InhaltJohan Lansen:
Psychoanalyse und Verfolgungstrauma 209 Haim DASBERG: Erzähltherapie in Gruppen
alternder Child Survivors 223
David de Levita: Die Adoleszenz der Zweiten Generation 237
JOHAN LANSEN: Die Zweite Generation: Forschung, Theorien und
Schlussfolgerungen in den Niederlanden 251
JOHAN LANSEN: Gefühle und Belastungen in der Arbeit mit
Schoa-Opfern und anderen Traumatisierten 269
Teil III Entschädigung und zeitgemäße psychiatrische Begutachtung
David de Levita: Einige Erfahrungen mit der Begutachtung im Rahmen
der Entschädigung von Verfolgten in den Niederlanden 291
Reinhart Lempp: Lernen von den Überlebenden 297
Reinhart Lempp: Die Einschätzung einer verfolgungsbedingten
Minderung der Erwerbsunfähigkeit bei psychischen Störungen
im Kindes- und Jugendalter 305
HaimDasberg: Psychiatrische Expertise 311
Teil IV Child Survivors an ihre Schicksalsgefährten
HaimDasberg: Paradox Louis Tas: Mit-teilen
Robert Krell: Das Geheimnis und die Würde der jüngsten Chüd Survivors
Rachel Maier: Ein Buch kommt, es kommt ein Buch
349 353
357 361
Gesamtliteratur
Glossar
Stichwortverzeichnis
ESRA Chronologie
esra und andere Adressen
363 376 379 389 390
Vorwort
Das Interesse in der niederländischen Gesellschaft an und die positive
Einstellung des niederländischen Staates gegenüber den psychosozialen Fragen der
Opfer des Naziregimes und ihrer Kinder hatten dazu geführt, dass in den
Niederlanden ein System von Care und Cure 1
entstanden ist.
Das Sinai Centrum in Amsterdam und Amersfoort übernimmt in diesem System die
psychische Gesundheitsfürsorge für die jüdische Bevölkerung als
Behandlungszentrum (Cure), die Jüdische Sozialarbeit (Joods Maatschappelijk
Werk, JMW) in Amsterdam die Care-Arbeit. In diesem System wurde ein Schatz an
Kenntnissen und Erfahrungen angesammelt. Es ergab sich die Möglichkeit, dass von
dem gerade pensionierten Direktor des Sinai Centrum, Dr. Johan Lansen, in der
Periode 1991 -1996 Supervision und Weiterbildung in Berlin angeboten werden
konnten - in der neu errichteten ESRA-Beratungsstelle - Psychosoziale und
therapeutische Hilfe für NS-Verfolgte und deren Kinder.
Alexandra Rossberg hatte hier die zentrale Leitung. Am Ende des Buches findet
man eine kurze Übersicht über die Chronologie der ESRA-Arbeit.
1 Care und Cure wird in diesem Buch als Begriff eingeführt, siehe Kapitel Lansen:
Die Zweite Generation.
1993 wurde von ESRA erstmalig ein einjähriger Weiterbildungskurs für jüdische
Therapeuten in Deutschland angeboten und besucht. Johan Lansen war der
maßgebliche Dozent. Danach wurde dieser Kurs auch für nichtjüdische Therapeuten
geöffnet, deren Interesse dem Gebiet der Extremtraumatisierung galt. Sie
arbeiteten mit Klienten, die andere Opfer des Naziregimes, gefolterte
Flüchtlinge, misshandelte Frauen und Kinder und Inzestopfer in der Familie
waren. Vieles aus der Erfahrung mit der Extremtraumatisierung in der Schoah
konnte, ebenso wie in den Niederlanden, später praktisch nahtlos bei den
gefolterten ausländischen Flüchtlinge angewandt werden, zum Beispiel beim
Behandlungszentrum für Folteropfer in Berlin.
Erfahrungen in der Behandlung von Holocaust-Überlebenden sind in vielen Ländern
von einzeln arbeitenden Klinikern gewonnen worden. Eine integrierte Arbeitsweise
entstand erst später in den Niederlanden, als einzigem Land in West-Europa. In
anderen Ländern gingen die Überlebenden meist nur zum Psychiater, wenn sie auf
Gutachten angewiesen waren. Natürlich benötigten sie eine Art Behandlung, aber
sie vertrauten eher ihren Hausärzten und Internisten. Lange Zeit war dies auch
in Israel der Fall, wo nur relativ wenigen Psychiatern Vertrauen
entgegengebracht wurde, dafür erhielten diese jedoch Zulauf von umso mehr
Patienten.
