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Vorwort zum Buch "Siegel der Erinnerung" von Dina Wardi

Über die Weitergabe
des stummen Entsetzens

Die »Gedenkkerzen« und die Wucht der seelischen Deformation der Opferkinder

Tilmann Moser

Beginnen wir mit dem Paradox, das sich für nichtjüdische Deutsche nur durch Demut erträglich machen läßt: Was Horst Eberhard Richter und Helm Stierlin und andere in den sechziger und siebziger Jahren über Projektion, Delegation und erzwungene innerfamiliäre Rollenübernahme durch die Kinder erforscht haben, vollzog sich an den kurz nach dem Krieg geborenen Kindern von Holocaust-Überlebenden mit einer Tiefe und Unausweichlichkeit, die schaudern macht. Viele nichtjüdische deutsche Psychotherapeuten haben selten oder nie die schmerzliche und heilsame Gelegenheit, mit solchen Opferkindern zu arbeiten. Und gerade deshalb wird Dina Wardis Buch über diese Patienten für viele nichtjüdische deutsche (und viele andere) Psychotherapeuten und Patienten hilfreich sein. Nicht zuletzt kann aus der Analyse des Entsetzlichen auch ein Erkenntnisgewinn im Blick auf die Kinder von Tätern und Mitläufern erwachsen.

Man muß sich 1997 nicht mehr den auch von vielen Deutschen verwendeten Vorwurf zu eigen machen: Wer mit Täterkindern therapeutisch umgeht und ihre Schicksale analysiert, betreibe Schuldeinebnung oder Aufrechnung. Darum geht es nicht. Es geht vielmehr darum, zu erkennen, daß Gewalt, Terror und Völkermord, von einer Generation begangen, die zu Schuld und Scham unfähig war, sich oft genug in den Kindern als Verstörung und Erstarrung zeigen.

Nach jahrzehntelanger Verborgenheit erscheint nun endlich in Neuauflage der große Aufsatz Zwei Fälle zum Thema »Bewältigung der Vergangenheit" von Anna Maria Joki, die bereits in den fünfziger Jahren in Berlin parallel mit Opfer- und Täterkindern gearbeitet hat (Jüdischer Verlag, Frankfurt 1997). Und auch das Werk des israelischen Psychologen Dan Bar-On (Die Last des Schweigens, Rowohlt 1996) und sein gelungener Versuch, Täter- und Opferkinder in Gruppen zusammenzubringen, trägt allmählich Früchte, auch wenn er selbst, in Deutschland wie in Israel, immer wieder starken Anfeindungen ausgesetzt ist, eben weil er die seelischen Spätschäden bei beiden Gruppen in manchen Aspekten für vergleichbar hält. Ihm wurde vorgeworfen, daß er sich den Deutschen anbiedere und ihre Schuldgefühle mildere. Aber das ist nicht sein Ziel, und es ist nicht meines, Dina Wardis Buch so zu verstehen, als relativierten ihre Einsichten, angewandt auf Täterkinder, die Schuld der ersten Generation. Die Kluft des Unvergleichbaren bleibt tief genug. Dina Wardi selbst schreibt in einem Brief zu diesem Thema: »Obwohl die äußere Symptomatologie und Psychopathologie der beiden Gruppen oft ähnlich sind, sind die psychischen Inhalte dieser Symptome extrem unterschiedlich, da sie ihren Ursprung in sehr unterschiedlichen Umständen haben.«

Daß die Kinder der Täter und Mitläufer oft von Angst und Grauen getriebene Lebensläufe hatten, könnte ein anderes, schier unerträgliches Paradox mildern: Die Generation der Täter scheint kaum gebüßt zu haben. Viele ließen ihre Frauen büßen und dann ihre Kinder, da sie weiterhin ihre »Opfer« brauchten; und da wiederum ist es, ganz ähnlich wie in jüdischen Familien, oft nur eines aus der Reihe der Geschwister, das durch Beunruhigung und Leid die verborgene Geschichte ans Licht bringt. Man könnte darin ein Stück transgenerationaler historischer Gerechtigkeit sehen.

