Juden in Deutschland nach 1945:
Zwischen Antisemitismus und Philosemitismus
Aus dem Buch
Ich bin geblieben - warum?,
hsg. v. Katja Behrens, ersch. 2002 im
Bleicher-Verlag
VON WOLFGANG BENZ
Ein Drittel der 82 Millionen Bürger der Bundesrepublik Deutschland weiß
nicht, wie viele Juden in Deutschland leben, ein weiteres Drittel vermutet ihre
Zahl in der Größenordnung von Millionen, lediglich drei Prozent nennen 50.000
bis 100.000 und kommen damit der Wahrheit (zwischen 70 000 und 80 000*) nahe.
Angesichts der Beachtung, die Juden im öffentlichen Leben haben, ist diese
Ignoranz erstaunlich. Die Minderheit ein Promille der Bevölkerung bekennt sich
zum Judentum - lebt zwischen Antisemitismus und Philosemitismus in einem
Spannungsfeld von Abneigung und Zuwendung, das in Staatshandlungen und
öffentlichen Ritualen, wie am 9. November, dem Gedenken an die Novemberpogrome
von 1938, und am 27. Januar, dem Tag der Befreiung von Auschwitz, sichtbar wird,
ebenso in der Inanspruchnahme jüdischer Prominenz zur Kommentierung von
Ereignissen und Vorfällen des politischen Alltags und für die Gedenkkultur. Drei
Männer verschiedener Herkunft und Generation sind als Juden im öffentlichen
Geistesleben der Republik als Selbstdarsteller präsent: der kürzlich verstorbene
Soziologe Adolph Silbermann, der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki und der
Politiker Michel Friedmann.
Sie bedienen die Erwartungen ihres Publikums an intellektuelle Brillanz als
»jüdischer« Eigenschaft.
Die Wahrnehmung des Jüdischen aus der Perspektive der nichtjüdischen Mehrheit
ist freilich weder mit der jeweiligen individuellen Identität noch mit der
Legitimierung durch die Jüdische Gemeinde kongruent. Das lässt sich
illustrieren. Ladislaus Szücs, 1909 in Siebenbürgen geboren, wurde als
ungarischer Jude nach Auschwitz deportiert, er starb im Januar 2000 in Köln. Da
er der Jüdischen Gemeinde nicht angehörte, wurde ihm das jüdische Begräbnis
verweigert. Ein katholischer Priester sprang auf Bitten der Familie ein und
bemühte sich um ein allgemein-humanistisches Begräbnisritual ohne christliche
Inhalte. Als ihm gewohnheitsmäßig Jesus Christus in die Rede geriet, unterbrach
er sich mit Blick auf die Trauergemeinde mit dem Ausruf »Oh Gott, das habe ich
jetzt nicht gewollt«.1
Die jüdische Minderheit hat Konjunktur als Objekt der Literatur und sonstiger
Sparten öffentlicher Kultur. Klezmer-Musik und jiddische Lieder sind von der
nichtjüdischen Mehrheit zu Markenzeichen inflationären Folklorekonsums erhoben
worden. Jüdische Kochbücher gehören ebenso dazu wie die Beschwörung
untergegangenen jüdischen Lebens in Odessa und Czernowitz, in Prag und Krakau
durch einen Kulturtourismus, der längst zum Trend geworden ist. Die
Rekonstruktion zerstörter Synagogen ist vielen Gemeinden ein Anliegen; das
Jüdische Museum in Berlin, eine Institution, die sich seit Jahren in Gründung
und Aufbau befindet, genießt öffentliche Aufmerksamkeit und Anteilnahme wie kein vergleichbares Projekt. Zu den Formen der Aneignung jüdischer Geschichte
gehört eine Ausstellung zum Alltag unter nationalsozialistischer Verfolgung, die
in Berlin von einer Geschichtswerkstatt erarbeitet und in einem S-Bahn-Waggon
installiert wurde. Bei einem Brandanschlag wurde sie zerstört, dann wieder
aufgebaut und am Holocaust-Gedenktag am 27. Januar in einem Sonderzug
präsentiert, der den ganzen Tag durch die Stadt pendelte.2
Zuwendung zum Jüdischen wird in den rund 70 Gesellschaften für
Christlich-Jüdische Zusammenarbeit praktiziert. Die Gesellschaften, die im
Deutschen Koordinierungsrat ein Dach haben, veranstalten alljährlich die »Woche
der Brüderlichkeit«, die mit einer zentralen Kundgebung des Philosemitis-mus
unter starker Beteiligung von Politikern aller Parteien eröffnet wird. Die
Christlich-Jüdischen Gesellschaften, auf amerikanisches Drängen in der
Besatzungszeit 1948/49 entstanden, üben sich im Dialog über Bibelexegese und die
theologische Bedeutung des Genozides und propagieren religiöse Toleranz zwischen
Christen und Juden.3 Ganz anders agieren protestantische Eiferer in
Süddeutschland im »Missionsbund zur Ausbreitung des Evangeliums - Licht im
Osten«, die Judenmission vor allem unter den Zuwanderern aus der ehemaligen
Sowjetunion betreiben, unter den Augen der Evangelischen Kirche Deutschlands,
die sich davon distanziert.4 Freundschaft zu Israel wird in der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, 1966 gegründet und in über 40 regionale
Arbeitsgemeinschaften im ganzen Land verzweigt, gepflegt als Zeichen politischer
Solidarität zum Judentum. Die Identitätsprobleme der jüdischen Minderheit
erregen intellektuelle Neugier in der nichtjüdischen Mehrheit, sind Tagungsthema
bei Literatur-Wissenschaftlern oder bei Kultursoziologen, und sie sind
Gegenstand einer eigenen Literaturgattung, der Selbstreflexion der »zweiten
Generation«, die Konjunktur in den Medien und beim Publikum hat. In Essaybänden,
Magazinbeiträgen, Zeitungsfeuilletons, Aka-demievorträgen dargeboten reicht die
Skala von der akademisch-intellektuellen Leuchtkraft der Professoren Dan Diner
oder Micha Brumlik über vielfältige literarische Formen - darunter die so
glanzvollen wie treffenden Diagnosen Henryk M. Broders, die Memoiren von
Reich-Ranicki5, die Pathetik des Moralisten Ralph Giordano6 bis zu den
Niederungen der Polemik aus notorischem Gekränktsein Nach-rangiger, die auch
eine Rolle spielen wollen.