Ein Teil der Schwierigkeiten lag im Fehlen eines guten Traumakonzepts, sowohl
von Trauma als traumatisierendem Geschehen als auch von Trauma als Reaktion auf
das Geschehen. Oft wurde zwischen beiden nicht gut unterschieden. Wie im Buch
erklärt wird, fehlten in der Psychiatrie und Psychologie gute vorliegende
Konzepte, um die Beschädigung der Überlebenden zu beschreiben. Man arbeitete mit
den langsam wachsenden Einsichten in die Beschädigung durch Verfolgungstraumata
(siehe Lansen: Was ist ein Trauma?).
Als das amerikanische Konzept der Posttraumatischen Belastungsstörung, kurz PTSB,
in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts in Europa ankam, wurde es zuerst als
ein Heilmittel begrüßt, das uns aus der konzeptionellen Verwirrung retten
sollte. Es zeigte sich aber bald, dass dieses eher klassifizierende als
diagnostische Konzept bei weitem nicht ausreichte, um die klinischen Folgen bei
Opfern des Naziterrors und bei Opfern anderer Extremtraumatisierung zu
beschreiben; die Leser/innen werden in verschiedenen Kapiteln sehen, weshalb.
Dieses Konzept war natürlich besser als zuvor, denn das Konzept Posttraumatische
Belastungsstörung (PTBS) hat vielen bis dahin nicht Interessierten die Augen für
die Effekte traumatischer Ereignisse überhaupt geöffnet. In Deutschland, aber
auch in Frankreich zu jener Zeit, verschloss man sich noch sehr vor diesen
Einsichten. Leider sind bis heute noch keine großen Veränderungen zu
verzeichnen. Obwohl dieses Konzept unzureichend ist, hat dessen Einführung die
Verständigung mit den Kollegen erleichtert, die zuvor wenig Interesse oder
Verständnis für die Auswirkungen der Extremtraumatisierung hatten.
Mit dem Stoff, wie er in diesen Lektionen dargeboten wird, versuchen wir
denjenigen Kenntnisse zu vermitteln, die die alten Überlebenden, die älteren
Kinderüberlebenden und die nach dem Krieg geborenen Kinder heute behandeln und
versorgen. Darüberhinaus natürlich auch denjenigen, die Opfer anderer staatlich
organisierter Gewalt aus der heutigen Zeit behandeln. Der totale, globale, rein
ideologische Völkermord an Juden war einzigartig, doch gibt es leider weiterhin
Verfolgung, Vertreibung, Konzentrationslager, Folter und sogar Genozid.
Diejenigen, die traumatisierte Flüchtlinge behandeln, wissen das am besten.
Die wichtigste Lektion der Bedeutsamkeit der Umwelt begrenzt sich nicht mehr auf
die Überlebenden der Schoa. Überall auf der Welt, auf dem Balkan, in Südamerika,
in Asien und in Afrika sind schon neue Gruppen Kriegs- und
Verfolgungstraumatisierter angetreten, die wieder den Weg zum normalen Leben
finden müssen und früher oder später die Aufgabe zu bewältigen haben,
Kinder großzuziehen. Wenn auch nur einem Teil von ihnen angemessene Hilfe zuteil
werden kann, wäre eines der Ziele dieses Buches erreicht.
In diesem Buch finden die Leser/innen also neben den Beiträgen, die ein breites
Publikum ansprechen, Erfahrungs- und Forschungsberichte über Diagnostik und
Behandlung von Menschen, die während langer Zeit massivster staatlich
organisierter Gewalt ausgesetzt waren, sowie Ergänzendes aus dem fachlichen
Umgang in den Niederlanden mit anderen Opfergruppen aus der damaligen Zeit.
Dabei muss betont werden, dass die Möglichkeit der Verarbeitung des erlittenen
Traumas nicht nur vom fachlich richtigen Umgang abhängt, sondern inwieweit die
zerstörten zwischenmenschlichen und ethischen Beziehungen wiederhergestellt
werden können. Ob der vom Staat, Militär oder Geheimdienst organisierten Gewalt
gegen Menschen z.B. Schuldanerkennung, Wiedergutmachung, Sühne und Strafe
folgen, d.h. die Gesellschaft das Unrecht anerkennt und die Verantwortung dafür
übernimmt, ist deshalb von größter Bedeutung für die Überwindung der
traumatischen Situation.
Die Bedeutsamkeit der Umwelt begrenzt sich nicht mehr auf das jüdische Leben.
Überall auf der Welt, auf dem Balkan, in Südamerika, in Asien und in Afrika sind
schon neue Gruppen Kriegs- und Verfolgungstraumatisierter angetreten, die den
Weg zum normalen Leben wieder finden müssen und früher oder später die Aufgabe
bewältigen müssen, Kinder großzuziehen. Ihnen das Leben etwas leichter zu
machen, ist eines der Ziele dieses Buches.
