen sie Gruppen, die noch schwächer sind, aufsuchen und sie verfolgen. Das Einzige, was sie noch haben, ist, dass sie der blonden Rasse angehören. Dann hilft es ihrem Selbstvertrauen, blanke Stiefel und blanke Schädel zu tragen. Der Hass hat es in sich, dass er wächst wie ein Tumor und dem Menschen die Fähigkeit raubt, vernünftig zu denken. Das Denken wird von Vorurteilen übernommen, die dann wieder zu sinnlosen Aggressionen führen. Solche hasserfüllten Menschen greifen erst tote Gegenstände an, wie Grabmäler auf jüdischen Friedhöfen, und dann greifen sie Menschen an. Das wirklich Gefährliche ist, wenn es die Bevölkerung akzeptiert, sowohl den Nationalismus als auch die verbrecherischen Gewalttätigkeiten, der Zweck heiligt die Mittel. Das sah man deutlich im Film über Rostock, die Polizei ließ es geschehen."
Ob er meine, der Neonazismus habe in Zukunft noch eine Grundlage? "Ja für einige -leider, man sucht Sündenböcke. Es ist ja leider eine sehr alte Tradition in Europa, dass die Juden die Schuld tragen müssen. Sie waren immer die schwache Minorität und konnten sich nirgends hinwenden. Die Kirchen haben den Hass gegen die Juden unterstützt. Es hieß, dass die Pogrome die ewige Strafe der Juden seien, weil sie Jesus getötet hatten."
Professor Leo Eitinger hatte für ESRA eine große Bedeutung. Er war sehr interessiert an der Arbeit in einer Stadt, die für ihn, wie für viele andere Überlebende des Naziterrors, der Inbegriff der wahnhaften Nazi-Ideologie gewesen war. Er kam trotz seines hohen Alters wiederholt nach Berlin zu Vorlesungen im Rahmen des Aufbaus der Arbeit von ESRA. Auch nachher konnte man sich von ihm telefonisch oder in einem persönlichen Gespräch Rat holen. Seine wörtliche Bitte: "Lasst die Überlebenden nicht alleine", wollten wir erfüllen.
Ihm sei dieses Buch in respektvollem Dank gewidmet.

1. Eitinger, Leo & Miriam Rieck: Bibliographical Collection of Literature Concerning Medical and Psychological Sequelae to Concentration Camp Imprisonment. Haifa 1981.
2. Eitinger, Leo & Robert Krell: The Psychological and Medical Effects of Concentration Camps and Related Persecutions on Sunrivors ofthe Holocaust. A Research Bibliograph}/. With Miriam RIECK. Vancouver 1985.
3. KRELL, Robert & Marc J. SHERMAN: Medical and Psychological Effects of Concentration Camps on Holocaust Survivors. New Brunswick 1997.
30 • Johan Lansen und Alexandra Rossberg
Eine Auswahl der Arbeiten von Dr. Leo Eitinger
1945 Sykehusbehandlingen i konsenstrasjonsleiren Auschwitz [Hospital treatment in
Auschwitz concentration camp]. Tidsskriflfor den Norske Laegeforening. Journal of
the Norwegian Medical Association, 65,159-161. 1958 Psykiatriske undersokelser blant flyktninger i Norge [Psychiatrie Investigations
Among Refugees in Norway]. Oslo, S. 276. 1960 A clinical and social psychiatric investigation of a "hard-core" refugee transport
in Norway. International Journal of Social Psychiatry, 5,261-275.
1960 Psychiatric delayed effects of internment in concentration camps. In: World Veterans Federation Experts (Hrsg.): Meeting on the Late Effects oflmprisonment and Deportation. Oslo 1960, S. 55-66.
1961 Pathology of the concentration camp syndrome. Archives of General Psychiatry, 5, 371-379.
1961 Study of a group of former Norwegian deportees. Part 2: Psychiatric post-conditions in former concentration camp inmates. In: International Conference on the Later Effects of lmprisonment and Deportation Organized by the World Veterans Federation. The Hague, November 20-25, 1961. The Hague: World Veterans Federation, S. 83-88.
1962 Concentration camp survivors in the post-war world. American Journal of Orthopsychiatry, 32,367-375.
1962 Refugees and concentration camp survivors in Norway. Israel Journal of Medical Sciences, 21, 21-27.
1963 Preliminary notes on a study of concentration camp survivors in Norway. Israel Annais of Psychiatry and Related Disciplines, 1, 59-67.
1964 Schizophrenia and Persecution. Ada Psychiatrica Scandinavia, 40,141-146.
1964 Tidligere konsentrasjonsleirfanger I Norge og I Israel [Former concentration camp inmates in Norway and Israel]. Nordisk Medicin, 72, 1207-1212. Auch: Concentration Camp Survivors in Norway and Israel. Den Haag 1972.
1965 Der Parallelismus zwischen KZ-Syndrom und der chronischen Anorexia Nervosa. In: Joachim-Ernst MEYER & Harold FELDMANN (Hrsg.): Anorexia Nervosa. Symposium. 24./25. April 1965 Göttingen. Stuttgart, S. 118-122.
1967 Schizophrenia among concentration camp survivors. International Journal of Psychiatry in Mediane, 3,403-406.
1968 - & Finn ASKEVOLD: Psychiatric aspects. In: Axel STR0M (Hrsg.): Norwegian Concentration Camp Survivors. Oslo, S. 45-84.
1969 Anxiety in concentration camp survivors. Australian and New Zealand Journal of Psychiatry, 3, 348-351.
1969 Psychosomatic problems in concentration camp survivors. Journal of
Psychosomatic Research, 13,183-189. 1969 Rehabilitation of concentration camp survivors (following concentration camp
trauma). Psychotherapy and Psychosomatics, 17, 42-49.
Leo Eitinger in memoriam • 31
1971 Acute and chronic psychiatric and psychosomatic reactions in concentration camp survivors. In: Lennart LEVI (Hrsg.): Society, Stress and Disease. Bd. 1. New York 1971, S. 219-230.
1971 Organic and psychosomatic aftereffects of concentration camp imprisonment. In: Henry Krystal & William Niederland (Hrsg.): Psychic Traumatization: Aftereffects in Individuais and Communities. Boston, S. 205-215.
1971 Psychiatrische Untersuchungsergebnisse bei KZ-Überlebenden. In: Hans-Joachim Herberg (Hrsg.): Spätschäden nach Extrembelastungen . II. Internationale medizinisch-juristische Konferenz in Düsseldorf 1969. Herford, S. 144-152.
1973 A follow-up study of the Norwegian concentration camp survivors' mortality and morbidity. Israel Annais of Psychiatry and Related Disciplines, 11,199-209.
1973 - & Axel STR0M: Mortality and Morbidity after Excessive Stress: A Follow-Up Investigation of Norwegian Concentration Camp Survivors. Oslo-New York: Humanities Press, S. 153 ff.
1975 Jewish concentration camp survivors in Norway. Israel Annais of Psychiatry and Related Disciplines, 13,321-334.
1978 On being a psychiatrist and a survivor. In: Alvin H. ROSENFELD & Irving Greenberg (Hrsg.): Confronting the Holocaust: The Impact of Elie Wiesel. Bloomington, S. 186-230.
1980 The concentration camp syndrome and its late sequelae. In: Joel DlMSDALE (Hrsg.): Survivors, Victims and Perpetrators: Essays on the Nazi Holocaust. Washington, S. 127-160.
1980 Jewish concentration camp survivors in the post-war world. Danish Medical Bulletin, 27,224-228.
1981 Denial in concentration camps. Nordisk Psykiatrisk Tidsskrift, 5,148-156.
1981 - & Axel STR0M: New investigations on the mortality and morbidity of
Norwegian ex-concentration camp prisoners. Israel Journal of Psychiatry and
Related Sciences, 18,173-195. 1983 Jewish concentration camp survivors. In: Ofra AYALON, Leo EITINGER, Johan
Lansen, et al: The Holocaust and its Perseverance: Stress, Coping and Disorder.
Assen, S. 4-16. 1985 The concentration camp syndrome: an organic brain syndrome? Integrative
Psychiatry, 3,115-119.
1990 KZ-Haft und psychische Traumatisierung. Psyche, 44,118-132.
1991 Lebenswege und Lebensenrwürfe von KZ-Überlebenden. In: Hans STOFFELS (Hrsg.): Schicksale der Verfolgten. Psychische und somatische Auswirkungen von Terrorherrschaft. Berlin-Heidelberg, S. 3-16.
1990 Survivors of Gettos and camps. In: Israel GuTMAN (Hrsg.): Encyclopedia of the
Holocaust. Bd. 4, New York, S. 1428-1431.
1993 The aging Holocaust survivor. Echoes ofthe Holocaust, 2, 5-12. 1993 - & Ellinor F. MAJOR: Stress of the Holocaust. In: Leo GOLDBERGER & Shlomo
Breznitz (Hrsg.): Handbook of Stress. Theoretical and Clinical Aspects. (2. Auflage)
New York, S. 617-640.