Esther Dischereit, eine jüdische deutsche Schriftstellerin, beschreibt in
ihrem Buch Übungen, jüdisch zu sein, den gönnerhaften Blick der
wohlwollenden Mehrheit, die den jüdischen Anteil an deutscher Kultur in erster
Linie als Verlust des eigenen sieht - die Emigration und den Holocaust als
Minderung deutschen kulturellen Ertrages wahrnimmt, weil Einstein als Amerikaner
starb, weil Felix Nußbaum, der als Ausgegrenzter ermordet wurde, deshalb vor
allem als Holocaustopfer gilt und nicht zuerst als deutscher Maler -, wenn das Bedauern über den Verlust jüdischer Kulturträger zu Selbstmitleid
geronnen ist, das sich in Formulierungen manifestiert wie »Zur deutschen Kultur
sei die jüdische hinzugekommen und habe die deutsche Kultur befruchtet. Deshalb
habe man sich unschätzbarer geistiger Güter beraubt. Ein verräterischer Satz,
gesprochen von den Guten, den Wohlmeinenden in der Republik«.7 Als satirischen
Beitrag veröffentlichte die Allgemeine Jüdische Wochenzeitung Regeln für
den Umgang der Mehrheit mit der jüdischen Minderheit, die aus einer Liste der
gebräuchlichsten Stereotypen bestehen: Nicht alle Juden seien Israelis oder
reich oder Genies oder fromm, außerdem seien die Juden nicht das Gewissen der
Menschheit, was gerne aus der 2000-jährigen Verfolgung abgeleitet und mit der
Einladung zur Lösung beliebiger Probleme verbunden wird (»Gerade Sie als Jude
müssten doch verstehen ...«). Außer der Empfehlung an Nichtjuden, Juden nicht
durch jüdische Witze unterhalten zu wollen, gibt es den abschließenden Rat,
Schuldgefühle als Nachkomme der Tätergesellschaft ohne Inanspruchnahme von Juden
zu bewältigen.8
Der andere Pol des Spannungsfelds, der beflissener Zuwendung und Aneignung
gegenüberliegende Pol der Abneigung, des alltäglichen Antisemitismus, ist
einfacher zu beschreiben als die Attitüde des Philosemitismus: Meinungsforscher
diagnostizieren langfristig einen eher abnehmenden Trend antisemitischer
Injurien in Deutschland. Betroffene beklagen dagegen die zunehmende Direktheit
des gegen sie gerichteten antijüdischen Affekts, und die Rohheit der Unbelehrten steht im Gegensatz zur Gelassenheit des Publikums angesichts
regelmäßig berichteter anonymer Gewalttaten gegen jüdische Friedhöfe, gegen
religiöse Einrichtungen, gegen Gedenkstätten und Grabmale.
Offene Judenfeindschaft zu zeigen ist in Deutschland ebenso verpönt wie das
Leugnen des Völkermords. Das zwingt die einen zur Zurückhaltung und ermuntert
die anderen, aus sicherem Dunkel zu agieren. Der Verfassungsschutz registriert
die zunehmenden Propagandadelikte neben den Gewalttaten gegen Ausländer, kann
judenfeindliche Einstellungen unterhalb der strafrechtlichen Relevanz aber nicht
erfassen. Latente Judenfeindschaft bestimmt aber stärker als die Zahl einzelner
Propaganda-Aktionen oder rechtsextremistische Ideologie das Klima im Land.
Den alltäglichen Antisemitismus des stillen Einverständnisses über »die
Juden« - ein Einverständnis, das auf der tradierten Überzeugung vermeintlicher
Andersartigkeit der Juden beruht - fördern die Tiraden rechtsradikaler
Agitationsblätter wahrscheinlich am nachhaltigsten. Dort werden Legenden und
Mythen wieder belebt oder neu konstruiert, die einfache Welterklärungen im
Rückgriff auf alte Stereotypen bieten wie die »jüdische Weltverschwörung«, der
vermeintliche übergroße Einfluss der Juden in der Kultur und der Finanzwelt usw.
Mit Schlagzeilen und Andeutungen wird an latente Gefühle der Bedrohung,
erlittenen Unrechts und abzuwehrender Schmach appelliert, werden simple
Erklärungen für komplexe Sachverhalte angeboten, die auf eindeutigen
Schuldzuweisungen gründen. »Die Juden« als geheimnisvolle und unangenehme
Minderheit, der »Ansturm krimineller Ausländer« auf Deutschland, die angeblich
verfälschte deutsche Geschichte sind Versatzstücke der eintönig vorgetragenen Vermutung, das deutsche Volk werde an Selbstbestimmung gehindert, leide unter
der Willkür der Sieger des Zweiten Weltkrieges und müsse zu einer Art
Befreiungskampf aufgerufen werden.
Ignatz Bubis, 1992-1999 Vorsitzender des Zentralrats der Juden in
Deutschland, war einer der populärsten Politiker dieses Jahrzehnts. Er hatte das
Zerrbild des »jüdischen Spekulanten«, das ihn mit Rainer Werner Fassbinders
antisemitischem Theaterstück »Die Stadt, der Müll und der Tod« bekannt gemacht
hatte,9 überwunden und es mit der Rolle des omnipräsenten Ratgebers der Mehrheit
und Aufklärers der deutschen Jugend vertauscht. In seiner Person spiegelt sich
die Ambivalenz jüdischer Existenz in Deutschland ebenso wie die damit eng
verbundene Wahrnehmung von Juden in Deutschland durch die Mehrheitsgesellschaft.
Reaktionen auf den Vorschlag einer Wochenzeitung, Ignatz Bubis solle als
Bundespräsident kandidieren, sind Indizien für Probleme der Mehrheit mit der
Minderheit. Leser gingen mit großem Ernst und beträchtlicher Wut darauf ein.
Manche versuchten sich in Ironie (»Es war jedes Mal mit hohen Unkosten und
Zahlungen verbunden, wenn führende Bonner Politiker zur Einholung von Direktiven
nach Jerusalem reisen mussten«). Andere machten sich mit Schmähungen Luft (»Ein
Volk, das auftragsgemäß die Juden fast vernichtete, soll nun sein Glück durch
einen fetten Geld-Juden finden«).
Symptomatisch ist die Zuschrift, in der es heißt: »Er wird aber immer ein
Fremder unter uns bleiben, und wenn Sie noch so wundersame Dinge über ihn
erzählen, dass einem die Augen tränen.« In solch ausgrenzendem Vorurteil, das
»den Juden« als »den Fremden« definieren will, kommt eine Grundeinstellung zum
Ausdruck, die man als eine der letzten Propagandafrüchte des Nationalsozialismus
verstehen kann - die Diskriminierung und Entrechtung begann ja mit der
Definition, dass die deutschen Juden »Fremde« seien und deshalb mit einem
minderen Rechtsstatus vorlieb nehmen müssten -, die aber seit der Gründung des
Staates Israel auch mit dem Hinweis auf das Heimatrecht aller Juden in diesem
Land gerechtfertigt wird. Ignatz Bubis, als Sympathie stiftende Persönlichkeit
anerkannt und beliebt, hat das selbst immer wieder erfahren.
Antisemitismus darf in der Bundesrepublik nicht öffentlich artikuliert
werden, das gehört zu den Gesetzen der politischen Kultur in Deutschland nach
Auschwitz. Wer dieses Tabu bricht, verliert Amt und Ansehen, jedenfalls
unmittelbar nach dem jeweiligen Vorkommnis. Ohne Sanktionen bleibt es jedoch in
der Regel, wenn antisemitische oder fremdenfeindliche Vorurteile in weniger
spektakulärem Rahmen, vor kleinerer Öffentlichkeit oder im Umfeld von Vereinen,
am Stammtisch, beim alltäglichen sozialen Kontakt, artikuliert werden.