Der klinische Fokus ist auf den Zusammenhang und das praktisch Erreichbare
gerichtet. Dies ist nicht nur von historischem Interesse, sondern hat praktische
Bedeutung für die Tätigkeit derjenigen, die heute mit den Verfolgten und ihren
Nachkommen arbeiten oder sie begutachten müssen. In diesem Band sind aber keine
technisch-wissenschaftlichen Themen zu finden, wie die Spezifität und die
Zuverlässigkeit psychologischer Messinstrumente, epidemiologische oder
klassifizierende Studien.
Wir haben versucht, bewährte Einsichten aus 50 Jahren Behandlung einem breiten
beruflich interessierten Publikum zugänglich zu machen: Psychiatern,
Psychotherapeuten, Sozialarbeitern, Pädagogen, Ärzten, Pflegepersonal in
Kliniken, Mitarbeitern in Pflege- und Altersheimen und allen anderen, die
beruflich mit diesen Menschen zu tun haben.
Last not least ist dieses Buch nicht "über sie, aber ohne sie", es ist für sie.
Überlebende und deren Kinder werden sich und ihre Angehörigen besser verstehen
lernen und vielleicht das Schweigen in ihrer Familie und in ihrem Umfeld dadurch
leichter brechen können.
Danksagung
Zum Schluss noch ein paar Gedanken zur Danksagung. Der Bereich der Erforschung
der Schoa-Folgen im Allgemeinen und die Arbeit von ESRA im Besonderen hängt in
hohem Maße von persönlichen Beziehungen ab, da der Idealismus und die
erforderliche Beharrlichkeit, um bei dieser Arbeit zu bleiben und sie
weiterzuentwickeln, nicht nur intellektuelle Wurzeln hat. Die Gefühle der
Verpflichtung in Bezug auf die Beiträge des Buches könnten deshalb leicht zu
gegenseitigen Dankesbezeugungen werden. Sämtliche Autoren haben sowohl ihren
ursprünglichen als auch den überarbeiteten Beitrag aus Engagement für ESRA
geleistet und spenden eventuelle Tantiemen für unsere zukünftige Arbeit.
Ihren Dank aussprechen würden gern die Nutznießer der wichtigen überregionalen
ESRA-Treffen, die Überlebenden und ihre Nachkommen, all denen, die diese Treffen
überhaupt ermöglichten, nämlich allen Gruppenleitern und insbesondere denen, die
auch dann anreisten, wenn es wieder einmal kein Geld dafür gab: David de Levita,
Louis Tas und Sammy Speier. Dankbar erwähnt sein sollte, dass ohne Nicola
Galliner, der Leiterin der Jüdischen Volkshochschule, sich die Treffen der
Zweiten Generation nicht hätten etablieren können, ohne Laurenz Ungruhe, dem
damaligen Leiter der Heimvolkshochschule Jagdschloss Glienicke, die Treffen für
überlebende Kinder nicht hätten eingeführt werden können und ohne Reinald
Purmann vom Paritätischen Wohlfahrtsverband es seit 1998 keine Treffen für beide
Generationen mehr gäbe. Immer wieder Mut zum Weitermachen wurde von Trude
Simonsohn und Dr. med. Hans-Jürgen Seeberger gemacht. Danke dafür, dass sie mit
ihrer Unterstützung gegen den Strom geschwommen sind.
Der Dank der Überlebenden und derer Nachkommen gilt auch den Personen, die
Institutionen vertreten, die ESRA nur sporadisch gefördert haben. Dabei hat
nicht nur das dringend benötigte Geld geholfen, sondern das Gefühl, nicht mit
dem Leid allein gelassen zu werden. Dafür einen herzlichen Dank an Wolfgang
Arnold, Dr. Alexander Brenner, Dr. Karl Brozik, Ignatz Bubis S.A., Dr. h.c.
Heinz Galinski s.A. und Otto Schily.
Herbst 2002
Johan Lansen Alexandra Rossberg
Einleitung
Dieses Buch besteht aus vier Teilen. Der erste Teil besteht aus Vorträgen für
einen breiten Kreis Interessierter. Im zweiten findet man Teilstücke aus dem
Lehrstoff der Weiterbildung als Lektionen. Diese sind, soweit notwendig, mit dem
Wissen bis zum Jahr 2002 ergänzt. Man darf sie auch Capita Selecta aus Theorie
und Behandlungspraxis der Schoa-Überlebenden nennen. Im dritten finden sich
Antworten auf die Frage, wie das entschädigungspflichtige Leid der Überlebenden,
insbesondere der Kinder, gerecht zu beurteilen ist. Im vierten richten
überlebende Kinder der Schoah Worte an ihre Schicksalsgefährten.
