Katja Behrens, in Berlin geboren, 1960-1973 Übersetzungen aus dem
Amerikanischen, u.a. William S.Burroughs und Henry Miller. Von 1973 bis 1978
Verlagslektorin. Seit 1978 freiberuflich tätig. PEN-Mitglied, ausgezeichnet mit
verschiedenen Literaturpreisen, 1992 Stadtschreiberin von Mainz. Autorin u.a.
des Romans Die dreizehnte Fee. Siehe auch
http://www.katja-behrens.de.
KATJA BEHRENS
Von Symbiose war einmal die Rede
Aus dem Buch
Ich bin geblieben - warum?,
hsg. v. Katja Behrens, ersch. 2002 im
Bleicher-Verlag
Eine Bestandsaufnahme
Als Tinchen Tannenbaum endlich von der Vergangenheit eingeholt wurde, waren
fünfunddreißig Jahre vergangen, die sie sicherheitshalber im Bett verbracht
hatte. Sie lebte in einem Altersheim, in Deutschland herrschte Frieden, und die
SA zog nur für sie am Haus vorbei. Aber davon war sie nicht zu überzeugen.
Sie
hörte, was sie hörte: »Und wenn Tinchen Tannenbaums Blut vom Messer spritzt,
dann geht's noch mal so gut.« Sie wusste nichts davon, dass sie das Lied
abgewandelt hatte. Eigentlich heißt es: »Und wenn der Juden Blut vom Messer
spritzt...« Offenbar hatte sie das damals ganz persönlich genommen, und jetzt
wartete sie von neuem darauf, abgeholt zu werden, ein Schicksal, dem sie
in jener Zeit, über die sie nie sprach, immer wieder mit viel Glück entronnen
war.
In einer psychiatrischen Klinik kam sie in die Gegenwart zurück. Das Zimmer
teilte sie mit einer einbeinigen Alten, die sich »Frau Müller aus den
Ostgebieten« nannte und Mutter und mich jedes Mal, kaum dass wir den Raum
betreten hatten, gebieterisch zu sich heranwinkte:
»Kommen Sie mal her!« Und wenn wir sie ignorierten, weil wir schon wussten,
wie es weitergehen würde, wurde sie herrisch: »Herkommen, sage ich!« Und wenn
wir auch das ignorierten, zeigte die Alte anklagend mit dem Finger auf uns:
»Was haben Sie hier zu suchen? Sie gehören doch gar nicht hierher!« Und wenn
wir dann zusammen mit Tinchen das Zimmer verließen, rief sie uns entrüstet nach:
»Sind das deutsche Menschen?«
Frau Müller aus den Ostgebieten hatte offenbar nichts von der
deutsch-jüdischen Symbiose gehört, auch wenn sie uns sogleich »erkannt« hatte.
Nun war Frau Müller nicht gerade das, was man eine gebildete Frau nennt, und
ihre Unkenntnis ist kein Beweis dafür, dass es diese Symbiose nicht gegeben hat.
Es waren ja die so genannten Gebildeten, die besonders nach 1945 gerne auf die
deutsch-jüdische Symbiose verwiesen, die angeblich vor 1933 existiert hatte, so
als sei das, was dann geschahen war, aus heiterem Himmel gekommen, einfach so,
ohne dräuende Wolken. Eine verklärte Vergangenheit macht die Erinnerung und
damit das Leben in der Gegenwart allemal erträglicher.