Im Herbst 1992 hielt Pater Basilius Streithofen, ein weithin als wortgewaltig
und streitbar bekannter Dominikaner, der dem früheren Bundeskanzler Kohl nahe
steht, einen Vortrag, in dem er äußerte, Juden und Polen seien die größten
Ausbeuter des deutschen Steuerzahlers. So und ähnlich hat sich gewiss schon seit
Jahrzehnten eine beträchtliche Zahl von Deutschen, die Wiedergutmachungs- und
Entschädigungsleistungen der Bundesrepublik kommentierend, vernehmen lassen. Gegen den
Ordensgeistlichen wurde jedoch, weil die Äußerung öffentlich war, Anzeige
erstattet wegen Volksverhetzung. Er rechtfertigte sich mit der seit langem
geläufigen Forderung, es müsse »einmal Schluss mit der Vergangenheitsbewältigung
sein« und es müsse sichergestellt sein, dass »die Urenkel nicht mehr für die in
der NS-Zeit begangene Schuld haftbar gemacht werden können«. Wenn man dem Pater
nicht unterstellen will, dass er ein nationalistischer Demagoge ist (der das
alte antisemitische Klischee vom nicht arbeitenden, andere ausbeutenden, also
eine Schmarotzer-Existenz führenden Juden propagiert), dann kann die Erklärung
für seinen Ausspruch nur lauten, dass ganz offensichtlich mit dem Stigma
»Ausbeuter« ein vorhandener Schuld- und Leidensdruck gegenüber Juden und Polen
gemildert werden soll.
Im Mai 1993 stellte der Osnabrücker Staatsanwalt das Verfahren gegen
Streithofen ein. Er war zu dem Schluss gekommen, die Sentenzen des Geistlichen
erfüllten den Tatbestand der Volksverhetzung nicht, da die Strafbestimmung nur
den »inländischen Teil der Bevölkerung« betreffe. Nach Protesten des
Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen wurde das Verfahren
wieder aufgenommen, und Pater Basilius zahlte schließlich eine Geldbuße für
einen wohltätigen Zweck. Ein antisemitischer Skandal war beendet. Dass er von
einem katholischen Ordensgeistlichen verursacht wurde, war Zufall. Der Fall
Streithofen hat mit den älteren Traditionen des christlichen Antijudaismus
nichts zu tun. Die wenigen Relikte von Judenfeindschaft aus christlicher Wurzel
- theologisch begründet oder als Volksfrömmigkeit gelebt -, von denen man
gelegentlich im Zusammenhang sektiererischer Wallfahrten, pejorativer Gnadenbilder oder antisemitischer Passionstexte hört, spielen im öffentlichen
Diskurs der Gegenwart in Deutschland keine Rolle mehr.
Die Mobilisierung traditioneller Feindbilder und Vorurteile hält den
alltäglichen Antisemitismus am Leben. Die Tendenz, solches öffentlich zu machen,
ist in den letzten Jahren steigend, obwohl gleichzeitig Antisemitismus als
individuelle Einstellung, als politisches, kulturelles, soziales Grundmuster in
Deutschland nach den Erkenntnissen der empirischen Sozialforschung rückläufig
ist. In Nürnberg tauchten im Frühjahr 1994 technisch geschickt gemachte
»Deportationsbescheide« auf, die Bürgern jüdischen Glaubens und Ausländern
zugestellt wurden. Mit Stempeln, Aktenzeichen, dem Bundesadler auf dem
gefälschten Briefkopf des »Bundesamts für Anerkennung ausländischer Flüchtlinge«
wurde die Erinnerung an die Deportationslisten der Gestapo als antisemitisches
Manifest benützt.
Ein anderes, ebenso konkretes Beispiel zeigt, wie alte Stereotype in neuer
Form, an aktuellen Diskussionskernen kristallisiert, erscheinen: Im
Deutschlandfunk, einer öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalt, wurde Anfang
September 1992 ein Kommentar ausgestrahlt, der unter der Rubrik »Schalom -
jüdisches Leben heute« eine Art Abrechnung mit »jüdischer
Vergangenheitsbewältigung« versuchte. Auf jüdischer Seite, so war zu hören,
finde man bei der Betrachtung und Wertung des Holocaust »oft, zu oft, grobe
Verzerrungen der Sicht, vorschnelle Urteile der Einordnung von Tatsachen,
Blindheit für Zusammenhänge«. Auch Nichtjuden hätten unter Hitler gelitten,
seien gequält und ermordet worden, aber das kümmere jüdische Kommentatoren
nicht, sie seien zu sehr auf ihre eigene Vergangenheit fixiert. Freimütig und
die Selbstentblößung nicht scheuend, tat der Autor des Deutschlandfunks kund, womit sie sich wirklich beschäftigen sollten:
»Wo bleibt die jüdische Auseinandersetzung mit dem Marxismus und mit den
verheerenden Folgen der marxistisch-leninistischen Diktaturen? Spätestens jetzt,
nach ihrem Zusammenbruch, wäre es an der Zeit, sich mit ihrer Brutalität und
Menschenverachtung kritisch zu beschäftigen, auch selbstkritisch: Eine große
Zahl von Juden waren Mittäter. Das Wohlverhalten Jüdischer Gemeinden in dem
Unrechtsstaat DDR wäre zum Beispiel einer genauen Analyse wert. Bezeichnend ist
die milde Beurteilung der jüdischen Schriftsteller Stefan Heym und Anna Seghers,
um nur zwei markante zu nennen. Beide sind bzw. waren treue Anhänger der
DDR-Diktatur. Der eigene Ruhm war ihnen wichtiger als die Menschlichkeit.«
Man wird diese Sätze als neue Spielart der Verdrängung, der Abwehr und
Aufrechnung, wie wir sie längst kennen, als Manifestation von latentem
Antisemitismus werten müssen.
Neben den bekannten und alten Traditionen des Antisemitismus gibt es neue.