Vor dem ersten Teil möchten wir noch den Präsidenten des Zentralrats der Juden
in Deutschland zu Wort kommen lassen. Paul Spiegel hat in seiner bedeutenden
Rede zum 9. November 20001 zur Sprache gebracht, was sich in der Öffentlichkeit
für Juden in Deutschland nicht gehörte. Das wird durch die Reaktion von
Politikern bezeugt, die Rede sei "unanständig" und enthielte einen "überspitzten
Vorwurf"2.
Teil I Schweigen:
treuer Begleiter des Traumas
Leo Eitinger erinnert in seinem Beitrag "Und die Welt hat geschwiegen" an
die Haltung der internationalen Staatengemeinschaft in den Jahren vor dem
Ausbruch des II. Weltkriegs. Die Repressionen gegen die Juden wurden
mitangesehen, ohne dass jemand protestierte oder dagegen einschritt. Diese
Duldung gab Hitler die Sicherheit, dass er morden konnte ohne international
geächtet zu werden. Und die Verfolgten mussten die schreckliche Erfahrung
machen, dass die "Welt sie vergessen hatte". Es ist die eindrucksvolle Rede, die
er am 9. November 1992 zum Gedenken an die Opfer der Pogromnacht 1938 gehalten
hat. Anfang 1992 war auch der 50. Jahrestag der Wannsee-Konferenz.
Leo Eitinger macht klar, wie wichtig Gedenktage sind. Sie sind mit Ritualen
verknüpft, die besonders in der jüdischen Tradition psychohygienisch bedeutend
sind. Gedenktage wie diese sind wichtig für die Trauerarbeit und für die
Bewusstwerdung, wie die elementarsten Menschenrechte vom Naziregime geschändet
wurden. In seiner Rede skizziert er, wie das Weltgewissen sich nicht gerne von
den Ereignissen in Nazideutschland stören ließ und wie die Kirchen geschwiegen
haben. Die Menschenrechte sind noch immer in Gefahr, und wir dürfen nicht
schweigen.
1 Wortlaut in Die Welt 10. November 2000.
2 Zimmermann, Moshe: Das Wortspiel ist aus. Süddeutsche Zeitung 18. November
2000.
Der Beitrag von Haim Dasberg: "Warum Geschwiegen wurde - Spätfolgen in Israel"
betont, dass es eine Verschwörung des Stillschweigens gab. Zum einen haben die
Überlebenden während und nach der Verfolgung gelernt zu schweigen und ihre
Gefühle zu betäuben, weil während der Verfolgung diese Haltung von größtem Wert
für das Überleben war.
Zum anderen gab es keine offenen Ohren für die Verfolgten, als sie nach der
Befreiung sprechen wollten; die Welt wollte den Zurückgekehrten keine
Aufmerksamkeit schenken. Und es gab weder eine Sprache für das Undenk- und
Unsagbare noch konnten oder wollten Ärzte, Psychiater, Psychologen,
Psychotherapeuten in den ersten Jahrzehnten die benötigte Sprache entwickeln.
Auch jetzt noch müssen Therapeuten sich diese aneignen und lernen, auf ihre
eigene innere Erfahrung zu achten, damit sie den Opfern zugute kommen kann.
In der Einleitung seines Beitrags "Erinnern und Gedenken" erinnert David
de Levita an den 9. November 1938, die deutsche Pogromnacht, in die Geschichte
eingegangen unter dem verharmlosenden Namen "Kristallnacht".
Gedenktage sind zum Erinnern da. Eine Gemeinschaft bewahrt so wichtige Epochen
ihrer Vergangenheit vor dem Vergessen. Zum Erinnern verurteilt jedoch sind die
Verfolgten, denn sie können weder vergessen noch verdrängen, was sie an
Schrecklichem erlebt haben. Sie können ihren Erinnerungen nicht entfliehen, ja
diese tauchen sogar im Laufe des Lebens mit immer neuen Gesichtern auf. Die
Gedenkfeier könnte hier, so de Levita, eine andere Bedeutung haben, nämlich
zeigen, dass die Umwelt bereit ist zuzuhören und mitzufühlen, dass sie bereit
ist, als Gemeinschaft das Schicksal zu tragen, das für den Einzelnen zu schwer
ist.
Über das Schicksal des Einzelnen hinaus wird die Frage gestellt, was sich über
Generationen fortsetzt. Es gibt einen Mechanismus von Transmission der Konflikte
auf die nachfolgende Generation, u.a. mittels projektiver Identifikation. Die
Kinder können sehr in ihrer Entwicklung gestört sein und die Beschädigung ihrer
Eltern in den Beziehungen zu anderen ausagieren. Das Problem ist deshalb so
schwerwiegend, weil es nicht nur das Misslingen individueller Lebensläufe
beinhalten kann, sondern auch die Beziehungen zwischen Völkern über Generationen
hinweg stören kann.