Und die Welt hat geschwiegen!


LeoEitinger

Am 20. Januar dieses Jahres1 war der 50. Jahrestag der Wannsee-Konferenz. In irgendeiner Weise wurde die grauenvolle Bedeutung dieses Tages wohl überall dort, wo Juden lebten, hervorgehoben. Hoffentlich waren es nicht nur Menschen jüdischer Herkunft, die nachdachten, sprachen, diskutierten und demonstrierten an dem Jahrestag jenes Ereignisses, bei dem eigentlich nur technische und organisatorische Details einer längst beschlossenen und schon praktizierten Ermordung der gesamten jüdischen Bevölkerung Europas erörtert wurden.

Es wären traurige Zustände in einem Rechtsstaat, wenn nur die Opfer von Verbrechen sich mit diesen beschäftigen würden. Noch trauriger wäre es um die Verteidigung der aller primitivsten und grundlegendsten Menschenrechte in der Welt bestellt, wenn nur die wenigen Überlebenden von einem Massenmord ohne seinesgleichen, sich dessen Ursprungs erinnern würden - während alle Anderen, stillschweigend und ohne Interesse an allem, was mit diesem Großverbrechen zusammenhängt, vorbeigehen wollten.

Hier sei keineswegs die Frage aufgenommen, ob die Wannsee-Konferenz, historisch und wirklich, den Tatort und das Anfangsdatum der Schoa darstellt. Darüber können vielleicht Fachhistoriker diskutieren, ohne auf die menschliche Seite dieses Problems einzugehen. Ich möchte hier zuerst die Frage aufwerfen, ob es eigentlich notwendig ist, nachdem man der Wannsee-Konferenz gedacht hat, jetzt auch noch - und wieder - die "Kristallnacht" zum Gegenstand von Gedenkfeiern zu gestalten. Mit anderen Worten: Brauchen wir eigentlich alle diese offiziellen und halb offiziellen Gedenktage? Sollten wir uns nicht auch bald denen anschließen, die einen Schluss-Strich unter die Vergangenheit setzen wollen, die meinen: "Genug ist genug. Lasst uns endlich ein Leben ohne alle diese schrecklichen Erinnerungen beginnen! Und lasst uns den tiefen Abgrund, der zwischen uns, unseren Leiden und Erinnerungen auf der einen Seite und den Tätern und deren Erben auf der anderen, besteht - lasst uns also diesen Abgrund irgendwie zum Verschwinden bringen oder jedenfalls reduzieren!
Selbstverständlich wollen wir alle, dass Konflikte und Gegensätze abgebaut werden. Eine solche Aufforderung kann daher verlockend wirken, ist aber in Wirklichkeit sehr gefährlich. Gedenktage sind mit Ritualen verknüpft. Die meisten Rituale haben wichtige Aufgaben und Bedeutungen, besonders wenn man sie vom psychohygienischen Standpunkt aus betrachtet.
1 Vortrag gehalten am 9.11.1992 in der Jüdischen Volkshochschule Berlin.
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Darf ich einen Augenblick bei Ritualen verweilen? Ritualhandlungen bezeichnen wichtige Veränderungen in unserem Leben, und die meisten Religionen haben verstanden, dass solche Veränderungspunkte irgendwie markiert, "gefeiert" werden sollen. Die allerältesten Rituale haben mit dem Übergang ins Erwachsenenalter zu tun, heißen in der Anthropologie 'Rites ofpassage', und werden von fast allen Stämmen, Völkern, Religionen usw. gefeiert. Selbstverständlich auch von Juden als Bar Mitzwa oder Bat Mitzwa. Übergänge kommen jedoch schon viel früher im Leben vor. Der erste ist ja die Geburt, wo wir uns vom Leben als Embryo zum Leben auf dieser Welt, als selbständige Menschen, umstellen müssen. Die meisten wehren sich dagegen, dass sie selbst lernen müssen zu atmen, aber dies hilft ja nicht viel. Wir müssen ins Leben hinein. Von der Geburt an müssen wir für unsere eigenen biologischen Bedürfnisse sorgen. Im Anfang ist es nur Weinen und Schreien, wodurch wir die anderen auf unsere eigenen Bedürfnisse aufmerksam machen, um dadurch Hilfe zu erreichen. Später müssen wir dann alle diese Aufgaben selbst lösen.
Aber auch für die Eltern ist eine Geburt ein großer Übergang; sie sind nicht mehr zwei sondern drei, sie sind eine Gruppe geworden. Gleichgültig wiederum, ob es ein Stamm, ein Volk, eine Sekte, eine Religion ist, markiert man dieses Ereignis durch Rituale: Rituale, um den Neugeborenen und die ganze, wenn auch nur kleine Gruppe an sich zu knüpfen; um zu zeigen, dass die Eltern und der Neuangekommene zum Volk, zur Sekte, Religion usw. gehören — und dass sie nicht allein in der Welt da sind. Die Eltern lernen auch, dass ihre Verantwortung für den Jüngsten nicht nur sie selbst angeht, sondern die ganze Gemeinschaft bereit ist, mit ihnen zu teilen — nicht nur Freude, sondern auch eventuelle Sorgen (siehe dazu auch David de Levita: Adoleszenz, S. 243).
Selbstverständlich ist auch der letzte und absolut entscheidende Übergang in das Jenseitige, von dem wir nichts wissen, von Ritualen umgeben. Besonders bei den Juden entsprechen diese mit ihren abgestuften Ernsthaftigkeitsgraden ziemlich genau den Phasen der gewöhnlichen, natürlichen, psychischen Reaktionen auf ein Verlusttrauma. Die Rituale des Trauerns verschwinden leider langsam in der säkularisierten Welt, haben aber immer noch eine große Bedeutung — hauptsächlich für die Trauernden selbst. Diese können sich ihren Gefühlen des Trauerns hingeben. Und was vielleicht noch wichtiger ist, sie sollen sehen, hören, wirklich erleben, dass sie nicht allein sind, dass ihre Gruppe an ihnen wirklich interessiert ist. Die sozialen Bedürfnisse der Trauernden sind ja bekannt: ihr mehr oder weniger bewusster Wunsch, sich an jemanden anzuklammern, jemanden zu haben, zu dem man sprechen kann, auch wenn es nur sich wiederholende Klagen sind. All dies wird durch die Rituale, die, wie die meisten, ursprünglich universelle waren und von den verschiedenen Religionen etwas variiert übernommen worden sind, auf psychohygienisch richtige Weise gelöst. Auch hier ist der zentrale Faktor, das zentrale Erlebnis, das vermittelt werden soll: Du bist nicht allein, du bist ein
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Teil eines größeren Ganzen. Wir sind hier, wir sollen uns zusammen mit dir sorgen, weil die Umstände es so verlangen.
In der jüdischen Tradition gehen wir noch einen Schritt weiter. Auch die Verstorbenen gehören zur Gemeinschaft. An den höchsten Feiertagen wie zum Beispiel Jom Kippur, aber auch an den größten Festtagen, wie zum Beispiel Pessach, dem reinen Freiheits- und Freudenfest, wird im Gottesdienst ein Gebet eingeschaltet, in welchem die verstorbenen Mitglieder der Gemeinde namentlich in unsere Erinnerung zurückgebracht werden. Jeder Teilnehmer am Gottesdienst erinnert sich an seine verstorbenen Angehörigen. Aber auch die Namen derjenigen, welche keine lebenden Nachkommen mehr haben, sollten nicht vergessen werden und werden in den meisten Gemeinden verlesen. Die Art und Weise, wie man diese Rituale einhält, variierten selbstverständlich von Gemeinde zu Gemeinde. Ich spreche hier hauptsächlich von der Zeit vor dem Holocaust, als die jüdischen Gemeinden Europas noch ein normales Leben führen konnten. Auch damals gab es namenlose Opfer von Verfolgungen oder Katastrophen. Diese wurden kollektiv genannt, um nie völlig der Vergessenheit anheim zu fallen.
Die Bedeutung solcher Riten kann nicht hoch genug geschätzt werden. Der Wunsch, das Bedürfnis, nicht völlig vergessen zu werden, nicht die Welt ohne jedes Zeichen seiner eigenen Existenz zu verlassen, scheint bei den meisten Menschen sehr tief gegenwärtig zu sein. Irgendwie, ein kleines bisschen möchte jeder unsterblich sein. Kann man selbst keine unsterblichen Werte schaffen, keine Musik komponieren, keine Bücher schreiben, die einen überleben, versucht man durch Spenden, Stiftungen, Straßennamen, Monumente und was es sonst noch gibt - irgendwie seine Existenz oder besser gesagt, die Erinnerung an seinen Namen zu verlängern. Die Literatur beschreibt eine fast unendliche Anzahl von Variationen, religiöser und nicht religiöser Art dieses Strebens. Es handelt sich offenbar um ein tief verankertes menschliches Bedürfnis, das von der jüdischen Tradition erfasst und dem ziemlich zufriedenstellend entsprochen wurde.