Also noch einmal die lapidare Feststellung eines deutschen Lesers: Ich nehme Dina Wardis Buch über ihre Patienten in Israel mit einer doppelten Aufmerksamkeit auf, die ich nicht einfach wegdrängen kann. Einerseits bin ich bedrückt und ergriffen von der Last, die die Opferkinder zu tragen hatten; ihre Lebensläufe sind durch ständiges Todesgrauen geprägt, das niemals Trauer und neue Lebendigkeit zuließ; und andererseits sehe ich dabei Täter- und Mitläuferkinder aus meiner eigenen Praxis vor mir, auch Kollegen, die sich in meinen Seminaren ihrer eigenen NS-Familiengeschichte stellen.

Seit ich einigen jüdischen Kolleginnen begegnet bin, die sich in ihrer Arbeit der Begegnung von Opfer- und Täterkindern widmen - ich nenne nur lulle C. Goschalk aus Boston und Miriam V. Spiegel aus Zürich und schließlich Dan Bar-On selbst -, fällt es mir leichter, das Paradox der partiellen Ähnlichkeit in der Seelengeschichte von Täter- und Opferkindern anzunehmen und die viel weiter fortgeschrittene Opferforschung auch für die Täterkinder fruchtbar zu machen.

Entwurzelung, Vertreibung, Trennung, Vernichtung

Versteinerung und Robotisierung sind oft diagnostiziert worden als Folgen des Lebens im Lager oder im Versteck. Was im Eingangskapitel über die Eltern von Wardis Patienten deutlich wird, sind die Traumatisierungen dieser Generation im Blick auf die Fähigkeit, Partner und Eltern zu sein. Neue Liebe bedeutete oft genug Verrat an verlorenen Angehörigen, Partnern und früheren Kindern. Die Eltern der nach 1945 geborenen Kinder trafen eine oft rein zufällige Wahl und fanden nie mehr zu einer tragfähigen Intimität. Ihre Bindung an die verlorenen Angehörigen bestand hauptsächlich aus Schuldgefühl und erstarrter Trauer, weil lebendige Erinnerung und Symbolisierung nicht mehr gelangen. Die Vernichtung aller Gefühle war häufig die Bedingung für das Überleben. Und die tiefste Demütigung brachte der seelische Zwang, in der Regression des Lagers sich auch noch mit den Quälern und Verfolgern zu identifizieren. Es macht die Schwere, aber auch den tiefen Informationsgehalt dieses Buches aus, daß die Familienschicksale im Längsschnitt sichtbar werden: Es wird fühlbar, was es bedeuten kann, auf der Rampe und nach tagelanger Fahrt im Viehwagen brutal von Eltern, Geschwistern oder eigenen Kindern getrennt zu werden. Die Seele faßt es nicht und rettet sich in Erstarrung. »Eineinhalb Millionen jüdischer Kinder wurden im Holocaust ermordet. Nach der Befreiung wurde die Geburt neuer Kinder zum Symbol des Sieges über die Nazis.« Aber was für ein Sieg, unter wieviel neuen Opfern! Und mit welchen Erwartungen an die Kinder!

Die Kinder als Kompensation, Rettungsanker und Ersatz

»Die Annahme, daß sich diese Erwartungen der überlebenden Eltern im Verlauf der Zeit legen und verschwinden würden, erwies sich als falsch. Nicht nur, daß sie nicht verschwanden, sie wurden vielmehr sogar fordernder und extremer.« Dies ist das Schicksal der Kinder, die nicht zu einer eigenen Individualität finden konnten und auch nicht finden durften. Sie wurden zu »Symbolen für das, was ihre Eltern verloren hatten«. Sie wurden überhäuft mit Namen, die sie verkörpern sollten. Wardi greift zu drastischen Formulierungen: Die Kinder waren »Leichenwagen« oder Urnen für die Asche der Toten oder menschlicher Stoff, um die »riesige Leere« aufzufüllen.