Antizionismus als junge Erscheinungsform von Judenfeindschaft war in der DDR
Bestandteil der Staatsdoktrin, verbreitet in antiisraelischen Pamphleten und
immer wieder beschworen in Solidaritätsbekundungen für Palästinenser und die
arabischen Staaten. Instrumentalisiert waren nicht nur politische Positionen
auch gegenüber der Bundesrepublik, es sind traditionelle antijüdische
Feindbilder damit transportiert worden. Dass das lange propagierte offizielle
feindliche Bild von Israel und internationalen jüdischen Organisationen
langfristige Wirkungen hat, liegt auf der Hand. Dass dieses Feindbild vom
»internationalen Judentum« verdächtig eng an die älteren Stereotypen von der jüdischen Weltverschwörung anschließt und an nationalsozialistische
Feindbilder anknüpft, macht es nur noch wirkungsvoller.10
Die Juden waren in der DDR nicht nur von ihrer Zahl her marginalisiert. Als
Opfer spielten sie in der Staatsideologie, die sich durch den kommunistischen
Widerstandskampf gegen Hitlerdeutschland legitimierte, nur eine geringe Rolle,
und im Gegensatz zur Bundesrepublik gab es keine Anstrengungen zur Entschädigung
und Wiedergutmachung. Aber das letzte Parlament der DDR adressierte noch an die
Juden den Wunsch nach Verzeihung für die nationalsozialistische Verfolgung und
öffnete die Grenzen für jüdische Einwanderer aus dem Gebiet der Sowjetunion. Die
neuen Gemeinden in Potsdam, Rostock, Dessau und Schwerin konnten nur deshalb
entstehen, sie bestehen ausschließlich aus solchen Zuwanderern - mit allen
Integrationsproblemen und allen sozialen und kulturellen Schwierigkeiten, die
dadurch zu bewältigen sind und Indizien sind für die Strukturveränderungen, die
die jüdische Gemeinschaft in Deutschland insgesamt derzeit erfährt."
Nach demoskopisch erforschten Trends ist Antisemitismus in Deutschland kein
zentrales politisches Problem, judenfeindliche Tendenzen sind insgesamt
rückläufig, auch wenn die absoluten Zahlen (Emnid-Umfrage 1992) noch 16 Prozent
der Bevölkerung in Westdeutschland und 4 Prozent in Ostdeutschland als
Antisemiten benennen. Einejüngere Erhebung (Forsa-Umfrage 1998) kam zum
Ergebnis, jeder fünfte Deutsche sei latent antisemitisch.12 Manifeste Judenfeindschaft ist eher
selten zu konstatieren.
Anders als beim plump, direkt und pauschal artikulierten Antisemitismus vor
1945 sind judenfeindliche Ressentiments aus vielen Gründen schwerer zu erkennen.
Das Problem des Antisemitismus im Deutschland der Gegenwart ist vielschichtig
und erfordert differenzierte Betrachtung.13 Wenn einer, der kein Jude ist,
beteuert, er habe viele jüdische Freunde, dann ist Vorsicht geboten, denn das
antisemitische Bekenntnis folgt meist unmittelbar. In der Regel ist es, dem
Bildungsgrad entsprechend, in die Frageform gekleidet oder als Zweifel
formuliert, als »berechtigter« Zweifel »um der Wahrheit willen« (ob in Auschwitz
wirklich so viele jüdische Menschen ermordet worden sind, wie behauptet wird, ob
Zyklon B tatsächlich so wirkte, wie Zeugen, Täter, Historiker bekundet haben, ob
die Juden nicht vielleicht selbst am Holocaust schuld waren? usw.), aber immer
wird bei solchen Fragen mit Stereotypen hantiert.
Die traditionellen Versionen des Vorurteils haben den bei den Juden schon
immer vermuteten besonders ausgeprägten Geschäftssinn zum Gegenstand (die
Stereotypen dazu lauten: Wucher und Schacher) oder die angeblich
alttestamentarische Rachsucht (»Auge um Auge, Zahn um Zahn«) oder die Vermutung
einer konstitutionellen Abneigung gegen die Mühsal des Arbeitslebens
(»Schmarotzer« oder »Parasiten«). Andere Diffamierungen unterstellen Ambitionen auf Weltherrschaft, symbolisiert im »Internationalen Finanzjudentum«, wenn
nicht gar in der »jüdischen Weltverschwörung«. Das Absurde an diesen Konstrukten
drückt sich in zwei völlig entgegengesetzten Klischees aus: Der Jude als
Bolschewist, als Erfinder und Drahtzieher der kommunistischen
Weltrevolutionsideologie, und der Jude als Inkarnation des Kapitalismus in der
Figur des Börsenspekulanten, Bankiers, Finanzmagnaten. Die beiden Bilder -
Plutokrat und Bolschewist - wurden von Goebbels mit lange anhaltender Wirkung
gepflegt. Sie überlagern ältere antisemitische Feindbilder.
Das spektakulärste Beispiel für den - oft gedankenlosen
-Alltagsantisemitismus bot ein stumpfsinniger Kontrabassist der Deutschen Oper
Berlin, der es für witzig hielt, bei einem Gastspiel im Juni 1997 in Israel
seine Rechnung an der Hotelbar mit »Adolf Hitler« zu unterschreiben. Zur
Begrenzung des Schadens distanzierten sich das Orchester und der Intendant
schnell, eindeutig und wirkungsvoll (der Musiker wurde entlassen und musste
unverzüglich die Heimreise antreten), aber die verbreitete Meinung lautete doch,
die Deutschen sagten im alkoholisierten Zustand, was sie sonst nur heimlich
dächten. Typisch am Eklat war auch, dass der Urheber nicht als Antisemit galt,
noch nie einschlägig aufgefallen war, also offenbar unter Alkoholeinfluss aus
dem Unterbewusstsein agierte.14 Ein ebenso lehrreicher Fall kollektiver
Aggression war im fränkischen Adelsdorf bei Erlangen zu beobachten. Dort hatten Holocaust-Überlebende, ehemalige Bürger der
Gemeinde, bei einem Besuch 1996 festgestellt, dass eine Straße nach dem früheren
NSDAP-Ortsgruppenleiter benannt war. Im Ort war dies offenbar nicht negativ
aufgefallen. Jetzt kam eine Diskussion darüber in Gang. Eine Bürgerinitiative
veranstaltete, um der Forderung nach Umbenennung Nachdruck zu verleihen, eine
Lichterprozession. Dagegen protestierten fünf Rentner mit dem Ruf »Juden raus«.
Sie wurden dafür im Sommer 1998 zu Geldstrafen verurteilt.15
Judenfeindschaft, ausgedrückt durch die Relativierung des Holocaust, durch
Diffamierung jüdischer Persönlichkeiten, durch Israelfeindschaft, durch den
Appell an unbestimmte Gefühle des Unbehagens, bedient weit über die
rechtskonservative und rechtsradikale Klientel hinaus verbreitete Vorstellungen.
Anders ausgedrückt, in den rechtsextremen Gazetten wie der Deutschen
Nationalzeitung findet sich schwarz auf weiß, was im Bierdunst landauf,
landab vermutet und verlautbart wird. Dazu gehören sicherlich auch die
Erlösungswünsche vieler, die an der Erinnerung des nationalsozialistischen
Völkermords leiden, den Holocaust wenigstens geringer dimensioniert und
vergleichbarer mit den Untaten anderer Nationen sehen möchten. Dazu gehören aber
vor allem Vorstellungen vom Judentum, die aller Aufklärung trotzen. »Den Juden«
will man als reich und geschäftstüchtig, geldgierig und gewinnsüchtig sehen,
definiert ihn als Träger rassisch bedingter Eigenschaften und diskriminiert ihn
als Fremden. Dem Stigma des Fremdseins (ausgedrückt in der Frage an den
deutschen Juden, ob seine wirkliche Heimat nicht Israel sei oder im Kompliment
über seine Beherrschung der deutschen Sprache) wird der Vorwurf der Weltverschwörung
aufgesetzt, »bewiesen« durch die bekannten Stereotypen, die Wall Street sei fest
in jüdischer Hand und die kommunistische Revolutionsregierung in Russland 1917
von Juden dominiert gewesen.