Andererseits ist es wohl nicht ganz grundlos, dass Gedenktage für Dahingeschiedene, seien sie individuelle, wie zum Beispiel der sogenannte ]ahrzeittag, oder kollektive, wie die eben genannten Jahrestage zum Gedenken, institutionalisiert worden sind. Der wichtigste Grund ist wohl die menschliche Schwäche, die Tendenz, im Augenblick zu leben, der Wunsch zu vergessen, vielleicht das Unangenehme zuerst. Es scheint, dass unser Gedächtnis doch eine gewisse Nachhilfe braucht.
Es ist für den Einzelnen unerträglich, ja sogar gefährlich, völlig ohne jede eigene "Geschichte" zu leben. Man findet zahlreiche und sehr ungleiche Beschreibungen von Personen, die plötzlich ihr Gedächtnis total verloren haben. Ich habe selbst einige wenige Patienten getroffen, die keine Vergangen-
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heit hatten, d.h. die nicht wussten, sich nicht erinnern konnten, wer sie waren, wie sie hießen, woher sie kamen. Sie hatten keine Identität mehr. Dies ist ein tragisches Schicksal - bis es zur Heilung kommt - für den individuellen Patienten, aber es ist gefährlich für ein Volk, das in einen solchen pathologischen Zustand verfällt. Es ist verheerend für die Geschichtsauffassung, zerstörend für das Selbstverständnis und für das zugrunde liegende Recht der eigenen Existenz. Ein Volk ohne Geschichte und ohne Identität ist eben kein Volk mehr. Was für ein Volk gilt, gilt selbstverständlich für jedes andere Kollektiv, sei es eine nationale, religiöse oder andere Schicksalsgemeinschaft.
Die neuere Geschichte des jüdischen Volkes ist leider völlig untrennbar von der Geschichte des Holocaust, und diese wiederum völlig untrennbar von der Pogromnacht. Ich möchte hier versuchen, die Erinnerungen an den Weg zu diesen grauenvollen Entscheidungen und Erlebnissen andeutungsweise zurückzurufen. Dies keineswegs, um hassgeprägte Gefühle aufzuputschen, sondern nur um die Erlebnisse der Vergangenheit nicht der Vergessenheit anheimfallen zu lassen, um unserem kollektiven Gedächtnis ein wenig nachzuhelfen. Und vielleicht auch, um unser Verstehen der Gegenwart zu schärfen, weil wir immer wieder zur Vergangenheit zurückkehren müssen, um unsere Gegenwart und Zukunft besser zu verstehen1.
Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler zum Kanzler des Deutschen Reiches ernannt und nicht ganz vier Wochen danach loderten die Flammen des Reichstagsgebäudes über Berlin; und in diesen Flammen verschwand alles, was mit Gesetz, Menschlichkeit und Gerechtigkeit zu tun hatte. Hermann Göring, der Mann mit den vielen Titeln und mit noch mehr Uniformen, der unter anderem auch für Ruhe und Ordnung und Gesetzestreue im Lande verantwortlich war, erklärte nur wenige Tage nach dem Reichstagsbrand, dass die deutsche Polizei mit der "größten Handlungskraft und Energie" überall dort eingreifen werde, wo es deutsche Interessen verlangen. "Aber niemand kann verlangen, dass ehrliche deutsche Polizisten als gewöhnliche Mannschaften für jüdische Geschäfte und Warenhäuser Wachdienst leisten sollten". Diese -kaum verhüllte - Aufforderung zur Plünderung wurde von eifrigen SA-Abteilungen nur allzu gut verstanden. Das Naziregime war damals doch noch ziemlich schwach und die Welt noch etwas zivilisiert.
Undiszipliniertes öffentliches Auftreten galt in einem westeuropäischen, geordneten Staat noch als völlig unerhört. Pöbelunruhen, Schikanieren unschuldiger Bürger, Andeutungen von Pogromen und Plünderungen, wo die Polizei nicht selbstverständlich eingriff, wurden in der internationalen Presse damals groß herausgebracht. Das waren Sensationen, und die Reaktionen in allen westlichen, demokratischen Ländern ließen nicht lange auf sich warten.
1 Anm. der Hrsg.: Empfehlenswert dazu die Gedenkrede von Yehuda Bauer am 27.1.1998 im Bundestag.
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Anfangs waren sie auch wirklich stark und hatten Bedeutung. Die Presse, die Diplomatie und nicht zuletzt ökonomische Machtzentren ließen von sich hören. Man schrieb von totalem Boykott gegen Deutschland. Und ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass die Journalisten, die darüber schrieben, es damals wirklich ernst meinten.
Jedenfalls nahm man sie in Deutschland ernst genug. Nationalsozialistische Gegenaktionen blieben nicht aus. Zuerst mussten alle jüdischen Organisationen, Gemeinden und andere Gruppierungen Telegramme ins Ausland senden, wo sie feierlich versicherten, dass nichts Unfreundliches oder gar Feindliches passiert wäre. In Deutschland herrschte überall nicht nur Ruhe und Ordnung, sondern auch Frieden und Verträglichkeit. Kurz und gut - die Verhältnisse wären idyllisch. Die bösartige lügnerische Propaganda sollte nicht geglaubt werden. Gleichzeitig veränderte sich auch die Politik im Lande. Der Pöbel wurde durch die Partei diszipliniert und der Antisemitismus durch Gesetze geregelt. Der kleine Mann und große Propagandist Goebbels konnte stolz erklären: "Die ausländische Lügenpropaganda ist völlig zusammengefallen."
Das nationalsozialistische Regime hatte gelernt, dass das Weltgewissen eigentlich nicht gern gestört wird. Die antijüdischen Gesetze und Verordnungen wurden langsam und stückweise durchgeführt, immer mit einem Auge auf die Stärkeverhältnisse der nationalsozialistischen Partei und Regierung in Deutschland gerichtet und mit einem anderen auf die vielleicht zu erwarteten Reaktionen des Auslands, des Weltgewissens. Fast immer waren die Verordnungen so formuliert, dass ein kleiner taktischer Rückzug möglich sein sollte, wenn diese ausländischen Reaktionen wider allen Erwartens zu stark werden sollten. Aber durch sechs Jahre Hitlerregime war das Gewissen der Welt, wenn so etwas überhaupt noch existierte, abgestumpft. Dauerndes Unrecht, in gesetzlichen und geordneten Formen durchgeführt, ist ja keine Sensation für Journalisten. Aber es waren ja nicht nur die, die sich täuschen ließen; die jüdische Bevölkerung in Deutschland selbst verfiel den gleichen Fehlern. Es spielte selbstverständlich auch eine große Rolle, dass das Ausland "realpolitisch" auf die Entwicklung zu schauen begann. Deutschland war eine Großmacht geworden und ohne Zweifel eine kriegerische. Der Frieden sollte jedoch um jeden Preis bewahrt werden. Das Schicksal der jüdischen Bevölkerung in Deutschland, späterhin in Österreich und der Tschechoslowakei, war uninteressant und damit auch unwichtig geworden. Die Welt hatte aufgehört, sich für sie zu interessieren. Man hatte sie ganz einfach aufgegeben.
Wenn jemand noch irgendeinen Zweifel über diese für uns so fürchterliche und grauenhafte Tatsache haben konnte, brauchte man nur die sogenannte Internationale Konferenz in Evian zu betrachten. Einen besseren Beweis zu finden, würde schwer fallen. Zu dieser Konferenz im Jahre 1938, die der Präsident der Vereinigten Staaten, Roosevelt, einberufen hatte, kamen Vertreter von 32 Staa-