Rätselhaft sind die Wege, wie das nie Formulierte, das von den Eltern Be-schwiegene, sich dennoch in die Seelen und Körper der Kinder drängte. Was bereits gut erforscht ist im Blick auf die Rolle des »Sündenbocks« in vielen Familien, das vollzog sich hier nach dem Holocaust analog in der Wahl eines »Retters«: Eines der Kinder wurde zum Retter für die Eltern wie für die gesamte ermordete Großfamilie auserkoren, und der Retter trägt eine »messia-nische Aufgabe und Bestimmung«. Wenn diese Rettung der Eltern oder die Ersetzung von verlorenen, idealisierten Menschen nicht gelang, kam es zu tiefer Enttäuschung, denn die Kinder »werden aus dieser völlig ungerechten Konfrontation immer als Verlierer hervorgehen«. Eine Befreiung aus der aufgezwungenen Rolle wird als drohende Familienkatastrophe erlebt. Oft sind es erst die Träume, die, behutsam gedeutet, Einblick geben in das Ausmaß der Verstrickungen des familiären Unbewußten. »Die unbewußte Botschaft, die die Überlebenden den >Gedenkkerzen< übermitteln und hinterlassen, lautet:

>Erlebt den Holocaust und löst ihn für uns.« Anita Eckstaedt hat in ihrem Buch Nationalsozialismus in der »zweiten Generation«. Psychoanalyse von Hörigkeitsverhältnissen (Suhrkamp 1996) bei den von ihr behandelten Täterkindern ebenfalls die Figur eines Retters oder Helden ermittelt mit dem Auftrag: Hilf uns, die Niederlage zu verleugnen, indem du ein Held wirst.

Das Fehlen der schützenden Mutter

Viele Patienten scheinen schon im Uterus geschädigt zu sein durch endokrine Botschaften der Mutter, daß das Leben entsetzlich sein kann, oder aber durch die Furcht der Mutter, den Fötus durch ihre seelische Erbschaft aus dem Holocaust zu schädigen. Wichtig ist, in welchem Alter Deportation und Lager die Mütter getroffen hatten: ob sie schon ein Leben »davor« gehabt hatten oder ob ausschließlich das »Dort«, im Lager oder im Versteck, ihr menschliches Erwachen geprägt und verstümmelt hatte. Das Gefühl, von den eigenen Eltern nicht geschützt worden zu sein, drang tief in die Seele ein, hinterließ Trauer und Wut, die nie ausgedrückt werden konnten. Und so sollte oftmals der Ehemann die verlorene Mutter ersetzen; Sexualität wurde, so entfremdet, ein Ersatz für verlorene Wärme und Sicherheit. »Zu diesem Zeitpunkt sahen die meisten überlebenden Frauen in ihrem Partner noch immer eine fremde Person, deren Gegenwart das Gefühl der Einsamkeit keineswegs milderte, sondern die nach dem Verlust der eigenen Familie (insbesondere der Mutter) entstandene Leere noch steigerte.«

Da wirkt die Existenz des Fötus und später des Kindes wie ein zugleich ängstigendes und beruhigendes Medikament, als Beginn einer Überlebens-Symbiose. Und es scheint, daß die unbewußten Botschaften und Aufträge durch diese seelische Nabelschnur auch vermittelt werden. Viele Patienten können sich nicht an einen lebendigen Körperkontakt erinnern. »Das Kind kann aus dem leeren Gesicht der Mutter seine eigene Bedeutung und seinen Wert nicht ablesen und verinnerlichen.« Um so stärker ist es oft einer extremen Kontrolle ausgesetzt, die der Minderung der mütterlichen Angst dient. Dies geht so weit, daß die Patienten oft gar nicht lernen können, zwischen sich und der Mutter zu unterscheiden.

Opfer und Aggressor als archetypische Einheit?

Um die Vorgänge der Identifizierung der Opfer mit den Verfolgern zu erklären, greift Dina Wardi, obwohl sonst eher freudianisch orientiert, auf C. G.

Jungs Archetypenlehre zurück, die bei Jung ja ohne jeden politischen Kontext verwendet wird. Hier sind ihre Analysen vielleicht am ehesten angreifbar, weil der Holocaust dabei quasi nur innerpsychisch abgehandelt wird und die politisch-propagandistische Produktion und Wirkung der enthumanisierenden Stereotypen außer acht gelassen scheinen.