Antisemitismus dient im Alltag zur Erklärung der Welt, ist ein
Verständigungsmittel auf Kosten anderer. Antisemitismus braucht die Aura des
Unbestimmten, gedeiht im Geraune, im Dickicht von Andeutung und Vermutung;
Antisemitismus ist ausgrenzende Übereinkunft im Ungefähren. Latenter
Antisemitismus manifestiert sich im nichtöffentlichen Diskurs über eine
Minderheit als Chiffre der Verständigung in der Mehrheit. Auf »die Juden« wird
Unangenehmes delegiert, das mit ihrer Existenz nichts (oder allenfalls indirekt)
zu tun hat: die Last deutscher Geschichte, an die ihre Gegenwart erinnert,
daraus resultierend Gefühle der Beschämung und Unsicherheit, aus denen wiederum
Aufbegehren und Schuldzuweisung folgen. Wie lange man denn noch für die
»Wiedergutmachung« bezahlen müsse, ob es nie »Versöhnung« geben könne, warum die
Juden nicht vergessen würden, ob man sich ewig schuldig fühlen müsse, lauten die
in Frageform gekleideten Aggressionen.
Dass »die Juden« keinen Anlass zu diesen Fragen gegeben haben, spielt bei
solcher Übereinkunft, die alten Sündenbock-Funktionen neue Form gibt, keine
Rolle. Antisemitismus ist kein von Juden verursachtes Phänomen, ist auch nicht
Reflex auf jüdische Eigenschaften oder Handlungen. Antisemitismus ist vielmehr
ein Symptom für Defekte in der Mehrheitsgesellschaft, ausgelöst durch
Frustrationen und Ängste, stimuliert durch Propaganda und Suggestion, genährt
durch Tradition und Verabredung. Geschändete jüdische Friedhöfe, beschmierte
Denkmale, Hakenkreuze an Synagogen, anonyme Briefe an prominente Juden, feindselige Artikel in der
rechtsradikalen Presse sind Demonstrationen der Ausgrenzung und Ablehnung,
begangen durch wenige Einzelne, die aber mit Beifall für ihr Tun rechnen und ihn
auch in größerem Maße finden, als öffentlich wird. Darin liegt das Problem des
alltäglichen Antisemitismus nicht nur in Deutschland.
»Die Epoche der Juden in Deutschland ist ein für alle Mal vorbei« - das
vielzitierte Wort Leo Baecks galt als Abgesang der Hoffnung vom
deutsch-jüdischen Zusammenleben, dem Traum von der geistigen Symbiose und der
gesellschaftlichen Assimilation, die in Auschwitz und Treblinka und den anderen
Orten des Völkermords, in den Ghettos wieTheresienstadt und Riga, aber auch auf
den Stationen der Emigration und der Flucht aus Hitler-Deutschland zerronnen
war. Baeck, ehemals Rabbiner in Berlin und Präsident der Reichsvertretung der
deutschen Juden, sagte dieses Wort nach der Vernichtung des deutschen Judentums
durch den NS-Staat und nach seiner eigenen Befreiung aus Theresienstadt.
Jüdisches Leben in Deutschland nach Auschwitz schien nicht nur für Baeck,
der geistigen Symbolfigur des deutschen Judentums, undenkbar geworden. Seine
Prophezeiung, ausgesprochen im Dezember 1945 in New York, war keineswegs
visionär, sondern in der Situation ganz realistisch: Vor dem Beginn der
nationalsozialistischen Judenverfolgung hatten in Deutschland etwas mehr als
eine halbe Million Juden gelebt. Zwischen 1933 und 1945 konnten etwa 270 000 von
ihnen auswandern, mehr als 200 000 wurden in die Ghettos und Vernichtungslager
deportiert. Etwa 165 000 sind dort ermordet worden, ungefähr 15 000 Juden
überlebten außerhalb der Konzentrationslager, die meisten von ihnen als Partner in »Mischehen« mit Nichtjuden, einige hatten sich im Untergrund verbergen
können.
Die aus KZ und Vernichtungslagern befreiten Juden, die sich nach 1945 als »Displaced
Persons« unter alliierter Obhut auf deutschem Boden aufhielten, warteten nur,
bis sie zu Kräften gekommen und fähig zur Ausreise sein würden; bis die
Formalitäten der Immigration in ein Land, das ihnen Heimat bieten wollte - die
USA? Palästina? irgendein anderes Einwanderungsland? - erledigt wären. Das
dauerte freilich Jahre. Die überlebenden Juden stammten zumeist aus Ungarn, der
Tschechoslowakei, Polen und anderen Ländern Osteuropas. Andere wanderten in den
ersten Nachkriegsjahren zu, als in Polen (aber nicht nur dort) neuer
Antisemitismus manifest wurde und sich in Pogromen entlud. Auch diese Zuwanderer
betrachteten Deutschland nur als Durchgangsstation.16
Unbeabsichtigt beeinflussten diese Juden aber den Wiederbeginn jüdischen
Lebens in Deutschland. Sie sammelten sich in der amerikanischen Besatzungszone,
wo die US-Army und die Hilfsorganisation »United Nations Relief and
Rehabilitation Administration« (UNRRA) und ab Juli 1947 in deren Nachfolge die
»International Refugee Organisation« (IRO) Lager einrichteten, vor allem in
Bayern: in Deggendorf und Landsberg, in München-Freimann, Feldafing und - das am
längsten existierende - unter dem Namen »Föhrenwald« im Landkreis
Wolfratshausen. Insgesamt lebten fast 200 000 jüdische Displaced Persons
zwischen 1945 und 1950 in Deutschland. Die Lager in der amerikanischen und der
britischen Besatzungszone wurden Zentren jüdischer Kultur und jüdischer
Religiosität in Deutschland. Aber die Synagogen und Schulen, Zeitungen und Theatergruppen setzten nur das Leben des
Ghettos fort. Die überwiegend ostjüdischen Ghettobewohner hatten kein Interesse
an ihrer deutschen Umgebung; sie lehnten Kontakte meist strikt ab.17
Manchen gelang die illegale Einwanderung nach Palästina oder die legale
Immigration im Rahmen der Quotenregelung in die Vereinigten Staaten, für die
meisten brachte jedoch erst die Gründung des Staates Israel im Mai 1948 die
Erfüllung ihrer Wünsche. Ab 1950 leerten sich die Lager, übrig blieb ein Rest
jüdischer Menschen, die zu alt und krank für die Auswanderung waren, deren
Visa-Probleme unlösbar blieben oder die nach allen überstandenen Leiden nicht
mehr fähig waren, sich irgendwo eingliedern zu lassen. München war die
Durchzugs- und Ausreisestation für etwa 120 000 Juden, bis die IRO 1952 die
Betreuung der jüdischen Displaced Persons in Deutschland einstellte. Da zeigte
sich, dass etwa 12 000 Juden in Deutschland bleiben wollten, und zwar nicht nur
wegen Krankheit oder Erschöpfung. Manche hatten auch neue Existenzen gegründet
oder sich verheiratet. Bei den Deutschen stießen die überlebenden Juden in den
Lagern auf Ressentiments und Abneigung - sie fühlten sich an ihre verdrängte
Schuld erinnert. Das äußerte sich immer wieder in antisemitischen Vorfällen,
etwa bei der Razzia am 28. Mai 1952 im Lager Föhrenwald. Mehrere hundert Mann
des Zollfahndungsdienstes, der Kriminal- und der Landespolizei umzingelten das
Lager und drangen ein; sie waren bewaffnet und führten Spürhunde mit sich - und
das alles nur, um Geschäfte und Kioske zu kontrollieren, in denen unverzollte
Waren vermutet wurden. Die 2000 Juden im Lager aber fühlten sich an die Mordaktionen der Nazis in den Ghettos und
Konzentrationslagern erinnert. Die Ordnungshüter prügelten, stießen
antisemitische und nazistische Drohungen aus, erklärten, »die Krematorien und
Gaskammern« existierten noch, dies sei »erst der Anfang«. Vertreter der
jüdischen Hilfsorganisation »American Joint Distribution Committee«
verständigten den Staatssekretär für das Flüchtlingswesen im bayerischen
Innenministerium, dessen Eingreifen die gesetzwidrige Aktion erst beendete.