In der Arbeit mit kriegstraumatisierten Kindern im ehemaligen Jugoslawien
begegnete er dem Motiv der Rache, das seit Generationen in den verfeindeten
Nationalitätengruppen weiterlebt und immer wieder Zündstoff für Feindschaft und
Krieg ist.
Die Verknüpfung kultureller und psychologischer Perspektiven steht auch im
Zentrum des Beitrages "Erlebtes und ererbtes Trauma" von Dierk Juelich.
Er schlägt einen weiten Bogen zur Entwicklung von Deutschland als Nation, um den
Stellenwert des Antisemitismus für das brüchige deutsche Nationalgefühl
aufzuzeigen. Er entwirft also einen psychoanalytisch-kulturellen
Erklärungsansatz der Schoa.
Nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes sei die psychische
Verarbeitung der Kränkung und des Verlusts von Größenphantasien nicht gelungen.
Dies führt zu kollektiven Erscheinungen, wie dem Fehlen von Trauer um die Opfer
der Vernichtung und dem Reklamieren der Opferposition durch die nichtjüdischen
Deutschen. Er weist auf die Gefahren für die nächsten Generationen hin, zeigt
aber auch Wege aus dem Dilemma auf. Die Verstrickung der Kinder der "Täter"-
oder "Mitläufergeneration" muss verstanden werden, ohne dass jedoch ihre
Situation mit der der Kinder von Schoah-Überlebenden gleichgesetzt werden kann.
"Wenn man also vom Schlechten nicht reden kann, weil es so fürchterlich ist, und
vom Guten nicht, weil es so peinlich ist, bleibt nicht viel übrig", dieses Fazit
setzt David de Levita an das Ende seines Beitrags "Über das Schweigen".
Vorher spricht er davon, dass die Welt damals nicht nur geschwiegen hat, sie hat
auch Millionen Soldaten geschickt, um Hitler zu bekämpfen, von denen manche
nicht heimgekehrt sind.
Es gibt also neben dem schmerzlichen Gefühl, dass die Welt geschwiegen hat, auch
Schuldgefühle und verurteilte Triumphgefühle überlebt zu haben. Überlebende
Frontkämpfer kennen dieses Schuldgefühl kaum. Es erklärt, auf welche Weise
moralische Konflikte es den Überlebenden so schwer machen, über ihr Schicksal zu
sprechen. Sogar die Fähigkeit, Anteilnahme von der Umwelt zu beanspruchen, kann
verloren gehen. Wie sich ein Weg zum Reden öffnet, wenn eine anteilnehmende
Zuhörerschaft die traumatisierte Person umgibt, beschreibt David de Levita am
Beispiel seiner Arbeit mit unlängst traumatisierten Kindern in Slowenien.
Alexandra Rossberg beschreibt in ihrem Beitrag "Die Zeit heilt die Wunden
nicht" das Schicksal der verfolgten Kinder, die vor oder während der Schoah
geboren sind, und deren schweigende Mehrheit heute unerkannt unter uns lebt.
Sie fühlen sich fast überall als Außenseiter und kaum einer von ihnen kann sich
irgendwo richtig zugehörig fühlen. Die meisten von ihnen haben versteckt und nur
wenige in Lagern überlebt.
Sie untersucht, warum dem Schicksal dieser Kinder so wenig Aufmerksamkeit
gewidmet wurde, obwohl gerade Kinder unendlich mehr gelitten haben als
Erwachsene. Sie macht darauf aufmerksam, dass die Erwachsenen nur sich selbst
für Überlebende hielten und von den Kindern Vergessen verlangten. So wurde das
innere traumatisierte Kind quasi "eingefroren", damit das äußere Kind
"funktionieren" konnte.
Alexandra Rossberg hat im Rahmen ihrer Arbeit 150 dieser Kinder kennengelernt
und geht der Frage nach, wie ihnen heute geholfen werden kann. Sie kommt zu dem
Ergebnis, dass zur "Heilung" beitragen könnte, sich als Überlebender zu
identifizieren. Dabei können Gruppen Gleichaltriger eine große Unterstützung
bieten. Unverzichtbar ist jedoch eine gesellschaftliche Anerkennung, dass diesen
Kindern etwas Unrechtes angetan wurde.