Um einen Beitrag für eine Festschrift zu Margarete Susmans neunzigstem
Geburtstag gebeten, die, wie es in der Einladung hieß, »nicht nur als Huldigung,
sondern auch als Dokument eines im Kern unzerstörbaren deutsch-jüdischen
Gesprächs zu verstehen sein« sollte, schrieb Gershom Scholem im Jahre 1962: »Die
angeblich unzerstörbare geistige Gemeinsamkeit des deutschen Wesens mit dem
jüdischen Wesen hat, solange diese beiden Wesen realiter miteinander gewirkt
haben, immer nur vom Chorus der jüdischen Stimmen her bestanden und war, auf der
Ebene der historischen Realität, niemals etwas anderes als eine Fiktion ... Ich
bestreite, dass es ein solches deutsch-jüdisches Gespräch in irgendeinem echten
Sinne als historisches Phänomen je gegeben hat. Zu einem Gespräch gehören
zwei, die aufeinander hören, die bereit sind, den ändern in dem, was er ist und
darstellt, wahrzunehmen und ihm zu erwidern... Gewiss, die Juden haben ein
Gespräch mit den Deutschen versucht, ... fordernd, flehend und beschwörend,
kriecherisch und auftrotzend, in allen Tonarten ergreifender Würde und
gottverlassener Würdelosigkeit, und es mag heute, wo die Symphonie aus ist, an
der Zeit sein, ihre Motive zu studieren und eine Kritik ihrer Töne zu versuchen.
Niemand, auch wer die Hoffnungslosigkeit dieses Schreis ins Leere von jeher
begriffen hat, wird dessen leidenschaftliche Intensität und die Töne der
Hoffnung und der Trauer, die in ihm mitgeschwungen haben, gering schätzen. Von
einem Gespräch vermag ich bei alldem nichts wahrzunehmen.«
Nach 1945 prägte Hannah Arendt dann den Begriff von der »negativen Symbiose«,
den Dan Diner in seinem 1988 erschienenen Aufsatz »Negative Symbiose - Deutsche
und Juden nach Auschwitz« aufgegriffen hat: »Seit Auschwitz kann tatsächlich von
einer deutsch-jüdischen Symbiose gesprochen werden - freilich einer negativen.
Für beide, für Deutsche wie für Juden, ist das Ergebnis der Massenvernichtung
zum Ausgangspunkt ihres Selbstverständnisses geworden, eine Art gegensätzlicher
Gemeinsamkeit, ob sie wollen oder nicht.«
Den Begriff »negative Symbiose« hat Hannah Arendt (in einem Brief an Karl
Jaspers) im Jahre 1946 verwendet, also zu einer Zeit, da sie noch glauben
konnte, auch »die Deutschen« würden nicht loskommen von dem, was geschehen war.
Offenbar erschien es ihr damals unvorstellbar, dass man einfach zur Tagesordnung
übergehen könnte. Vier Jahre später, nach ihrem Deutschlandbesuch im Winter
1949/50 ist von symbiotischen Verstrickungen keine Rede mehr: »Beobachtet man
die Deutschen, wie sie geschäftig durch die Ruinen ihrer tausendjährigen
Geschichte stolpern und für die zerstörten Wahrzeichen ein Achselzucken übrig
haben oder wie sie einem verübeln, wenn man sie an die Schreckenstaten erinnert,
welche die ganze übrige Welt nicht loslassen, dann begreift man, dass die
Geschäftigkeit ihre Hauptwaffe bei der Abwehr der Wirklichkeit geworden ist.«
»Lassen wir die Vergangenheit ruhen«, hieß das, landauf, landab. Ich erinnere
mich noch gut daran. Oder, damals schon:
»Es muss doch endlich mal Schluss sein.« Es gab die Hinweise auf die
Autobahnen, die Hitler immerhin gebaut hatte, es gab die entrüsteten
Behauptungen, es seien nicht sechs Millionen gewesen, sondern nur vier,
und es gab die Litanei:
»Wir haben nichts gewusst.« Margaret Bourke-White, 1945 als Korrespondentin
von Life in Deutschland: »Wir alle bekamen diese Worte so oft und so
monoton zu hören, dass sie uns wie eine deutsche Nationalhymne erschienen.« Ich
habe noch einen zweiten Satz in Erinnerung, der dem ersten zuweilen folgte: »Und
wenn wir was gesagt hätten, wären wir (auch), ins Kazett gekommen.«
Der Rest war Schweigen. Deutschland im Schnee, versunken unter einer dicken
Schneedecke, die alle Geräusche schluckt, so dass jene besondere Stille
herrscht, die Büchner meint, wenn er seinen Lenz sagen lässt: »Hören Sie denn
nicht die entsetzliche Stimme, die um den ganzen Horizont schreit und die man
gewöhnlich Stille heißt?«
»Lassen wir die Vergangenheit ruhen«, sagte mein einstiger Klassenlehrer, als
ich ihn aufsuchte, um ein wenig zu graben. Es war Anfang der neunziger Jahre,
und er zitierte seinen einstigen Lehrer, der ihm nach dem Krieg den Weg gewiesen
hatte: »Wir müssen jetzt den Blick nach vorn richten.«
Mein einstiger Lehrer unterrichtete noch immer an derselben Schule. Ergraut,
sonst ganz der Alte. Ich hatte ihn, wie gesagt, angerufen, weil ich sehen
wollte, was unter der Decke ist. Ich war darauf gefasst gewesen, lange
Erklärungen abgeben zu müssen. Aber er erinnerte sich sofort an mich. Und das
mag darauf hindeuten, dass doch etwas dran ist an Dan Diners These von der
negativen Symbiose.