Heute leben in der Bundesrepublik Deutschland 70 000 bis 80 000 Juden, nach
der offiziellen Statistik, d.h. als registrierte Mitglieder einer Jüdischen
Gemeinde, aber die wenigsten von ihnen sind Überlebende aus dem deutschen
Judentum vor Hitler, also Rückkehrer aus den Lagern, im Untergrund Versteckte,
auf andere Weise Gerettete. Eine größere, bis 1990 die größte, Gruppe bilden die
Displaced Persons und ihre Nachkommen, die nach dem Holocaust aus Polen und
Litauen, aus Ungarn und der Tschechoslowakei zuwanderten, die in Deutschland
geblieben sind. In den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl der Juden in
Deutschland mehr als verdoppelt. Zu den 30 000 Menschen, die 1990/91 als Juden
in Deutschland lebten (unter ihnen nur etwa 400 Personen in der DDR) kamen und
kommen Zuwanderer aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die in Deutschland
eine neue Heimat suchen.
Jüdische Präsenz im Deutschland nach Hitler war auf Dauer nicht beabsichtigt
und von offizieller jüdischer Seite auch keineswegs erwünscht. Nach dem
Holocaust galt es den Juden in aller Welt als selbstverständlich, dass
Deutschland nach dem Holocaust für sie ein gebanntes Land sein werde, ähnlich
Spanien nach der Vertreibung der Juden im Jahre 1492. Für die zionistischen
Politiker und die Funktionäre jüdischer internationaler Organisationen war ausgemacht, dass die Reste des Judentums
in Deutschland ebenso wie die von Displaced Persons geschaffenen Provisorien so
rasch wie möglich wieder verschwinden müssten. Noch 1948, im Jahr der Gründung
Israels, erklärte der Jüdische Weltkongress, dass künftig kein Jude mehr
deutschen Boden betreten werde. Die Zwischenstation im Land der Mörder sollte
mit der Abreise der letzten Lagerbewohner Anfang der fünfziger Jahre beendet
sein. Das lag auch in der Intention der zionistischen Politik, die für den
Aufbau des Staates Israel jeden brauchte. Anfang 1950 fasste der Jüdische
Weltkongress in Frankfurt am Main eine Resolution, nach der jüdische
Organisationen in Deutschland nur Interimscharakter haben sollten: Wenn sie dem
letzten Juden aus Deutschland zur Ausreise verholten hätten, würden sie sich
auflösen.
Doch schon zehn Tage später, am 19. Juli 1950, wurde der »Zentralrat der
Juden in Deutschland« gegründet, als Signal, dass es doch noch Juden gab, die in
Deutschland leben und sich hier behaupten wollten. Das war in vielerlei Hinsicht
schwierig. Denn die Massenauswanderung nach Israel zwischen 1948 und 1953
beraubte die Lager der kulturellen und geistigen Substanz, die dort entstanden
war.
Das reiche religiöse Leben und die kulturelle Vielfalt der DP-Lager konnte
mithin nicht auf die neu gegründeten Jüdischen Gemeinden übergehen. In München
etwa wurden außerdem die Führungspositionen in den Gemeinden von den wenigen
überlebenden deutschen Juden gegen die zahlenmäßig viel stärkeren ostjüdischen
Zuwanderer verteidigt. In Süddeutschland stellten die aus Osteuropa Gekommenen
den Löwenanteil unter den Juden, in München waren es Ende der fünfziger Jahre
über 79 Prozent. Die Beziehungen waren gespannt: Die weitgehend assimilierten
deutschen Juden hatten Probleme mit den Ostjuden, die jiddisch sprachen, die rituellen
religiösen Gesetze strenger beachteten und ihr Judentum auch äußerlich
demonstrierten.
Die deutschen Juden wiederum sahen sich mit dem Vorwurf konfrontiert, lax im
Glauben zu sein, kaum jüdische Geistigkeit auszustrahlen und sich allzu stark
mit Nichtjüdischem verbunden zu haben, was sich zum Beispiel an der Zahl der
Ehen mit Nichtjuden ablesen ließ. Die deutsch-jüdische Identität, häufig als
deutsch-jüdische Symbiose missverstanden und von interessierten Nichtjuden auch
nach dem Holocaust als vermeintliche Tatsache beschworen, stieß bei den Ostjuden
auf Skepsis, Unverständnis und Ablehnung.
Solche Probleme des Umgangs waren konstitutiv für die Gründungsgeschichte der
neuen Jüdischen Gemeinden in Deutschland, und sie wirken bis in die Gegenwart
fort. Der Wiederbeginn jüdischen Lebens in Deutschland war außerdem von den
Spannungen gekennzeichnet, die sich aus den soziologischen, kulturellen und
psychologischen Problemen des Überlebens ergaben. In den fünfziger Jahren
entstand die religiöse Rechtfertigung für den Verbleib von Juden in Deutschland,
die ein prominenter Rabbiner so formulierte:
Juden seien für deutsche Menschen ein Mahnmal, jüdische Existenz in
Deutschland halte die Erinnerung wach, führe zum Nachdenken und zur Einkehr.