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ten. Die Aufgabe, die der Konferenz gestellt war, war das Flüchtlingsproblem in der Welt - ich hätte fast gesagt - wieder einmal "endlich" zu lösen. Keiner der Delegierten hatte auch nur die Andeutung einer Lösung vorzuschlagen, im Gegenteil. Einer nach dem anderen erhob sich feierlich und erklärte salbungsvoll, dass sein Land keine weiteren Flüchtlinge aufnehmen könnte. Weder die wirtschaftliche noch die psychologische Situation des Landes könnte einen Bevölkerungszuwachs ertragen. Nur drei der Delegierten fielen etwas aus der Reihe. Der dominikanische und der holländische meinten, dass man trotz aller Schwierigkeiten zu helfen versuchen müsste und dass ihr Land - wenn auch die Möglichkeiten sehr begrenzt seien - doch alles tun würde, um Flüchtlinge aus Deutschland aufzunehmen; leider in sehr bescheidenem Ausmaß. Der dritte Delegierte, der sich vom großen Chor auf eine andere Weise unterschied, war der polnische. Er sprach überhaupt nicht von der Möglichkeit, Flüchtlingen aus Deutschland - eventuell oder irgendwie - helfen zu wollen. Nein, seine Rede galt der allzu großen jüdischen Minorität in Polen, die eine Gefahr für das polnische Wirtschaftsleben und die polnische Kultur bedeutete. Er appellierte an alle Völker der Welt, Polen in dieser kritischen Situation zu helfen und die Tore für eine Emigration aus Polen zu öffnen.
Auch nach der Konferenz schämten sich andere Länder nicht, ihren Unwillen, Juden zu helfen, deutlich zu zeigen ebenso wie ihren Willen, die nazistische Auffassung und die diskriminierende Haltung dieser Minorität gegenüber zu akzeptieren. Mehrere Länder müssen genannt werden, unter ihnen auch die sogenannten führenden Demokratien, welche auf ihre humane, menschenfreundliche Haltung immer so stolz gewesen waren, also Länder wie Schweiz, Schweden und leider auch Norwegen. Alle diese Länder führten spezielle Einreisebeschränkungen ein. Diese galten jedoch nur für Personen mit sogenannten markierten Reisepässen. Dieses war einer dieser schoflen Euphemismen, die fast alle Länder stillschweigend von den Nazis übernommen hatten und mit akzeptierten. Es bedeutete nichts anderes, als dass diese Länder ohne jeden Protest ganz einfach anerkannten: Dass Deutschland zwei Arten von Bürgern hatte und dass die Grenzen dieser hochdemokratischen, menschenfreundlichen Länder für diejenigen gesperrt waren, deren Reisepass mit einem "]" versehen war, während Besitzer von "gewöhnlichen" Pässen - also ohne "]" - die erstklassigen, sogenannten arischen Bürger Deutschlands, sich frei und ohne Visum über alle Grenzen hinweg bewegen konnten.
Auf diese schändliche Weise hatten die westlichen Demokratien sich selbst des moralischen Rechts beraubt, gegen die verbrecherischen Pläne und Handlungen des Hitlerregimes auch nur zu protestieren. Das Naziregime zögerte seinerseits nicht einen Augenblick, den moralischen und ethischen Selbstmord des Westens und der demokratischen Welt, der späterhin im Münchner Abkommen besiegelt worden war, auszunützen. Jetzt war es überhaupt nicht
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mehr notwendig, alle antisemitischen Übergriffe und Gewalttätigkeiten zu verheimlichen.
Und eine Großaktion ließ da auch nicht lange auf sich warten. Die angebliche Veranlassung einer spontanen Volksreaktion war der unselige Versuch des 17 Jahre alten Herschel Grünspan, das Gewissen der Welt zu wecken. Er wählte das schlechteste denkbare Mittel, nämlich einen völlig unschuldigen Legationssekretär der deutschen Botschaft in Paris zu erschießen. Herschels Eltern wurden zusammen mit Tausenden anderen aus Deutschland verjagt, wirklich buchstäblich über die Grenze nach Polen gejagt, während er selbst sich bei seinen Großeltern in Paris befand. In seiner kindlichen und arglosen Naivität glaubte er, dass die Welt dies erfahren müsste - und etwas tun müsste, um seinen Eltern und den anderen Vertriebenen zu helfen - der arme Junge. Als ob die Welt im Herbst 1938 sich noch um solche Kleinigkeiten, wie einige Tausend verjagte Juden, kümmerte. Vertriebene Juden lagerten überall auf den Feldern im Freien an den Grenzen Deutschlands, Süd-Mährens, des Sudetengebietes, Österreichs usw.
Für die Naziregierung aber war dieser tragische Revolverschuss ein willkommener Vorwand für eine "Spontanreaktion" gegen alle Mitglieder der jüdischen Bevölkerung.
Wir wissen heute, dass dieser Pogrom schon lange vorbereitet worden war. Schon im Juni 1938 wurden die Konzentrationslager Dachau und Buchenwald bedeutend vergrößert. In den Schneiderwerkstätten dort hatte man alle Hände voll zu tun mit der Herstellung von Tausenden Gefangenenuniformen, die mit Davidsternen versehen werden sollten. Niemand der Eingeweihten war im Zweifel darüber, was vorbereitet wurde. Die Aktionen wurden auch mit absoluter militärischer Präzision durchgeführt, selbst wenn sie - nach geltenden Befehlen - in zivilen Kleidern vor sich gingen.
Die Dokumentation dieser Ereignisse ist mehr als ausreichend, um sich ein genaues Bild von dem Geplanten und Geschehenen zu machen. Nur ein kleines Beispiel einer typischen Meldung sei hier angeführt: "Die Aktion in Geldern-Distrikt und in Xanten wurde gänzlich vom SS-Sturm 10/25 durchgeführt. Zuerst wurde die Synagoge in Geldern kurz vor 04:00 Uhr morgens abgebrannt. Gleichzeitig wurde die Einrichtung der Synagoge in Xanten, in einem Privathaus, völlig vernichtet. Im Aktionsgebiet befanden sich zwei jüdische Geschäfte, wo alle Waren und Vorräte vernichtet wurden. Bei den übrigen Juden wurde auch die Einrichtung zerschlagen und unbrauchbar gemacht, nachdem alle Fensterscheiben eingeschlagen worden waren. Alle männlichen Juden im Alter von 15 bis 70 wurden verhaftet. Die Bevölkerung verhielt sich während der Demonstrationen passiv. Heil Hitler". Unterzeichnet Führer des SS-Sturms 10/25.
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An dieser Gründlichkeit kann man nichts aussetzen. (Diese Meldung ist aus dem Englischen ins Deutsche zurückübersetzt und entspricht wahrscheinlich nicht wortwörtlich dem Originaltext.)
In einer Erklärung, die vom Zentralkomitee der deutschen Katholiken im Jahre 1988 veröffentlicht wurde, heißt es:
"Die gewalttätigen Exzesse in jener Nacht, die Reichskristallnacht genannt wurde, waren nur eine weitere Radikalisierung der Judenverfolgungen, welche mit Mord von 6 Millionen unschuldigen jüdischen Männern, Frauen und Kinder endeten. Die traurige Bilanz des Massenpogroms, der von der Regierung in der Nacht von 9. zum 10. November 1938 arrangiert wurde, ist folgende: Ungefähr 100 jüdische Bürger erschlagen, eine unbekannte Anzahl misshandelt und über 30.000 in Konzentrationslagern eingesperrt. In ganz Deutschland wurden Synagogen und Gebetshäuser geschändet, in Brand gesetzt, vernichtet, jüdische Geschäfte und Wohnungen geplündert und demoliert. Im Gegensatz zur späteren Schoa, dem Holocaust in den Vernichtungslagern, gingen alle diese Vorgänge in vollständiger Offenheit vor sich. Man konnte sie nicht nur sehen, sondern man musste dies tun. Das ist einer der Hauptgründe, dass wir heute darüber nachdenken müssen, wieso Menschen, besonders die christlichen, nicht auf das reagierten, was um sie herum geschah. Wir können uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass viel Gleichgültigkeit, Gemeinheit, systematische Ausnützung und auch offenbare Schadenfreude existierten. Man fand aber auch Zeichen von Abscheu, Empörung, Mitleid und Hilfsbereitschaft. Auch die Frage, warum die Kirche die Ereignisse der Pogromnacht nicht klar und unzweideutig verurteilte, muss weiterhin gründlich geklärt und beleuchtet werden. Wir, die Mitglieder der Dialoggruppe von Juden und Christen des deutschen katholischen Zentralkomitees, fühlen es besonders beklemmend, dass die Bischöfe so unzweideutig schweigen konnten. Sie waren die einzigen, die noch die Möglichkeit hatten, sich öffentlich äußern zu können. Ihre wiederholten und oft erneuerten, klaren und absoluten Aussagen, in denen sie sich von der nationalsozialistischen Rassenlehre distanzierten, hätten durch eine klare Aussage über die Kristallnacht konkretisiert werden können. Dies - trotzdem oder gerade weil - die Kirche selbst in einer exponierten Situation war. Einige einfache Worte, wie die von Bernhard Lichtenberg, Domprobst in Berlin, hätten genügt, um eine anständige Haltung zu markieren. Er sagte: "Was gestern war, das wissen wir. Was morgen sein wird, wissen wir nicht. Aber was heute geschah, das haben wir gesehen und erlebt. Draußen brennen Synagogen, die sind auch Gotteshäuser."