Er stand in der Tür. Ich sah die ausgestreckte Hand, und es war wie einst.
Erst auf den zweiten Blick merkte ich, dass sich etwas geändert hatte. Da war
kein Finger mehr, der auf mich wies. Nur die Frage, ob ich den Weg gut gefunden
hätte und keine höhnische Bemerkung über meine Nase. Er saß mir gegenüber in
Weste und Pantoffeln. Weste und Pantoffeln passten nicht zu dem Schneid, mit dem
er die Nummer seines Volkssturmbataillons herunterrasselte. Ich zitierte
Faulkner: »The past isn't over; it isn't even past.«
Er warf mich hinaus. Ich ging gerne. Die Wohnung war spießbürgerlich, die
Luft schlecht, und ich hatte, was ich wollte:
an einer Stelle den Schnee abgetaut und gesehen: Was darunter ist, hat sich
erstaunlich gut konserviert. Wie der Ötzi. (Ich weiß nicht, ob Sie wissen, wer
der Ötzi ist. Der Ötzi ist ein vor Jahrtausenden in den Ötztaler Alpen
umgekommener Mann, dessen Leiche man jüngst im Eis gefunden hat, noch bekleidet
und so gut erhalten, dass man viele Rückschlüsse daraus ziehen kann, wie die
Menschen damals lebten.) Ich verließ also die Wohnung meines einstigen Peinigers
nicht als Siegerin, aber ich hatte doch etwas hinzugewonnen: Ich war ihm
gegenübergetreten als Gleichberechtigte und nicht mehr als das ohnmächtige Kind.
»Wer vollständig ohnmächtig ist«, schreibt Jan Philipp Reemtsma in seinem Buch
Im Keller, »ist bei lebendigem Leibe nicht mehr da.« Man könnte auch
sagen: Wer sich vollständig ohnmächtig fühlt ... Bei uns ist die Ohnmacht
ein Familiengefühl, und um dieses Gefühl mit all den es begleitenden Gefühlen
wie Angst, Scham und unterdrückte Wut loszuwerden und im Reemtsmaschen Sinne da
zu sein, hatte ich den Mann aufgesucht. Auch das mag darauf hindeuten, dass die
These von der negativen Symbiose nicht ganz falsch ist. Der Besuch bei meinem
früheren Lehrer war natürlich nur einer von vielen Versuchen, ins »Dasein« zu
treten.