Eine nicht geringe Zahl Deutscher suche den Weg zur Sühne: »Und in dieser
Situation gewinnt das Vorhandensein eines Überrestes Israels in Deutschland eine
ganz andere Perspektive und Bedeutung. ... Noch nie sah ich eine solche
Aufgeschlossenheit für jüdische Gedanken, beinahe eine Sehnsucht nach jüdischen
Werten im Kreise anderer Völker wie heute und hier. Inmitten dieser Entwicklung
und umdroht von einem wieder aufsteigenden Antisemitismus haben Juden in
Deutschland ihre Aufgabe und damit die Möglichkeit einer Zukunft und Existenzberechtigung.«18
Das kulturelle und soziale Leben der Jüdischen Gemeinden in Deutschland blieb
- ebenso wie die Politik des Zentralrats - bis heute von dieser Mission
beherrscht. In den jüdischen Volkshochschulen und den Kulturzentren der
Israelitischen Kultusgemeinden spielt das Bewusstsein des Holocaust, die
Erinnerung an Verfolgung und Vernichtung, schließlich auch die Reflexion über
diese Erinnerung eine zentrale Rolle. Die psychologische Schwierigkeit, als Jude
in Deutschland zu leben, kann gar nicht überschätzt werden. Viele Juden leiden
unter dem Rechtfertigungsdruck gegenüber Angehörigen und Freunden, die nicht in
Deutschland leben können, oder unter Schuldgefühlen gegenüber ermordeten
Familienmitgliedern. Das Gefühl des Fremdseins unter Juden beschreibt Micha
Brumlik, einer der geistreichen und kritischen Wortführer der »Zweiten
Generation«, als einsriger Teilnehmer an einem internationalen jüdischen
Studentenseminar in Antwerpen als »die befremdliche Erfahrung, dass ein Jude in
Deutschland nicht nur den Deutschen, sondern dass ein Jude aus Deutschland auch
anderen Juden als eine Art Monstrum galt. Wir wurden von den meist US- und
lateinamerikanischen Studenten liebevoll nachsichtig so behandelt, als ob wir -
1972 - gerade der Hölle der Konzentrationslager entronnen seien, während uns
Belgier, Briten oder Israeli eher misstrauisch, als Verräter betrachteten«.19
Zum jüdischen Lebensgefühl in Deutschland kommt die besondere Verletzbarkeit
durch absichtliche wie unabsichtliche Ausgrenzung und Taktlosigkeit, denen ein
Jude in Deutschland ausgesetzt sein kann, und Misstrauen gegen neue
Manifestationen von Antisemitismus und Xenophobie. Die allgegenwärtige Angst vor
Rechtsextremismus kann sich leicht zur Paranoia steigern. Die Nichtjuden,
ohnehin eher ängstlich als sensibel im Umgang mit Juden, schwanken zwischen
Philosemitismus, zur Schau getragen als »Bereitschaft zur Versöhnung« unter
stereotyper Beteuerung, man habe jüdische Freunde, sei engagiert und betroffen,
und der alltäglichen Tabuisierung der Vergangenheit andererseits. Diese Attitüde
zeigt sich etwa in der Vermeidung bestimmter Begriffe und Bezeichnungen, etwa
des Wortes »Jude«, das man mit Hinweisen auf »Herkunft« oder »Abstammung«
umschreibt. Gleichzeitig werden aber Vokabeln des Nazi-Jargons - arisch,
ausmerzen, Endlösung, Sonderbehandlung -ganz unreflektiert weiter verwendet.
Damit ist der Boden für Missverständnisse bereitet.
Wenn Juden argwöhnisch sind und im Zweifelsfall Antisemitismus
vermuten, so fehlt den Nichtjuden in Deutschland oft das Verständnis und die
Bereitschaft, sich in die Situation deutscher Juden oder jüdischer Deutscher zu
versetzen, etwa sich vorzustellen, dass sie, auch und gerade als Angehörige der
zweiten und dritten Generation nach dem Holocaust, in einem »Angst- und
Isolationsghetto«20 leben; dass Juden in Deutschland traumatisiert sind vom
Gefühl, als dem Inferno Entronnene im Land ihrer Mörder zu leben. Was die
Psychoanalytiker als Überlebenssyndrom beschrieben haben, ist für viele allgegenwärtige Realität. Zum individuellen Trauma
fügt sich der Rechtfertigungszwang, die eigene Existenz in Deutschland vor sich
selbst, aber auch gegenüber der Welt politisch, kulturell und sozial zu
legitimieren. Rafael Seligmann, Publizist und Romancier, der sich demonstrativ
als »deutscher Jude« begreift und mit einigem Sendungsbewusstsein Integration
propagiert, ist sich der Schwierigkeiten solcher Existenz bewusst: »Wir geben
die Musterjuden. Wir sind das Alibi der geläuterten deutschen Gesellschaft nach
Hitler. Wir sehnen uns vermeintlich nach Normalität. Tatsächlich aber sind wir
süchtig nach dem neuro-tisierenden Leben als Juden in Deutschland. Die Deutschen
wiederum schätzen uns als Exoten des Grauens.«21 1949, nach der Gründung der
Bundesrepublik Deutschland, erklärte John McCioy, der amerikanische Hohe
Kommissar und damit einer der drei alliierten Vormünder des jungen Staates, der
Prüfstein für die junge deutsche Demokratie sei der Umgang mit den Juden. Nach
der großen Anstrengung zur Entschädigung und Wiedergutmachung materiellen
Unrechts Anfang der fünfziger Jahre waren Juden für die Mehrheitsgesellschaft in
Deutschland - das galt ebenso für die DDR wie die Bundesrepublik - lange Zeit
kein Thema, das eine größere Öffentlichkeit interessierte. Die amerikanische
TV-Serie »Holocaust« bildete Ende der siebziger Jahre, weil der Völkermord an
den Juden in trivialer Darstellung emotional nachvollzogen werden konnte, den
Anstoß für eine Auseinandersetzung, die die bisherigen Grenzen intellektueller
und professioneller Beschäftigung mit dem Thema überwand.
Rainer Werner Fassbinders antisemitisches Theaterstück »Die Stadt, der Müll
und der Tod«, in deren Mittelpunkt der jüdische Spekulant als Typus vorgeführt
wurde, sorgte Mitte der achtziger Jahre für lang anhaltende Aufregung. Juden,
unter ihnen der spätere Zentralratsvorsitzende Ignatz Bubis, der in dem Stück
karikiert war, verhinderten in Frankfurt am Main die Aufführung des Stückes. Der
Diskurs flackerte Ende der neunziger Jahre noch einmal auf, als ein Berliner
Theater, künstlerische Freiheit beanspruchend, das Stück ankündigte, weil
angebuch die Öffentlichkeit Anspruch auf Augenschein habe (obgleich der Text
veröffentlicht ist und verfilmt wurde). Weil es im Vorfeld nicht gelang, die
Duldung des offiziellen Judentums für das Projekt zu erlangen, drohte das
Theater mit einer Aufrührung des Stückes als Gastspiel in hebräischer Sprache
durch eine israelische Bühne.