Seine Stimme war eine äußerst einsame Stimme, es war die Stimme, die in der Wüste ruft und von niemandem gehört wird. Weil sie so isoliert war, schien es nicht notwendig, auf sie zu hören. Es war leicht, sie zum Schweigen zu bringen. Die Räder des Verbrechens und der Tragödien rollten weiter - und die Welt schwieg.
Die meisten Kirchen in Deutschland hatten gegen die rassistischen Verfolgungen protestiert, weil diese gegen Mitglieder von Kirchen gerichtet waren, welche als Folge der rassistischen Gesetzesbestimmungen nicht als Christen, sondern als Juden behandelt wurden. Aber wie das oben genannte Zitat ohne jeden Zweifel zeigt, protestierten die Kirchen nicht gegen die
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Verfolgung der "jüdischen", d.h. aller anderer Juden. Die Kirchen schwiegen, die Bischöfe schwiegen und die Welt schwieg mit ihnen. Es war das Bequemste für sie alle - nicht für uns.
Ich glaube, dass wir diese Haltung der deutschen Kirchen nicht nur als Zeichen von Gleichgültigkeit dem Schicksal der jüdischen Mitbürger gegenüber sehen dürfen. Es hätte auch wenig Sinn gehabt, sich dem Selbstmitleid hinzugeben oder sich von Hass und Aggressionsgefühlen überwältigen zu lassen. Meines Erachtens nach ist die wichtigste Erkenntnis, dass wir nie Grenzen und Begrenzungen für die grundlegenden Menschenrechte anerkennen dürfen.
Es ist immer wieder richtig zu betonen, dass nicht alle Menschen ganz gleich sind, sie sind untereinander sehr verschieden. Es gibt unendlich viele Unterschiede; nationale, soziale, intellektuelle, politische, religiöse, charaktermäßige, weltanschauungsmäßige usw., usw. Aber keiner dieser Unterschiede gestattet uns, moralische Differenzen zu konstruieren oder auch nur andeutungsweise eine Einschränkung der elementaren Menschenrechte zu akzeptieren. Niemand und gar nichts gibt uns das Recht zu behaupten, dass die einen besser sind als die anderen und deshalb Anspruch auf mehr oder größere Rechte haben. Oder umgekehrt, dass dieser oder jener minderwertig ist und deshalb nicht das Recht hat, grundlegende Menschenrechte zu genießen oder zu beanspruchen, ja noch nicht einmal das Recht zum Leben hat.
Solange wir die existierenden Unterschiede als Erklärung und Entschuldigung für unterschiedliche Behandlung akzeptieren, solange werden Pogrome, Kriege, Bürgerkriege und andere Gräueltaten weiterhin das Schicksal der Menschheit bleiben. Solange wir dazu schweigen, dass andere zu Objekten von Diskriminierung gemacht werden, so lange sind wir alle, d.h. die ganze Menschheit, in ständiger Gefahr, diskriminiert zu werden, selbst zu Opfern von Verfolgung, zu Opfern einer weiteren Pogromnacht oder eines neuen Holocaust zu werden.
Das erste Gebot ist selbstverständlich, sich seiner eigenen Verschiedenheit nicht zu schämen. Anders zu sein bedeutet weder besser noch schlechter zu sein, es bedeutet schlechthin eben nur anders zu sein. Und darf ich wiederholen: Anders zu sein bedeutet nicht, dass andere entweder mehr oder weniger Rechte haben. Dies gilt selbstverständlich für Juden und ebenso für alle anderen Minoritäten, seien sie anderer Hautfarbe, anderer Religion, anderen Aussehens oder was immer auch gilt. Nur wenn wir immer die gleichen Rechte auch für die anderen fordern, haben wir unter allen Bedingungen, bei allen Situationen das moralische Recht, die gleichen Rechte auch für uns zu fordern. Wir, die wir durch die Hölle des Holocaust gegangen sind, haben nicht nur das moralische Recht, sondern die moralische Pflicht, auf diesen Prinzipien zu bestehen, sie zu verteidigen, ihnen entsprechend zu wirken und zu leben.
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Wir dürfen nicht schweigen, obwohl - oder gerade weil - wir jetzt in einer exponierten Situation leben. Wir dürfen nicht schweigen und müssen alles dazu tun, dass andere nicht schweigen, wenn Unrecht geschieht. Wir wissen, dass das sogenannte Weltgewissen eine zarte Pflanze ist; eine Pflanze, die rasch dahinwelkt, wenn sie nicht genügend umsorgt und umhegt wird; die aber -entgegen allen Erwartungen - aufblühen kann, wenn ihr genügend richtige Nahrung zugeführt wird. Bei den Verhältnissen, wie sie heute in der Welt herrschen - und besonders in diesem mit Vergangenheit so belasteten Land -müssen wir alle dafür sorgen, dass wir selbst nicht schweigen, dass die Bischöfe und die Kirche, die Professoren und Universitäten, dass alle Menschen, die ihr Menschsein noch ernst nehmen, nicht schweigen. Kurz, dass die Welt nicht wieder schweigt und die verfolgten Opfer vergisst, wie sie es vor und nach der Reichspogromnacht getan hatte. Demonstrationen ändern nichts an dieser Verpflichtung; sie besteht weiterhin und unverändert für uns alle.
Warum geschwiegen wurde - Spätfolgen in Israel
Haim Dasberg
Für die Berliner Juden ist die Charite1 von besonderer Bedeutung, da in früheren Zeiten viele jüdische Ärzte und ihre Patienten mit diesem Krankenhaus verbunden waren. Ich spreche natürlich von dem Zeitabschnitt, in dem die Beziehungen zwischen Deutschen und Juden noch zivilisiert und gegenseitig schöpferisch anregend waren.
Heute halte ich einen Vortrag vor einer Zuhörerschaft, die wieder aus Deutschen und Juden besteht. Wir befinden uns in einem vereinigten Deutschland und in einem vereinigten Berlin, das nicht nur unter historischem Gesichtspunkt, sondern auch symbolisch die Hauptstadt dieses Landes ist.
Obwohl es mir als Jerusalemer aus ganz persönlicher Erfahrung bekannt ist, was eine Wiedervereinigung bedeutet, muss ich immerhin zu gleicher Zeit eingestehen, dass ich mich trotzdem hier in dieser Stadt etwas zwiespältig fühle, da wir Juden es immer noch nicht vergessen haben, was uns das mächtige Deutschland in diesem Lande und auf diesem Kontinent angetan hat. Deutsche und Juden waren beide Teile des historischen Geschehens, hatten aber einen entgegengesetzten Part inne. Zwar haben Deutsche auch erlebt, was es bedeutet, Selbstbild und nationale Traumata zu betrachten. Und vielleicht stimmt es auch, dass Deutsche hinsichtlich ihrer Beziehungen zu Juden nicht den fast unerträglichen Gesichtsverlust und die moralische Niederlage hinnehmen können; die Juden aber werden den Holocaust immer als eine vollständige Vernichtung eines Teils ihres Volkes empfinden.
Den demographischen Berechnungen nach, die unlängst durch Thomas Radil2, Professor für Neuropsychiatrie aus Prag, bekannt wurden, müssen wir darauf gefasst sein, hundert Jahre zu warten, bis in der jüdischen Bevölkerung die normalen zahlenmäßigen Proportionen der Generationen wiederhergestellt sind. Ein Jahrhundert lang werden wir unaufhörlich trauern müssen. Bis heute ist erst die Hälfte dieser benötigten Zeit verflossen. Uns Juden fällt es besonders schwer, den eigenen totalen Erniedrigungen und den Verlusten gegenüberzustehen.