In den sechziger Jahren ging ich nach Israel. Ich dachte, ich könnte es
irgendwie rückgängig machen, Mutters Dableiben und Ducken und mein ererbtes
Gefühl der Ohnmacht. Ich dachte, ich könnte das Fortgehen nachholen,
stellvertretend für die, die geblieben waren, stellvertretend und rückwirkend,
denn es war ja nicht mehr notwendig, jedenfalls nicht überlebensnotwendig:
abgeholt wurde nur noch zur Tanzstunde, und Mutter bekam eine so genannte
Wiedergutmachungsrente, wenn auch der Blick weiter am Boden haftete, keine Rede
von aufrechtem Gang, Kopf gesenkt bis zum Schluss, immer tiefer, ob aus Scham
über die Nase oder aus Scham, überlebt zu haben, blieb ihr Geheimnis. Sie starb
abgemagert, heruntergehungert, als käme sie aus einem jener Lager, in dem sie
nie gewesen war. Später lernte ich, dass es für das, was sie empfunden hatte,
ohne sich dessen bewusst zu sein, einen Begriff gibt: Überlebensschuld. Ich
lernte auch, dass es die Getretenen sind, die sich hinterher schämen und nicht
die getreten haben.
Anfang der achtziger Jahre begann ich, mich mit meiner Familiengeschichte
auseinanderzusetzen. Ich schrieb eine Erzählung, »Nach innen ausgewandert«. Und
schon während ich schrieb, quälte ich mich mit der Frage herum: zeige ich das
meiner Mutter? Lese ich es ihr vor? Sie war fast blind, konnte nicht mehr lesen,
und ich dachte, ich hätte die Wahl. Einerseits wusste ich, dass ich ein
Familientabu übertreten hatte, eine Verräterin, die das Nasentum öffentlich
ausplaudert, Mutter also wenigstens das Bekenntnis meines »Verrats« schuldete, andererseits wollte ich sie schonen. Gewissensbisse.
Schuldgefühle. Schuldbeladen, wenn ich es nicht sage, schuldbeladen, wenn ich es
sage. - Ich beschloss, nichts zu sagen.
Der Text erschien in der FAZ. Als ich meine Mutter besuchte, kannte
sie ihn schon. Die Nachbarin hatte ihn ihr vorgelesen. Sie war sehr böse auf
mich. Sie sagte: »Dass du das alles ans Licht gezerrt hast.« Ich rechtfertigte
mich. Erinnerte sie daran, dass sie mich als jüdisches Mädchen erzogen hatte,
nicht als Gläubige, aber als eine, die weiß, auf welche Seite sie gehört. Sie
sagte: »Die Nachbarn wissen das doch nicht mit der Wiedergutmachungsrente. Die
schimpfen sowieso immer auf die Wiedergutmachung.« Zwischen uns tat sich die
Kluft auf, die sonst zwischen uns und den ändern war. Das Letzte, was sie
zu diesem Thema sagte, war:
»Man trompetet eben nicht gern heraus, dass man zu einer missachteten Rasse
gehört.« Dazu noch einmal Jan Philipp Reemtsma: »Vielleicht wird Übermächtigung
immer von Gefühlen der Scham begleitet... Eine Übermächtigung macht einen klein,
reduziert einen, liefert einen aus... Dazu kommt, dass man immer meint, daran
wenigstens mitschuldig zu sein.« Reemtsma fährt fort: »Gleichwohl ist für das
Opfer die Strafe von hoher Bedeutung. Nicht, weil sie die Rachebedürfnisse
erfüllt, denn das tut sie meistens nicht. Sondern weil die Strafe die
Solidarität des Sozialverbandes mit dem Opfer demonstriert. Die Strafe grenzt
den Täter aus und nimmt damit das Opfer herein.«
Wie aber sah es aus mit der Bestrafung der Täter? Der Schriftsteller und
Historiker Joseph Wulf kam nach zwei Jahren in Auschwitz nach Deutschland. 1974
nahm er sich in Berlin das Leben. Zwei Monate vor seinem Tod schrieb er an
seinen Sohn: »Ich habe hier achtzehn Bücher über das Dritte Reich veröffentlicht, und
alles hatte keine Wirkung. Du kannst dich bei den Deutschen totdokumentieren, es