Mit ihrem Gedicht "lebenslänglich" schildert Inge Michael, was es
bedeutet, mehrfach ausgegrenzt und von verschiedenen Seiten traumatisiert zu
werden. Sie fragt, warum es nicht normal sei, 1927 als Deutsche mit einem
evangelischen Vater in Polen von einer jüdischen Mutter geboren zu werden.
Damit kommt auch eine Klientin selbst zu Wort, bevor im nächsten Beitrag wieder
über sie und ihre Schicksalsgefährten im Allgemeinen gesprochen wird.
In ihrem Beitrag "Der halbe Stern" beschreibt Alexandra Rossberg das
Schicksal einer anderen Gruppe von Außenseiterkindern während und nach der
Nazizeit, die als Gruppe in der Literatur vergessen wurde und bis heute noch
nicht als Opfer im gesellschaftlichen Bewusstsein wahrgenommen wird. Es handelt
sich dabei um die Kinder mit einem jüdischen Elternteil.
Alexandra Rossberg geht den Wurzeln ihrer Ausstoßung nach, beginnend mit dem
Reichsbürgergesetz von 1935, durch das sogenannte Mischlinge ihrer bürgerlichen
Rechte beraubt wurden. Sie beschreibt die noch folgenden Erlasse und Anordnungen
und deren Auswirkungen im Alltag: zunehmende Ausgrenzung und Diskriminierung bis
zum Deportationsbefehl.
Im Nachkriegsschicksal solcher Kinder setzen sich die Konstellationen der
Nicht-Zugehörigkeit fort. Sie sind eine Gruppe, die nach der Befreiung zwischen
zwei Stühlen sitzt und ganz besonders vom Schweigen betroffen ist.
Robert Krell setzt in seinem Beitrag "Die nicht anerkannten und verborgenen
Überlebenden der Schoa: Kinder des Holocaust" die Betrachtung des Schweigens
fort.
Nach einem Besuch von Auschwitz und Treblinka, wo fast alle Verwandten seiner
großen Familie ermordet wurden, fasste Krell den Entschluss, seinen vergrabenen
Gefühlen eine Stimme zu geben. Die wenigen überlebenden Kinder, zu denen er
selbst gehört, wurden in ihrer Identität und Existenz sehr verletzt. Als
Erwachsene fehlte ihnen oft die jüdische Erziehung. Wie sollten sie jüdische
Gebote und Verbote heute befolgen, ohne sie als Kind verinnerlicht zu haben? Sie
litten unter existenziellen Beschwerden. Diese Beschwerden haben sie aber nicht
daran gehindert, lebenslang hart zu arbeiten, sozial erfolgreiche Menschen zu
werden und ein Gewinn für die Gesellschaft, in der sie leben, zu sein.
Gleichwohl ist eine Reintegration in die Gesellschaft noch keine Heilung des
persönlichen Leidens.
In seinem Beitrag "Reflexionen eines Psychiaters / Child Survivors"
ergreift Robert Krell vor allem aus der Sicht seines Berufsstandes das Wort. Er
zeigt auf, warum die psychischen Probleme der überlebenden Kinder lange Zeit
nicht wahrgenommen wurden, ihre Geschichten nicht so wichtig schienen und sie
selbst als Personen versteckt blieben.
Das Schweigen, über das er sich hier Gedanken macht, liegt in dem fehlenden
Widerhall des Holocaust in der Psychiatrie und bei den Psychiatern. Es ist, als
wäre nichts geschehen. Aufseiten der Täter haben Psychiater sich an der Tötung
von Geisteskranken beteiligt; sie wurden kaum zur Rechenschaft gezogen und sind
bald wieder in einflussreiche Stellungen gelangt. Aufseiten der jüdischen
Überlebenden hatte der Holocaust zwar dem einzelnen Psychiater oder
Psychoanalytiker seinen Stempel aufgedrückt, aber keine erkennbaren
Rückwirkungen auf die Psychiatrie oder Psychoanalyse. Es bleibt eine offene
Frage, wie der Holocaust das zeitgenössische psychiatrische Denken geprägt hat.
Robert Krell erzählt aus seiner persönlichen Geschichte, wie er sich der
Verleugnung seiner eigenen Vergangenheit bewusst wurde. Er versucht zu erklären,
warum der gesamte Berufsstand Fragen vermeidet, die eine Verbindung zu einem
Hintergrund eines Überlebenden haben. Er stellt die These auf, dass Vermeidung
teilweise ein Versuch ist, dem Zorn des Opfers zu entkommen. Schweigen fühle
sich sicherer an.
Teil II Extremtrauma:
Folgen und Behandlung in mehr als einer Generation
Im zweiten Teil stehen vor allem die Beiträge aus der Fort- und Weiterbildung
für Fachkräfte bei ESRA. Nur zwei Vorträge wurden bei einem öffentlich
zugänglichen Symposium gehalten. Dieser Teil beginnt mit einleitenden Seiten von
Johan Lansen: Was ist Trauma?