Und den Deutschen fällt es schwer, darauf zu reagieren. Daher haben wir alle, wie vernunftwidrig es auch sein mag, umso mehr Grund, uns bei der

1 In der Charite gehaltener Vortrag beim AMCHA-Symposium Spätschäden bei Opfern des Nazi-Terrors. Berlin 11.11.1990.
2 Persönliche Mitteilung auf der Second European Conference on Traumaüc Stress, Noorwijkerhout, Niederlande 1990.


Karin Weingartz-Perschel
Der Holocaust als Paradigma instrumenteller Verwertungslogik

Frankfurt/M., Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2002.174 S. ISBN 3-631-50293-1 • br. € 35.30*/US $ 30.95/£ 22.-
Viel ist zum Thema Holocaust, Auschwitz, Nationalsozialismus, Faschismus geschrieben worden. Daten und Fakten wurden recherchiert, dokumentiert und öffentlich gemacht. Doch eine Antwort auf die Frage nach dem WARUM gibt es bis heute nur ansatzweise. Der aktuelle anthropotechnische Diskurs um den Wert und Unwert des Lebens weckt beängstigende Assoziationen zur Nazi-Ideologie. Erst ihre sozialkritische Entschlüsselung wird uns Nachgeborenen die Möglichkeit geben, die Ursachen gegenwärtiger Bedrohungen durch Terror, Krieg, ökonomische wie ökologische Krisen zu begreifen. Dies versucht die vorliegende Studie.
Aus dem Inhalt: Anthropotechnologie • Bio-Ethik • Sozialdarwinismus • Nationalsozialismus ¦ Auschwitz ¦ Täter-Opfer-Dialektik • ökonomisierung des Bewusstseins ¦ Pathologie des Alltags
Frankf urt/M ¦ Berlin ¦ Bern • Bruxelles • New York ¦ Oxford ¦ Wien Auslieferung: Verlag Peter Lang AG Moosstr. 1, CH-2542 Pieterlen Telefax 00 41 (0)32/37617 27
•inklusive der in Deutschland gültigen Mehrwertsteuer Preisänderungen vorbehalten Homepage http://www.peteriang.de
 

Thema des Buches sind die seelischen und psychosomati-schen Folgen des Naziterrors für die Überlebenden. Während der Schoa wurden mehr als sechs Millionen Juden ermordet, davon etwa anderthalb Millionen Kinder. Welche Konsequenzen hat das und die Entmenschlichung für die Übriggebliebenen, die geretteten Kinder, die nächste Generation und die Gesellschaft? Was kann dagegen getan werden? Antworten darauf geben international hochgeschätzte Experten aus verschiedenen Ländern aufgrund ihrer großen fachlichen Erfahrung. Da es bis heute Spätfolgen gibt, gerät damit eine Zeitspanne von mehr als 50 Jahren ins Blickfeld. Schweigen ist ein Thema, mit dem sich alle Autoren beschäftigten. Sie sind überwiegend selbst Schoa-Überlebende und wissen, was es mit dem Schweigen auf sich hat.
Johan Lansen, Jahrgang 1933, ist Psychiater und Psychoanalytiker. Von 1981 bis 1993 war er ärztlicher und allgemeiner Direktor des jüdischen Sinai Centrums, dem in Europa größten Zentrum zur Behandlung von Schoa-Überlebenden, bestehend aus der Klinik in Amersfoort und der Ambulanz in Amsterdam. Er war aktiv involviert als Berater, Supervisor und Dozent beim Aufbau von ESRA. Seit 10 Jahren arbeitet er international als Trainer und Supervisor bei Behandlungseinrichtungen für andere Gewalt- und Verfolgungsopfer. Alexandra Rossberg, Jahrgang 1945, wurde ausgebildet in Psychotherapie mit Extremtraumatisierten und Gruppenanalyse. Sie hat zusammen mit Johan Lansen ESRA initiiert und aufgebaut. Seit 12 Jahren arbeitet sie einzeln oder in Gruppen mit Überlebenden der Schoa und deren Nachkommen. Dabei hat sie ungewöhnliche Wege im therapeutischen Umgang mit sehr früh und schwer traumatisierten Kindern beschritten.
www.peterlang.de

Alexandra Rossberg Johan Lansen (Hrsg.)
Schweigen brechen
Berliner Lektionen zu Spätfolgen der Schoa
PETER LANG
Europäischer Verlag der Wissenschaften

 

 

 

Symptomatik der posttraumatischen Belastungsstörung

 

Bei der posttraumatischen Belastungsstörung handelt es sich nach dem ICD-10 um eine verzögerte (protrahierte) Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes (kurz oder lang anhaltend), die bei fast jedem Menschen eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Nach dem DSM-IV haben die Betroffenen die Erfahrung von Todesbedrohung, Lebensgefahr oder starker Körperverletzung gemacht bzw. die Bedrohung der eigenen körperlichen Unversehrtheit oder einer anderen Person erlebt. Bei Kindern sind aufgrund des Entwicklungsstandes unangemessene sexuelle Erfahrungen inbegriffen.

     Die frühere Annahme, dass die Entwicklung einer posttraumatischen Belastungsstörung nur bei Personen mit bereits prämorbider psychischer Auffälligkeit (z.B. mit emotionaler Labilität, neurotischen, affektiven oder schizophrenen Beeinträchtigungen) vorkommt, gilt allgemein als widerlegt, wenngleich die Ausprägung der Beeinträchtigung dadurch verschärft werden kann. Es besteht heute ein Konsens darüber, dass die Störung auch bei früher psychisch stabilen Personen auftreten kann, wenn sie außergewöhnlich belastenden Situationen ausgesetzt sind.

     Die Störung und dessen Ausmaß wird nicht allein durch das Trauma an sich definiert, sondern vielmehr auch durch die subjektive Reaktion darauf, die auf die unzureichende Verarbeitungsfähigkeit hinweist (z.B. intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen, bei Kindern oft chaotisches oder agitiertes Verhalten).

     Traumatisierend wirkt nicht nur die Bedrohung der körperlichen Integrität, sondern auch die Bedrohung der fundamental menschlichen Erfahrung, eine autonom handelnde und denkende Person zu sein. Das Sich-Aufgeben und der Verlust jeglicher Autonomie in der Zeit der traumatischen Erfahrung stellen nach neueren Erkenntnissen an vergewaltigten oder inhaftierten Menschen – unabhängig von der Lebensbedrohung – verschärfende Belastungsfaktoren dar, was zukünftig stärker berücksichtigt werden sollte.