kann in Bonn die demokratischste Regierung sein - und die Massenmörder laufen
frei herum, haben ihr Häuschen und züchten Blumen.«
Zwanzig Jahre später schrieb
Peter Finkelgruen in seinem Buch 'Haus
Deutschland oder die Geschichte eines ungesühnten Mordes über den
SS-Aufseher Anton Malloth, der seinen Großvater vor den Augen noch lebender
Zeugen in Theresienstadt erschlagen hatte. In dem Buch war auch die Rede davon,
dass der zuständige Oberstaatsanwalt Klaus Schacht es abgelehnt hatte, Anklage
gegen den bereits als Mörder Überführten und (in Abwesenheit in der
Tschechoslowakei) Verurteilten zu erheben. In seiner Besprechung von Haus
Deutschland... schrieb Ralph Giordano in der Frankfurter Rundschau:
»Die Erkenntnis lautet: Es gibt nur ein Interesse der mit dem Fall
befassten Juristen: das Verfahren gegen Anton Malloth zu verhindern.« -
Daraufhin wurde ein Ermittlungsverfahren gegen Ralph Giordano
eingeleitet, wegen »Beleidigung und übler Nachrede zum Nachteil des
Oberstaatsanwalts Klaus Schacht«. Die Staatsanwaltschaft in Frankfurt erhob
Anklage. Es gab eine Solidarisierungsaktion von Schriftstellerkollegen, an der
sich einige beteiligten und viele nicht beteiligten. Immerhin musste Schacht
seine Anzeige zurückziehen, und Giordano wurde nicht verurteilt. Der Mörder
Anton Malloth aber lebte bis zum Jahr 2000 unbehelligt in einem deutschen
Altersheim. Einer von vielen. Und wäre Eichmann seinerzeit nicht entrührt
worden, hätte auch er sich seines Lebens vermutlich bis ans natürliche Ende
erfreuen dürfen. Es war der unter seinen Kollegen völlig isolierte Staatsanwalt
Fritz Bauer, der in Erfahrung gebracht hatte, wo Eichmann sich aufhielt und den israelischen
Behörden den Hinweis gab, wohlwissend, dass deutsche Behörden nichts unternehmen
würden und Eichmann höchstwahrscheinlich noch gewarnt würde. Eichmann wurde also
vom israelischen Geheimdienst entführt, als wäre es Sache der Israelis
gewesen, den Massenmörder zu bestrafen. Gäbe es die »negative Symbiose« wirklich
und wäre das Morden zum Ausgangspunkt des deutschen Selbstverständnisses
geworden, wäre dies eine Aufgabe der Deutschen gewesen. Doch das ist
unvorstellbar. Ich erinnere mich noch lebhaft an die Empörung eines mir
bekannten Lektors. Seine Empörung galt nicht den Taten Eichmanns. Er empörte
sich (wie viele andere damals) über die Entführung. »Auch wenn er Unrecht getan
hat«, sagte der Lektor, »hat man kein Recht, sich über das Recht
hinwegzusetzen.« Allen Ernstes pochte der Lektor entschieden auf das Recht. Er
sprach nicht vom Bruder Eichmann. Das tat der Jude Heinar Kipphardt. Der
Lektor war in der Nazizeit aufgewachsen und erzogen worden und hatte gelernt,
was alle seiner Generation gelernt hatten: Gelobt sei, was hart macht. Also
weder Mitgefühl noch Entsetzen noch Scham noch Grauen und schon gar keine
Trauer.
Natürlich hat es immer wieder »Diskussionen« gegeben. Vor und nach der
Eichmann-Entführung. Über den Film »Holocaust«. Über das Fassbinder-Stück »Der
Müll, die Stadt und der Tod«. Über das so genannte Holocaust-Mahnmal (zehn Jahre
lang). Aber diese Diskussionen hätte es eigentlich nicht geben dürfen. Da
war nichts zu diskutieren. Diese Diskussionen im monströsen Schweigen waren ein
Ausdruck der »Unfähigkeit zu trauern«, und sie waren Abwehrversuche, nicht nur
der Täter- und Mitläufergeneration, sondern auch der Nachkommen.