Den eigentlichen Anfang macht Frau Han Groen-Prakken mit ihrer Arbeit Trauma
und Entwicklungsinterferenz. Die Psychoanalyse ist eine Behandlungsform, die
seit der Einführung von Posttraumatischer Belastungsstörung als Diagnose in der
englischsprachigen Welt von Traumatherapeuten nicht mehr mit Behandlung von
Trauma assoziiert wird.
Mit dieser Arbeit macht die Autorin jedoch klar, dass die Psychoanalyse oder die
psychoanalytische Therapie auch den Traumabetroffenen viel zu bieten hat. Das
gilt besonders für diejenigen, die als Kind traumatisiert wurden. Aus einer
psychoanalytischen Perspektive betrachtet sie den Einfluss traumatischen
Geschehens auf die noch unausgewachsene Psyche des Kindes, der die normale
Entwicklung sehr stören kann. Hilfreich bei der Betrachtung von Diagnose und
Therapie ist das von ihr so bezeichnete ätiologische Dreieck von Trauma,
Entwicklungsinterferenz und Neurose, das die Basis für einen Behandlungsplan
bildet.
Sie unterstreicht, dass bei der Zweiten Generation, also bei den nach der
Befreiung geborenen Kindern von Überlebenden, die ätiologische Situation anders
ist. Sie selbst sind nicht wie ihre Eltern von überwältigenden Ereignissen
traumatisiert worden, die die synthetische Funktion des Ichs außer Kraft setzen.
Jedoch wachsen sie inmitten unzähliger Signalängste auf, die zwar zu der
damaligen Realität der Eltern gehören, aber nicht zur gegenwärtigen Realität der
Kinder. Dadurch wird die Entwicklung während der gesamten Kindheit und in der
Pubertät beeinträchtigt. Sowohl das Trauma selbst als auch die
Entwicklungsinterferenz kann die Basis einer Neurose bilden. An die
Behandlungsmethode der jeweiligen Kategorie müssen demzufolge unterschiedliche
Anforderungen gestellt werden.
Es folgt von Johan Lansen der Beitrag Spätfolgen. Dieses Kapitel
beschreibt die klinischen Folgen bei Überlebenden des Naziterrors anhand der
Erfahrungen der spezifischen Hilfeleistung in den Niederlanden.
Aufgrund von 50 Jahren Hilfeleistung darf gesagt werden, dass diese selbst eng
mit Entwicklungen in der Gesellschaft und den sich ändernden Ansichten über
Opfer und deren Anerkennung verbunden ist. In West-Europa hat es lange gedauert,
ehe die Einsicht Fuß gefasst hat, dass man es bei Überlebenden mit einer
besonderen Art von Pathologie zu tun hat. Diese Entwicklung in der Gesellschaft
und in Fachkreisen wird kurz beschrieben. Dann wird ein kurzgefasster Eindruck
klinischer Bilder und Verlaufsformen gegeben; dabei wird klar, dass die
Posttraumatische Belastungsstörung als Konzept nur eine beschränkte Rolle
spielen kann.
Aufgrund der Erfahrung mit der jüdischen Bevölkerung in den Niederlanden wird
die begründete Hypothese aufgestellt, dass etwa ein Drittel eines solchen
extremtraumatisierten Bevölkerungsteils nur eine leichte Form psychosozialer
Hilfe braucht. Ein anderes Drittel wiederum braucht spezialisierte, intensive
psychiatrische und psychotherapeutische Hilfe. Ein weiteres Drittel kann
wahrscheinlich gut ohne eine derartige Hilfe auskommen.
Am Ende werden die Änderungen in der niederländischen Gesellschaft erwähnt, die
sich während 50 Jahren zugunsten der Opfer vollzogen haben: Aus einer Kultur des
Schweigens wurde eine Kultur des Redens und der Anerkennung des Leidens der
Opfer.
Von dem verstorbenen Chris Barneveld ist der Beitrag Behandlung von
Verfolgten im Seniorenalter, der im Weiterbildungskurs von Johan Lansen
benutzt und später ergänzt wurde.
Dieses Kapitel handelt von Überlebenden des Naziterrors, die das Seniorenalter
erreichen. Obwohl sie lange Zeit frei von Beschwerden sein können, tritt beim
Altern, manchmal zum ersten Mal, als Folge von unverarbeiteten Erfahrungen aus
der Zeit der Verfolgung eine bestimmte Symptomatik auf.