Die Störung entwickelt sich charakteristischerweise nicht sofort nach dem traumatischen Erlebnis, wie dies bei einer akuten Belastungsreaktion oder einer Anpassungsstörung der Fall ist, sondern erst Wochen bis Monate später, doch selten später als 6 Monate nach dem Trauma.

Das wesentlichste Merkmal stellt das ungewollte Wiedererleben von Aspekten des Traumas dar. Es treten dieselben sinnlichen Eindrücke (z.B. bestimmte Bilder, Geräusche, Geschmacksempfindungen, Körperwahrnehmungen) sowie gefühlsmäßigen und körperlichen Reaktionsweisen auf wie zum Zeitpunkt der traumatischen Erfahrung.

Alles, was an das Trauma erinnert, wird als sehr belastend erlebt und deshalb gemieden. Bestimmte Gedanken, Bilder und Erinnerungen werden unterdrückt und verschiedene Situationen des Alltagslebens vermieden.

Die emotionale Befindlichkeit kann von Patient zu Patient sehr verschieden sein, ist jedoch gewöhnlich charakterisiert durch eine Mischung von panischer Angst, großer Traurigkeit, intensivem Ärger, emotionaler Taubheit und starken Schuldgefühlen, Selbstvorwürfen und Schamgefühlen. Es besteht eine ausgeprägte emotionale, kognitive und psychovegetative Übererregbarkeit.

Eine posttraumatische Belastungsstörung ist nach den neuen Diagnoseschemata durch drei zentrale Symptomgruppen charakterisiert:

1.       intrusives (aufdringliches) Wiedererleben,

2.       Vermeidung traumarelevanter Reize bzw. reduzierte emotionale Reagibilität,

3.       Übererregtheit (körperlich, emotional, kognitiv).

 

Das DSM-IV nennt folgende diagnostische Kriterien:

 

A.    Die Person wurde mit einem traumatischen Ereignis konfrontiert, bei dem die beiden folgenden Kriterien vorhanden waren:

(1)  die Person erlebte, beobachtete oder war mit einem oder mehreren Ereignissen konfrontiert, die tatsächlichen oder drohenden Tod oder ernsthafte Verletzung oder eine Gefahr der körperlichen Unversehrtheit der eigenen Person oder anderer Personen beinhalteten.

(2)  Die Reaktion der Person umfasste intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen...

 

B.    Das traumatische Ereignis wird beharrlich auf mindestens eine der folgenden Weisen wiedererlebt:

(1)  wiederkehrende und eindringliche belastende Erinnerungen an das Ereignis, die Bilder, Gedanken oder Wahrnehmungen umfassen können...

(2)  Wiederkehrende, belastende Träume von dem Ereignis...

(3)  Handeln oder Fühlen, als ob das traumatische Ereignis wiederkehrt (beinhaltet das Gefühl, das Ereignis wiederzuerleben, Illusionen, Halluzinationen und dissoziative Flashback-Episoden, einschließlich solcher, die beim Aufwachen oder bei Intoxikationen auftreten)...

(4)  Intensive psychische Belastung bei der Konfrontation mit internalen oder externalen Hinweisreizen, die einen Aspekt des traumatischen Ereignisses symbolisieren oder an Aspekte desselben erinnern.

(5)  Körperliche Reaktionen bei der Konfrontation mit internalen oder externalen Hinweisreizen, die einen Aspekt des traumatischen Ereignisses symbolisieren oder an Aspekte desselben erinnern.

 

C.    Anhaltende Vermeidung von Reizen, die mit dem Trauma verbunden sind, oder eine Abflachung der allgemeinen Reagibilität (vor dem Trauma nicht vorhanden). Mindestens drei der folgenden Symptome liegen vor:

(1)  bewusstes Vermeiden von Gedanken, Gefühlen oder Gesprächen, die mit dem Trauma in Verbindung stehen,

(2)  bewusstes Vermeiden von Aktivitäten, Orten oder Menschen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen,

(3)  Unfähigkeit, einen wichtigen Aspekt des Traumas zu erinnern,

(4)  deutlich vermindertes Interesse oder verminderte Teilnahme an wichtigen Aktivitäten,

(5)  Gefühl der Losgelöstheit oder Entfremdung von anderen,

(6)  eingeschränkte Bandbreite des Affekts (z.B. Unfähigkeit, zärtliche Gefühle zu empfinden),

(7)  Gefühl einer eingeschränkten Zukunft (z.B. erwartet nicht, Karriere, Ehe, Kinder oder normal langes Leben zu haben).

 

D.    Anhaltende Symptome erhöhten Arousals (vor dem Trauma nicht vorhanden). Mindestens zwei der folgenden Symptome liegen vor:

(1)  Schwierigkeiten ein- oder durchzuschlafen,

(2)  Reizbarkeit oder Wutausbrüche,

(3)  Konzentrationsschwierigkeiten,

(4)  übermäßige Wachsamheit (Hypervigilanz),

(5)  übertriebene Schreckreaktion.

 

E.    Das Störungsbild (Symptome unter Kriterium B, C und D) dauert länger als 1 Monat.

 

F.     Das Störungsbild verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.

 

Bestimme, ob:

Akut: Wenn die Symptome weniger als 3 Monate andauern.

Chronisch: Wenn die Symptome mehr als 3 Monate andauern.

Bestimme, ob

Mit Verzögertem Beginn: Wenn der Beginn der Symptome mindestens 6 Monate nach dem Belastungsfaktor liegt.

 

Nach den Forschungskriterien des ICD-10 ist eine posttraumatische Belastungsstörung (F43.1) folgendermaßen definiert:

 

A.  Die Betroffenen sind einem kurz oder lang dauernden Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß ausgesetzt, das nahezu bei jedem tief greifende Verzweiflung auslösen würde.

 

B.  Anhaltende Erinnerungen oder Wiedererleben der Belastung durch aufdringliche Nachhallerinnerungen (Flashbacks), lebendige Erinnerungen, sich wiederholende Träume oder durch innere Bedrängnis in Situationen, die der Belastung ähneln oder mit ihr in Zusammenhang stehen.

 

C.      Umstände, die der Belastung ähneln oder mit ihr im Zusammenhang stehen, werden tatsächlich oder möglichst vermieden. Dieses Verhalten bestand nicht vor dem belastenden Erlebnis.

 

D.      Entweder 1. oder 2.

 

1.        Teilweise oder vollständige Unfähigkeit, einige wichtige Aspekte der Belastung zu erinnern.

2.        Anhaltende Symptome einer erhöhten psychischen Sensitivität und Erregung (nicht vorhanden vor der Belastung) mit zwei der folgenden Merkmale:

 

a.        Ein- und Durchschlafstörungen

b.        Reizbarkeit oder Wutausbrüche

c.        Konzentrationsschwierigkeiten

d.        Hypervigilanz

e.        erhöhte Schreckhaftigkeit

 

E.   Die Kriterien B, C und D. treten innerhalb von sechs Monaten nach dem Belastungsereignis oder nach Ende einer Belastungsperiode auf. (In einigen speziellen Fällen kann ein späterer Beginn berücksichtigt werden, dies sollte aber gesondert angegeben werden).

 

Die Kriterien für eine posttraumatische Belastungsstörung sind im DSM-IV sind viel enger gefasst als im ICD-10, was erhebliche Auswirkungen auf die angenommene Häufigkeit in der Bevölkerung hat. Bei einer neueren Untersuchung an einer großen Stichprobe weisen nach den ICD-10-Kriterien 7% der Untersuchten, nach dem DSM-IV-Kriterien nur 3% eine posttraumatische Belastungsstörung auf.