Trotzdem konstatiert und analysiert sie starke Unterschiede in den Familien von »Opfern« und von »Kämpfern«: Die »Opferfamilien«, als psychologische Kategorie verstanden, binden ihre Kinder weit stärker als die »Kämpferfamilien« und geben ihnen Signale der Lähmung und Resignation mit auf * den Weg. Die Depression selbst wird zu einer Art seelischer Nahrung, die Sicherheit verleiht.

Therapeutisch aber scheint Jungs Gegensatzpaar von Täter und Opfer als archetypische Einheit fruchtbar zu sein bei dem Versuch, an die verlorenen Spuren des Gegensatzes in der Psyche des einzelnen heranzukommen, der integriert werden muß. Der verinnerlichte Verfolger ist jedoch eine derart monströse Figur, daß die Annäherung an ihn Wut und Panik auslösen kann. Denn die Welt besteht, streng getrennt, aus Gefolterten und aus Folterern, alles andere muß, durch eine tiefe Wand des Mißtrauens hindurch, erst langsam wahrgenommen werden.

Dies führt in den gruppentherapeutischen Sitzungen dazu, daß selbst die israelischen Therapeuten, die man bereits Monate, ja Jahre geprüft hatte, »die Gestalt repressiver und bedrohlicher Aggressoren annehmen«; der Gruppenraum selbst wird zum SS-Hauptquartier. Die Vorbereitung auf den nächsten Holocaust wird in der Gruppe wie auch in vielen der betroffenen Herkunftsfamilien zu einem über längere Zeit sehr bedrückenden Thema. In psycho-dramatischen Sitzungen konnten einzelne Patienten dann auch SS-Rollen übernehmen, und zwar zunehmend mit Genuß und Zufriedenheit. Selbst die eigenen Eltern verwandeln sich in Träumen in SS-Personal, so wie umgekehrt die Eltern ihre Kinder bei Wutausbrüchen wie »kleine Hitlers« erlebten und so erneut Terror gegen die Kinder ausübten.

Dies alles ist so bedrohlich, daß schließlich eine Identifikation mit dem Tod selbst zu einer Form der Zuflucht und der Sicherheit für die »Gedenkkerzen« wird. Denn Wut bringt nicht nur unendliche Schuld, sondern auch Todesnähe. Uterus und Sarg rücken zusammen, sie schützen vor den unerträglichen Affekten. Dann müssen auch die widersprüchlichen Identitäten, die sich aus Fragmenten der verschiedensten Toten und Lebenden zusammensetzen, nicht mehr sortiert und entflochten werden, die schwerste Arbeit, die der therapeutische Prozeß mit sich bringt. So stellt ein Patient fest: »Ich lebe eher bei den Toten als bei den Lebenden. Wenn ich am Grab meines Onkels sitze, bin ich ruhig. Wenn ich bei den Lebenden bin, habe ich ziemliche Angst.« Und eine andere Patientin sagt: »Ich fühle mich wohl unter den Toten. Sie fordern nichts von mir.«

Der therapeutische Prozeß

Es ist unverkennbar, daß ein Grundstein von Dina Wardis therapeutischem Repertoire ihre gestalttherapeutische Ausbildung ist, die am Beginn ihrer Laufbahn stand. Sie ist nicht nur eine der ersten, die Gruppentherapie in Israel systematisch bei Kindern von Überlebenden angewandt hat, sondern es gelingt ihr auch, Elemente von Gestalttherapie und Psychodrama mit einer gruppenanalytischen Technik zu verbinden, wie sie später in London ihre bis heute gültige Ausprägung gefunden hat. Dadurch wird es ihr möglich, die in der verwirrenden Gruppenübertragung aufbrechenden Clan-Geschichten in der Einzelarbeit im Rahmen der Gruppe zu integrieren und aus dem Chaos der inneren Objekte und Objektfragmente konkrete und separierte Erinnerungsfiguren entstehen zu lassen. Von einer Patientin heißt es: »Plötzlich begann sie ihre toten Verwandten direkt anzusprechen.« Mit solcher Wendung an die inneren Objekte verliert die kaum auszuhaltende Stimmung von »Mißtrauen, Feindseligkeit und Distanz« ihre Schrecken, und wechselseitige Einfühlung beginnt sich zu entwickeln; denn nun müssen die Verschwundenen wie die Mörder nicht mehr nur in der Gruppenübertragung gesucht werden.