Zur gleichen Zeit beschäftigten sich die westdeutschen Medien mit dem
Historikerstreit um Schuld und Verantwortung für den Holocaust, der sich Ende
der neunziger Jahre fortsetzte in der Debatte um das Buch von Daniel J.
Goldhagen über den angeblichen eliminatorischen Antisemitismus der Deutschen.
Das Publikum ergriff vehement Partei für den amerikanisch-jüdischen Deuter
deutschen Charakters gegen die Historiker, die auf seriöse Recherche pochten und
darauf verwiesen, dass medienwirksame Inszenierung nicht gegen Argumente
eingesetzt werden sollte. Immerhin war die Goldhagen-Debatte ebenso wie die
Bewunderung, die der Hollywood-Regisseur Steven Spielberg für seinen Film
»Schindlers Liste« und die anschließenden Aktivitäten seiner Shoah-Foundation
genießt, Indiz dafür, dass unter den Deutschen zahlreiche Menschen zu finden
sind, insbesondere der jüngeren Generation, die sich emotional, moralisch und intellektuell für die Juden engagieren. Das zeigt die seit mehr als einem
Jahrzehnt andauernde Diskussion um ein zentrales Mahnmal für die ermordeten
Juden, das in Berlin errichtet werden soll, und das bewies sogar die Debatte,
die der Schriftsteller Martin Waiser auslöste, als er unter dem Beifall der
Honoratioren den scheinbar erlösenden Schlussstrich unter die deutsche
Vergangenheit forderte.
Der wachsende zeitliche Abstand zum Holocaust spielt für die Juden als Opfer
keine Rolle. Von den Nichtjuden wird er dagegen als Hauptargument und als
Forderung nach »Normalität« ins Treffen geführt: »Könnt ihr denn gar nicht
vergessen, es ist doch schon so lange her«, lautet die Standardformel, und wenn
Juden darauf mit Nein antworten, entsteht Verbitterung, wird die jüdische
Haltung als »unversöhnlich« abgelehnt oder verurteilt, fühlt man sich im
unterschwelligen Vorbehalt - im latenten Antisemitismus -bestätigt. Die jüdische
Position hat Salomon Korn, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt und
eine der wichtigsten Stimmen im Diskurs über jüdisches Leben in Deutschland,
präzise verdeutlicht: »Nach dem, was geschehen ist, ist es durchaus normal, dass
wir heute noch nicht normal miteinander umgehen.«22
1 Ladislaus Szücs, Zählappell. Als Arzt im Konzentrationslager, Frankfurt a. M.
1995; Helen Quandt (Hg.), Salz der Tränen. Zeichnungen von Ladislaus Szücs,
Düsseldorf 1999.
2 Der Tagesspiegel, 26.1.2000 (»Jüdisches Leben« in fahrender S-Bahn).
3 Joseph Foschepoth, Im Schatten der Vergangenheit. Die Anfänge der
Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, Göttingen 1993.
4 Henryk M. Broder, »Die Juden zuerst«, in: Der Spiegel Nr. 29, 13.7.1998.
5 Marcel Reich-Ranicki, Mein Leben, Stuttgart 1999.
6 Ralph Giordano, Die zweite Schuld oder Von der Last, Deutscher zu sein,
Hamburg 1987; Wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte, Hamburg 1989; Wird
Deutschland wieder gefährlich? Mein Brief an Kanzler Kohl - Ursachen und Folgen,
Köln 1993.
7 Esther Dischereit, Übungen, jüdisch zu sein. Frankfurt a. M. 1998, S.20f.
8 Allgemeine Jüdische Wochenzeitung 15.5.1996 (Der Koschere Knig-ge. Über den
Umgang mit »jüdischen Mitbürgern«).
9 Vgl. Fassbinder ohne Ende. Eine Dokumentation anlässlich der Uraufführung von
Rainer Werner Fassbinders Theaterstück »Der Müll, die Stadt und der Tod« im
Kammerspiel von Schauspiel Frankfurt am 31. Oktober 1985, Frankfurt a. M. 1985;
Die Fassbinder-Kontroverse oder Das Ende der Schonzeit, hrsg. von Heiner
Lichtenstein, Königstein 1986.
10 Vgl. Wolfgang Benz (Hg.), Antisemitismus in Deutschland. Zur Aktualität eines
Vorurteils, München 1995.
11 Julius H. Schoeps/Willi Jasper/Bernhard Vogt (Hg.), Ein neues Judentum in
Deutschland? Fremd- und Eigenbilder der russisch-jüdischen Einwanderer, Potsdam
1999.
12 Die Woche 1/99.
13 vVerner Bergmann/Rainer Erb, Wie antisemitisch sind die Deutschen?, in: Benz,
Antisemitismus in Deutschland, S. 47-63; s.a. Werner Bergmann/Rainer Erb,
Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland. Ergebnisse der empirischen
Forschung von 1946 bis 1989, Opiaden 1991.
14 Der Orchestervorstand bedauerte in einer Anzeige »zutiefst den
antisemitischen Vorfall während des Israel-Gastspiels« und distanzierte sich
»von diesem Orchestermitglied mit aller Konsequenz«, Tagesspiegel (Berlin),
4.6.1997; vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung 11.6.1997 (»Der einsame Josef«)
und Frankfurter Rundschau, 2.6.1997.
15 Süddeutsche Zeitung, 17.7.1998 (»Juden raus«-Ruf geahndet).
16 Angelika Königseder, Flucht nach Berlin. Jüdische Displaced Persons
1945-1948, Berlin 1998.
17 Angelika Königseder/Juliane Wetzel, Lebensmut im Wartesaal. Die jüdischen
DPs (Displaced Persons) im Nachkriegsdeutschland, Frankfurt a. M. 1994.
18 Zwi Harry Levy, Der »Überrest Israels« in Deutschland, in: The Jewish
Travel Guide, Frankfurt 1953, S. 20, zit. nach: Harry Maór, Über den
Wiederaufbau der jüdischen Gemeinden in Deutschland seit 1945, Phil. Diss. Mainz
1961.
19 Micha Brumlik, Kein Weg als Deutscher und Jude. Eine
bundesre-publikanische Erfahrung, München 1996, S. 105.
20 Rafael Seligmann, Mit beschränkter Hoffnung. Juden, Deutsche, Israelis,
Hamburg 1991, S. 81.
21 Rafael Seligmann, Nicht in jüdischer Macht. Von der Mehrheit allein
gelassen, der Selbstisolation bezichtigt - Erfahrungen im veränderten
Deutschland, in: Die Zeit, 25.11.1999.
22 Tagesspiegel Berlin, 1.11.1999; vgl. Salomon Korn, Geteilte Erinnerung.
Beiträge zur deutsch-jüdischen Gegenwart, Bodenheim 1999.
*) Heute liegt die Zahl bei ca. 200.000 Juden (davon ca. 50%
offiziell über den Zentralrat der Juden in Deutschland erfasst) aus ca.
83.000.000 Einw..
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