 

Man kann folgende Arten traumatischer Erfahrungen unterscheiden:

l     Individuelle Gewalt: ständige körperliche Misshandlung als Kind, einmalige oder mehrfache Vergewaltigung, als Kind ständiger Zeuge von Gewalt in der Familie, Verbrechen wie z.B. Banküberfall, Entführung, Geiselhaft, versuchter Raubmord, Körperverletzung, Misshandlung, Folterung, angedrohte Ermordung.

l     Kollektive Gewalt: Erfahrung von Krieg, Kampfhandlungen oder Terrorismus, Kriegsverwundung (Abschuss als Pilot, Explosion einer Granate), Aufenthalt im Luftschutzkeller bei Fliegeralarm, gewaltsame Entwurzelung (Verschleppung, Verfolgung, Vertreibung), unmenschliche Haftbedingungen (Konzentrationslager, politisch motivierte Haft), Aussteiger aus Sekten.

l Naturkatastrophen: Großbrand, Blitzschlag, Überschwemmung, Dammbruch, Bergrutsch, Lawinenunglück, Erdbeben, Vulkanausbruch, Tornados.

l    Technikkatastrophen: Zeuge oder Beteiligter an einem schweren Autounfall, Eisenbahn-, Schiffs- oder Flugzeugunglück, Explosion, Arbeitsunfall, Chemieunfall.

l     Körperliche oder psychische Extrembelastungen: Giftgasunfall, schwere Verbrennungen oder Schmerzzustände, Gehirnblutung, überlebter Herzstillstand, schwerer allergischer Schock, Knochenmarkstransplantation, lebensbedrohliche Erkrankung.

 

Nach der Auftretenshäufigkeit kann man zwei Arten von Traumata unterscheiden:

1.    Einmalige traumatische Erfahrung: Überfall, Vergewaltigung, Unfall.

2.    Lange andauernde bzw. wiederholte traumatische Erfahrung: Krieg, jahrelanger sexueller Missbrauch, andauernde körperliche Misshandlung.

 

Menschen, die nicht nur ein seelisches Trauma erlitten haben, sondern auch körperlich verletzt wurden, erleben 5 mal so häufig eine posttraumatische Belastungsstörung wie Menschen, die „nur“ ein seelisches Trauma erlebt haben. In den USA sind traumatische Erfahrungen in folgender Häufigkeit anzutreffen:

l     12,9% der Frauen (12 Millionen) wurden mindestens einmal vergewaltigt.

l     In einer retrospektiven (rückblickenden) Untersuchung beschrieben die Opfer sexueller Angriffe in 35% der Fälle eine lebenslange und in 13% der Fälle eine zeitweilige posttraumatische Belastungsstörung. Von den Opfern schwerer nichtsexueller Angriffe berichteten 39% eine lebenslange und 12% eine zeitweilige posttraumatische Belastungsstörung.

l     In einer prospektiven Studie (Verlaufserhebung) zeigten sich bei 47% der Opfer sexueller Angriffe und bei 22% der Opfer nichtsexueller Bedrohungen drei Monate nach diesen Erlebnissen die Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung.

l     Unter den Vietnam-Kriegsteilnehmern war bei 38% der Männer und bei 17,5% der Frauen eine zeitweilige posttraumatische Belastungsstörung nachweisbar.

 

Die Auswirkungen traumatischer Erfahrungen lassen sich über das DSM-IV hinausgehend folgendermaßen zusammenfassen:

l     wiederholtes Erleben des Traumas (Intrusionen) in plötzlich sich aufdrängenden Erinnerungen (Flashbacks, d.h. Rückblenden), Tagträumen oder Alpträumen,

l     fortwährende Angst, das Ereignis könnte sich wiederholen,

l     Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die an das Trauma erinnern,

l     zwischenmenschliche Konflikte als Folge der Vermeidung von Situationen (Autofahrten, Reisen) oder Aktivitäten (sexuelle Kontakte), die an das Trauma erinnern,

l     Furcht vor und Vermeidung von Stichworten, die den Betroffenen an das ursprüngliche Trauma erinnern könnten,

l     gelegentlich akute und dramatische Ausbrüche von Angst, Panik oder Aggression, ausgelöst durch ein plötzliches Erinnern und intensives Wiedererleben des Traumas oder der ursprünglichen Reaktion darauf,

l     übermäßige Schreckhaftigkeit, Panikattacken, „existenzielle Angst“, chronische Angstzustände, übermäßige Beschäftigung mit dem Tod,

l     gestörte Wahrnehmung des Täters: übermäßige Beschäftigung mit der Person des Täters (auch Rachegedanken), unrealistische Einschätzung des Täters als allmächtig, Idealisierung, paradoxe Dankbarkeit oder Mitleid mit dem Täter,

l     emotionale Abgestumpftheit und Instabilität: ständiges Gefühl von Betäubt sein, emotionaler Rückzug, allgemeine Lustlosigkeit als Schutzreaktion vor emotionaler Überforderung, aber auch impulsives Verhalten,

l     soziale Beziehungsstörung: Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit gegenüber der Umwelt, Entfremdung von den Angehörigen,

l   vegetative Übererregbarkeit mit verschiedenen körperlichen Symptomen (Herzrasen, Schweißausbrüche, Kreislauflabilität, Ohnmachtsanfälle, Zittern, Übelkeit, Kopfschmerzen, Hyperventilation, Appetitverlust, Essstörung usw.),

l     dissoziative Symptome (z.B. psychogene Amnesie, d.h. Vergessen der Erlebnisse),

l     ständige Überwachheit und häufige Schlaflosigkeit (Ein- und Durchschlafstörung),

l     Verlust der Selbstachtung, Selbstvorwürfe, Scham- und Schuldgefühle,

l     Resignation, Gefühl einer Zukunft ohne Erwartung und Hoffnung,

l     Verlust der bisherigen Wertvorstellungen,

l     depressive Stimmung, öfters auch Selbstmordgedanken und Selbstbeschädigung,

l     Missbrauch von Alkohol, Tranquilizern oder Drogen als Bewältigungsstrategie,

l     Entwicklung von Kontrollzwängen zur Angstbewältigung (Kontrolle von Türschlössern und Fenstern aus Angst vor Eindringlingen),

l     Entwicklung funktioneller Sexualstörungen bei Vergewaltigungsopfern,

l     Konzentrationsstörung und Leistungsbeeinträchtigung in Schule oder Beruf,

l     Beeinträchtigung der beruflichen Leistungsfähigkeit bis zur Berufsunfähigkeit.

Bei der posttraumatischen Belastungsstörung reichen Schrecken und Terror bis in die neuronalen Gehirnstrukturen hinein und bilden ein schwer löschbares „molekulares Angstgedächtnis“, dessen Grundlage nach Strian in mediobasalen Schläfenlappenstrukturen (Hippocampus und Amygdala) zu suchen ist. Diese Hirnregionen üben eine Kontrolle über die vegetativen und endokrinen Zentren von Hypothalamus und Hypophyse aus, was die oft nur mangelhafte Veränderbarkeit posttraumatischer Belastungsstörungen durch Pharmako- oder Psychotherapie erklärt.
Lerntheoretisch ausgedrückt, kommt es bei einer posttraumatischen Belastungsstörung trotz häufiger Konfrontation zu keiner Gewöhnung (Habituation). Erfolgreiche verhaltenstherapeutische Behandlungskonzepte bewirken während der angstaktivierenden Konfrontation mit den Ereignissen eine Neuformierung der Erinnerung durch Hinzufügung hilfreicher Elemente, z.B. andere Sichtweisen.
Die Betroffenen erhielten bislang meist eine Diagnose, die mit den Folgen dieser Störung zusammenhängt (z.B. reaktive Depression, Alkoholmissbrauch, Verhaltensstörung, dissoziative Störung). Die posttraumatische Belastungsstörung erfährt seit einigen Jahren auch im deutschen Sprachraum zunehmende Beachtung.
Neben dem bereits erwähnten Buch von Herman und dem von Saigh herausgegebenen Werk „Posttraumatische Belastungsstörung“ sind das von Maerker herausgegebene Buch „Therapie der posttraumatischen Belastungsstörungen“ und das allgemein verständliche Buch von Ehlers „Posttraumatische Belastungsstörung“ sehr zu empfehlen. Diese Bücher bieten einen Überblick über Erscheinungsbild, Diagnostik, Erklärungsmodelle und Therapie dieser Störungen und beschreiben das therapeutische Vorgehen bei speziellen Traumagruppen.
 

haGalil onLine 12-02-2004

 

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