Der Autor geht zuerst auf typische Aspekte ein, die im Seniorenalter im
Allgemeinen eine Rolle spielen. Hinzu kommt noch, dass das Seniorenalter eine
Zeit ist, in der man versucht, das gelebte Leben zu einem sinnvollen Ganzen
zusammenzufügen. Für die Überlebenden gibt es bei dieser Aufgabe oft
Hindernisse, nämlich ihre Gründe zu schweigen und nicht zurückzuschauen. Altern
hat für sie oft die Bedeutung eines drohenden, erneuten Verlusts.
Es wird weiter eingegangen auf Symptome und Behandlung. Am Ende werden Hinweise
zur Herstellung eines gut geeigneten Versorgungs- und Behandlungsumfelds
gegeben, gefolgt von allgemeinen Ratschlägen.
Das Kapitel Verlassenheit von Johan Lansen beschreibt konkret, wie eine
totale Verlassenheit, eine der schwersten traumatischen Ereignisse, einen
Menschen bis an den Rand des Todes oder in den Tod treibt.
Das Geschehen kann den Menschen buchstäblich psychisch brechen: Es hat eine
zerstörerische Wirkung auf das Vermögen zu denken, zu fühlen und zu handeln. Die
Reaktion auf totale Verlassenheit, wie sie in Konzentrationslagern eintrat und
heutzutage auch bei schwerer Folter eintritt, wird die katatonoide Reaktion
genannt.
Eine andere Reaktion, die weniger unmittelbar tödlich ist, aber ebenso
gefährlich, ist das Muselmann-Syndrom.
Die Verschiebung im psychischen Gleichgewicht, die bei einer einfachen
traumatischen Reaktion wie der PTBS vorkommt, kann man in allgemeinen Begriffen
wie 'fight-flight' Reaktionen beschreiben. Bei der Extremtraumati-sierung aber
ist eher die Rede von 'conservation-withdrawal' (katatonoide Reaktion und
Muselmann-Syndrom) und sogar vom Tod.
Diejenigen, die eine totale Verlassenheit überlebt haben - oft durch Zufall
-genesen mit gewissen Defekten. Es wird auf Behandlungsmöglichkeiten eingegangen
und auf die Bedeutung von gesellschaftlicher Anerkennung für die Behandlung in
einem System von Care und Cure-Einrichtungen, wie es in den Niederlanden
existiert.
Das Kapitel Psychoanalyse und Verfolgungstrauma ist ebenfalls von Johan
Lansen. Die Psychoanalyse als Schule hatte für die Behandlung der einzelnen
Betroffenen, einer großen Zahl von Menschen, aus verschiedenen Gründen relativ
wenig Bedeutung. Es gab einzeln arbeitende Analytiker, die gute Therapien
gemacht haben.
Der Autor geht näher auf die Ansichten des niederländischen Analytikers Bas
Schreuder ein, der als Direktor vom Centrum 45, einer Klinik für ehemalige
Widerstandskämpfer und andere Geschädigte des II. Weltkriegs, gearbeitet hat.
Die psychoanalytische Behandlung versucht seines Erachtens, die traumatischen
Erfahrungen, auch die nicht verbalisierbaren, in erzählende Strukturen zu
integrieren.
Danach werden kurz neue Ansichten anderer Analytiker zum Thema Trauma erwähnt.
Ausführlich werden dann eigene Ansichten von Johan Lansen dargelegt. Er
beschreibt, wie Selbst- und Objektrepräsentanzen von Verfolgungs- und
Foltertraumen beschädigt werden. Zwei Polaritäten spielen dabei eine Rolle:
Aggressor-Opfer und überlegen-unterlegen.
Obwohl nachher oberflächlich gesehen eine Genesung stattgefunden hat, bleiben
die Beschädigungen in der inneren Welt in Form einer Labilität dieser
Repräsentanzen bestehen.
Das Kapitel Erzähltherapie in Gruppen alternder Child Survivors des Holocaust
enthält einen klinischen Beitrag von Haim Dasberg. Er beschreibt eine
Gruppentherapie von Überlebenden des Holocaust, die bei der Befreiung zwischen 1
und 16 Jahre alt waren. Zur Zeit der Teilnahme waren sie ein gutes Stück über
der Lebensmitte. Sie fanden sich sowohl mit den Erfordernissen des Älterwerdens
konfrontiert als auch mit den unerfüllbaren Bedürfnissen, die aus der vom Trauma
gestörten Entwicklung stammen. Es war eine 'narrative group', eine Erzählgruppe.
Sie erzählten und besprachen während viereinhalb Jahren ihre zum Teil erst
gerade wiedergefundenen Lebensgeschichten. Haim Dasberg beschreibt den Prozess
dieser Therapie und deren Bedeutung für die Gegenwart.
haGalil onLine 12-02-2004
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