Die »Komplizenschaft der Generationen« war zum Beispiel auch unter den
Achtundsechzigern wirksam, die einerseits ihre schweigenden Eltern zur Rede
stellten, andererseits aber während des Sechstagekrieges wütend Partei ergriffen
gegen Israel, wobei es nur scheinbar um die Unterdrückung der Palästinenser
ging, in Wirklichkeit aber darum, »die Juden« als Täter zu sehen und auf diese
Weise die deutsche Schuldenlast zu relativieren. Die Komplizenschaft der
Generationen spielt sich weitgehend im Reich des Unbewussten ab, und das macht
es so schwer, ihr beizukommen.
Wenn der Publizist Manfred Schlösser etwa Gershom Scholem und andere Mitte
der sechziger Jahre um einen Beitrag für eine Festschrift zu Margarete Susmans
Geburtstag bat und diese »nicht nur als Huldigung, sondern auch als Dokument
eines im Kern unzerstörbaren deutsch-jüdischen Gesprächs« verstanden wissen
wollte, so kommt das einer glatten Verleugnung gleich: ein Jahr zuvor hatte
Schlösser einen Band mit Aufsätzen Margarete Susmans herausgegeben, und man darf
annehmen, dass ihm ihr »Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes«
bekannt war. Darin heißt es:
»Und auf die Frage, ob es ein Zufall war, dass gerade von diesem Volk dies
Widermenschliche ausgegangen ist, ist die Antwort ein klares Nein: wir vermögen
in der deutschen Geschichte, im deutschen Geist, in der deutschen Gesinnung
deutlich die Wesenszüge aufzufinden, die ... in diesen Abgrund hinabführten.
Aber daneben stellt sich doch sofort die Frage: Hatten denn nicht wir, die
deutschen Juden, an diesem Geist, diesem Wesen teil? Haben wir nicht in jenem
Lande mitgelebt, seine Schicksale mitgetragen, seine Gedanken mitgedacht?
Sprechen wir nicht seine Sprache? Haben wir nicht alles, was wir wissen und
selber sind, in deutscher Sprache empfangen? Nannten wir uns nicht und waren wir nicht Deutsche? Nicht
freiwillig, sondern künstlich, gewaltsam, mit den verworfensten Mitteln mussten
wir aus diesem Volk ausgesondert werden. Wir mussten uns selbst zerreißen, um
nicht mehr Deutsche zu sein, und wir haben es getan. Haben wir denn den
deutschen Menschen, wie er geworden ist, früher durch das, was uns deutsches
Wesen hieß, nicht gesehen? oder nur durch einen dichten, verzaubernden Schleier?
Wie kommt es dann, dass wir ihn dennoch heute wiedererkannten? Wir erkannten
ihn, wie in dem alten chinesischen Märchen der Bauer in dem ihm teuren Nachbarn,
den er zum Schutz gegen ein grauenvolles Ungeheuer hinter sich aufs Pferd
genommen hat, plötzlich, sich umblickend, das Ungeheuer selbst erkennt und
bewusstlos vom Pferd sinkt.«
Wenn Manfred Schlösser eine Festschrift für Margarete Susman zum Dokument
eines »im Kern unzerstörbaren deutschjüdischen Gesprächs« machen will, scheint
der Ötzi auf, will sagen: da war der gute Wille eines, der nicht Komplize seiner
Väter sein und doch das Geschehene und seine Folgen nicht wahrhaben will. Der
Ötzi scheint auf, man kann ihn betrachten, und das geht ja noch. Aber wenn der
Schnee fällt und das Schweigen laut wird, ist das etwas anderes. Ich bin unter
Freunden. Ein Wort, das an Verfolgung und Vertreibung erinnert, und schon macht
sich ein Schweigen breit, ein peinlich berührtes, unter den mir eben noch nahen
Menschen, ein Schweigen, das mir sagt: Hoppla, du bist ins Fettnäpfchen
getreten. In der Stille wird die Kluft zwischen uns spürbar.
Diese Kluft zwischen uns, den Nachgeborenen beider Seiten, ist ein waberndes
Ding. Sie ist nicht immer gleich groß. Manchmal schließt sie sich, wird zu einem
haarfeinen Riss, einer Bruchstelle, die man vergessen kann, dann wieder reißt es plötzlich auf
und wird unüberbrückbar.