Eine elementare Erfahrung der Patienten in der Therapie ist die: Sie haben Fragmente anderer Personen als vermeintliches eigenes Leben gelebt. Dies alles ist schon von vielen Opfer-Forschern analysiert worden. Was die Einzelanalyse auf diesem Gebiet erarbeiten konnte, findet sich zusammengefaßt in dem Buch Kinder der Opfer — Kinder der Täter (Bergmann u. a., S. Fischer, 1995), samt dem Zweifel am Instrument der klassischen Analyse auf diesem Feld überhaupt. Doch in der doppelten Ausfaltung - Übertragungsanalyse und Aufarbeitung im Rollenspiel - gewinnt die Arbeit mit den vom Holocaust Gezeichneten eine gesteigerte Anschaulichkeit und Plausibilität, und sie enthält so auch therapeutische Hoffnung. Dazu gehört auch eine andere »Technik«: dem Protagonisten, der sich einem entsetzlichen, für ihn unerträglichen Anblick oder Affekt nähert, körperlich Beistand zu geben, ihm einen menschlichen Container zu bieten für die Wiederbegegnung mit einer Situation, in der es bis dahin nur Erstarrung als Containment, als Überlebenstechnik gab. Über die wechselseitige Identifizierung der Patienten in der Gruppe verstärkt sich der Mut, die Abgründe zu erforschen und so die Schmerzen der Vorfahren »vom eigenen Schmerz unterscheiden zu können«.

Die sexuelle Dimension des Terrors

Besonders erschütternd sind die Passagen in Dina Wardis Buch, in denen deutlich wird, daß die SS dem Grauen noch eine sexuelle Note aufzwingen konnte: »Es standen da einige SS-Männer und haben ihre Privat-Selektion gemacht.« »Später hat jemand erzählt, daß sie (ausgesuchte Mädchen, T. M.) als Prostituierte für die SS-Offiziere bestimmt waren.« Solche Geschichten tauchen immer wieder auf, sei es als Realität oder als durch die Situation erzwungene bzw. induzierte Phantasien. Und diese Phantasien kehren wieder als Verdächtigungen der Kinder gegenüber den Eltern, weil sie nicht fassen können, wie diese überlebt haben: Entweder müssen sie selbst Schurken oder Dirnen gewesen sein oder unerreichbar idealisierte Helden.

Die sexuellen Terrorträume sind so erniedrigend, daß sie erst nach einigen Jahren Therapie in der Gruppe mitgeteilt werden können. Eine Folge einer solchen inkorporierten Phantasie - oder auch der Erzählung realer Vorkommnisse - ist ein Leben zwanghafter erotischer Maskenhaftigkeit: »Wenn ich mich selbst retten, am Leben bleiben will, dann muß ich hübsch sein.« Tritt aber eine erotische Situation ein, dann gefrieren plötzlich die Gefühle, und der Intimpartner kann von einem Augenblick zum ändern zum Feind werden. »Die Gefühlswelt verabscheut ein Vakuum«, schreibt Dina Wardi, und sie erklärt damit, daß sich die riesigen Leerstellen des Schweigens zwangsläufig mit Phantasien füllen, die eine Verbindung zwischen dem Innenleben und der noch entsetzlicheren Realität suchen. Auch hier mußten Männer wie Frauen die von den Eltern »ausgeliehenen psychischen Erfahrungen« blind leben und einen Teil des Holocaust in die zweite Generation hinein verlängern.

Der Schritt in das eigene Leben mit der Erinnerung

Dina Wardi überschreibt das Kapitel über die therapeutischen Ergebnisse ihrer Arbeit: »Loslösung von der Rolle der >Gedenkkerze<«. In dieser Formulierung wird noch einmal deutlich, daß der Ausstieg aus der Überwältigung durch aufgezwungene Rollen und Aufträge einem Abschied, einer Geburt, fast einer Zellteilung gleicht: »Ich werde nicht mehr, wie all die Jahre, nur ein Leichenwagen sein.« Da ist die Trennung von der ermordeten Großfamilie, die zu individualisierten Erinnerungsbildern geworden ist. Und da ist die Trennung vom elterlichen Auftrag, der mit der Muttermilch und den ersten väterlichen Berührungen eingeflößt wurde: die versunkene Welt, die Würde der Eltern und die Hoffnung auf neues Leben zu erhalten und die Zerstörungen in die eigene Person einzulagern, in der ursprünglichen, gewiß absurden Hoffnung, sie könnten dort ohne Hilfe entweder zerfallen oder saniert werden.