Ein lauer Sommerabend in Italien. Wir sind Stipendiaten der Villa Massimo,
ein deutscher Kirchenmusiker und ich. Wir sitzen bei Wein und Oliven und reden
über Musik.
»Um es in der Musik zu etwas zu bringen«, sagt der deutsche Kirchenmusiker,
»muss man entweder Jude sein oder schwul.« Ich denke, ich habe nicht richtig
gehört. »Doch, doch«, sagt er. »Sie sitzen schon wieder überall drin, halten
alle Schlüsselpositionen besetzt.«
Ich halte ihm vor, dass das nicht sein kann, weil alle umgebracht sind. Er
beharrt: »Eben nicht. Sie schanzen sich gegenseitig die guten Posten zu.« Ein
paar Gläser Wein, und schon liegt der Ötzi frei. Kein schöner Anblick, aber man
weiß doch gleich: das ist der Ötzi, mittlerweile ein alter Bekannter, den man
immer mal wieder zu Gesicht bekommt. Neulich traf ich einen Freund meines Mannes
aus alten Zeiten. Wir redeten über die Vergangenheit. Ich hatte nicht gewusst,
dass er sich als Fünfzehnjähriger freiwillig gemeldet hatte. Er hatte nicht
gewusst, dass meine Mutter Jüdin war.
»Was?«, rief er im Ton ungläubiger Überraschung. »Diese reizende Frau!« Als
sei es unmöglich, dass eine so reizende Frau etwas so Abscheuliches wie eine
Jüdin sein kann. Für die Dauer eines Satzes war Tauwetter, will sagen: der
kleine Dietrich sprach aus dem Mund des Alten, der nun schon siebzig ist und
nicht mein Freund war.
Meine Freunde sind gute Freunde. Wir haben viel gemeinsam, lesen die gleichen
Bücher, sprechen die gleiche Sprache, teilen politische Ansichten. Wir verstehen
uns, und dann ist Golfkrieg, und wir verstehen uns plötzlich nicht mehr. Worte
wie Gasofen, Gasheizung, Gasrechnung lassen mich zusammenzucken. Mir wird das Atmen schwer. Ich telefoniere mit meinen
israelischen Freunden, die ein Zimmer in ihrer Wohnung abgedichtet haben und
eine Gasmaske mitnehmen, wenn sie ausgehen. Das erzähle ich meinen deutschen
Freunden, und denke, es müsste sie packen wie mich. Deutsches Gas. »Ja aber«,
sagen sie und verstehen nicht, dass ich nicht mit nach Bonn fahren will, um für
den Frieden zu demonstrieren. »Das Gas«, sage ich. »Das Gas.« Und sie sagen:
»Aber Israel hat die Atombombe.« Sie sagen, sie sind für alle leidenden
Menschen, die irakische Bevölkerung, Millionen von Toten, sagen sie, muss
aufhören, sofort. Und ich schaue zu, wie der Riss zwischen ihnen und mir, der
Riss, der doch nur haarfein war, breiter wird. »Israel hat Fehler gemacht«,
sagen sie. »Die Palästinenser«, sagen sie. »Ist natürlich klar, dass du
das anders sehen musst.« Sie schenken mir ihre Nachsicht, meine deutschen
Freunde. Sie nehmen es mir nicht übel, dass ich nicht wie sonst für den Frieden
eintrete. Sie machen deutlich, dass das Gas, das mich angeht, sie nicht angeht.
»Ist natürlich schlimm, das mit dem Gas, aber - « Und schon haben sie die Kurve
gekratzt. Es ist nicht ihre Sache. Der Riss verbreitert sich und wird zur Kluft,
wenn sie dazu übergehen, die Fehler der Israelis aufzuzählen. Erst dann wird ihr Atem
unregelmäßig, kommt Empörung in die Stimme. Eben noch waren wir uns nah, und
schon erscheint die Kluft mir unüberbrückbar. Als lebten wir für immer auf zwei
voneinander getrennten Kontinenten. Als ob nicht auch ich eine Deutsche wäre.