Die Gruppe bildete eine Übergangsfamilie: Sie diente zur Kartographie-rung der inneren Welt in der Übertragung und als Feld der Einübung neuer Gefühle. Zugleich wurde sie zu einem Ort, in dem »ein Gefühl der Zugehörigkeit zum jüdischen Volk« möglich wurde. »Dieses Empfinden tritt hauptsächlich in ihren Träumen zutage, die nun Symbole und Motive aus Geschichte, Religion und Kultur des jüdischen Volkes enthalten« und eine das verletzte Individuum transzendierende Einbettung in ein größeres Ganzes erlauben.

Spät gelingt es vielen Patienten auch, die Herkunftsländer und Geburtsstädte ihrer Eltern zu besuchen, eine »Reise zu den Wurzeln« zu unternehmen. Denn die »Gedenkkerzen« gleichen »entwurzelten Bäumen«, und um zu leben, brauchen sie neue Wurzeln, in sich selbst, in der Erinnerung an die Ahnen, in anderen Menschen und in einem Bild von früherer Heimat, die nun konkret betrauert werden kann.

Ein Buch für deutsche nichtjüdische Leser?

Dies ist nur scheinbar eine absurde Frage. Wir Deutschen haben den Holocaust in Verbindung mit dem Vernichtungskrieg im Osten organisiert und durchgeführt. In Dina Wardis Buch werden Spätfolgen in der zweiten Generation der Opfer sichtbar, die noch immer unser Schuldkonto belasten. So ist das Buch ein Buch des Gedenkens, der Vergegenwärtigung des Jahrtausendverbrechens und seiner seelischen Spätfolgen. Und eben dieses Verbrechen und die darauf folgende totale Niederlage haben auch in nichtjüdischen deutschen Familien nachträglich gewütet. Viele Angehörige der zweiten Generation bei uns in Deutschland, die selbst Eltern sind, stehen offensichtlich sogar unter einem unbewußten Zwang, Täterfragmente noch an die dritte Generation weiterzugeben. Es ist an der Zeit, daß wir uns dieser Problematik stellen.

Freiburg, Juni 1997 Tilmann Moser

Siegel der Erinnerung.
von Dina Wardi

Preis: EUR 25,00
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Gehört der Holocaust ein für allemal der Vergangenheit an? Sind die Erfahrungen, die Täter wie Opfer vor mehr als fünfzig Jahren in den Ghettos, den Vernichtungslagern oder im Exil gemacht haben, vergessen und vorbei?Dina Wardi, geb. 1938 in Italien, kam bereits als Baby mit ihren Eltern nach Israel, wo sie aufwuchs. Sie besuchte die School for Social Work an der Hebräischen Universität in Jerusalem und arbeitete eine Zeitlang in der Bewährungshilfe für jugendliche Strafentlassene. Später lebte sie in den USA, wo sie eine Ausbildung in klinischer Psychotherapie, Familientherapie, Gruppen- und Gestaltungstherapie machte, letztere bei Fritz Perls. Sie hat heute eine private Praxis in Jerusalem.

Dina Wardi, geb. 1938 in Italien, kam bereits als Baby mit ihren Eltern nach Israel, wo sie aufwuchs. Sie besuchte die School for Social Work an der Hebräischen Universität in Jerusalem und arbeitete eine Zeitlang in der Bewährungshilfe für jugendliche Strafentlassene.
Später lebte sie in den USA, wo sie eine Ausbildung in klinischer Psychotherapie, Familientherapie, Gruppen- und Gestaltungstherapie machte, letztere bei Fritz Perls. Sie hat heute eine private Praxis in Jerusalem.

hagalil.com 30-03-2005

 

Jüdische Weisheit
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