Deutscher Pass, deutsche Sprache, deutsches Erbe. Zu diesem Erbe gehört, dass
ich dem deutschen Gas entronnen bin. Und wenn ich meine israelischen Freunde
anrufe, dann fragen sie, warum wir nicht gegen die Rüstungsfirmen demonstrieren.
»Ihr Deutschen«, sagen sie. Denn für sie bin ich die Deutsche.
Da ist er wieder, der Riss, der nicht nur ein bewegliches Ding ist, sondern
auch an den verschiedensten Stellen auftaucht. In seinem Buch Erlkönigs Reich
erzählt Peter Finkelgruen, wie seine Großmutter, die Auschwitz überlebt hatte
und mit ihm nach Israel gegangen war, verprügelt wurde, weil sie deutsch
gesprochen hatte. Die Jekkes (so wurden die deutschen Juden genannt) waren in
Israel nicht sonderlich beliebt. Sie galten als pedantisch und arrogant, eben
deutsch. Als Undeutsch betrachteten nur die Deutschen ihre deutschen
Juden. »Machen wir uns doch nichts vor«, schrieb der Schriftsteller und
Journalist Moritz Goldstein, lange bevor er Deutschland 1933 verließ. »Wir
Juden, unter uns, mögen den Eindruck haben, als sprächen wir als Deutsche zu
Deutschen - wir haben den Eindruck. Aber mögen wir uns immerhin ganz
deutsch fühlen, die anderen fühlen uns ganz Undeutsch.«
Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Das Wort un-deutsch ist
aus der Mode gekommen, man spricht jetzt von unseren jüdischen Mitbürgern, aber
als die Wochenzeitung Die Woche Mitte der neunziger Jahre eine Umfrage
machte, in der es um die Staatsangehörigkeit des 1927 in Dresden geborenen und
in Frankfurt/Main lebenden Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in
Deutschland, Ignatz Bubis, ging, meinten immerhin 22 Prozent der Befragten
Deutschen, er sei Israeli, 32 Prozent wussten nicht, welche Staatsangehörigkeit
Bubis hat und weniger als die Hälfte, nämlich 43 Prozent, betrachteten ihren
jüdischen Mitbürger als Deutschen. Also der Riss, der Zwiespalt, die
Zwiespältigkeit und nicht die Symbiose, die ja bedeuten würde, dass Juden und
Deutsche als Ganzes aufeinander bezogen sind. Der Mehrheit der Deutschen
ist es gelungen, sich dem zu entziehen, und einzelne Juden haben eine Insel
gefunden, auf der sie leben können. So hat es sich der deutsche Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki mehr
oder weniger gemütlich gemacht auf seiner Insel der Literatur. Sie wissen
vermutlich, dass Reich-Ranicki allgemein als »Literaturpapst« bezeichnet wird.
Dagegen hat er sich meines Wissens nie gewehrt, aber er, der in Berlin
aufgewachsen ist und seit 1958 wieder in Deutschland lebt, wehrt sich vehement
dagegen, als Deutscher betrachtet zu werden:
»Sie können in mir keinen Deutschen sehen. Ich bin kein Deutscher. Machen Sie
keinen Deutschen aus mir. Ich bin ein Bürger der Bundesrepublik.
Selbstverständlich und gern. Mir gefällt dieser Staat, trotz allem. Ich bin ein
deutscher Literaturkritiker, ich schreibe in deutscher Sprache, ich gehöre zur
deutschen Literatur und Kultur, aber ich bin kein Deutscher und werde es nie
werden.«
Ein anderer großer Literaturkritiker, Hans Mayer, äußert sich weniger
temperamentvoll, aber noch skeptischer:
»Empfinde ich mich als Deutscher, nachdem so viel geschehen ist? Geblieben
ist die Skepsis gegenüber allen Möglichkeiten der vollständigen Emanzipation von
Juden auf deutschem Boden. Es gibt kaum mehr Juden in diesem Lande, und die
Generation der glühenden Gefolgsleute ihres Führers stirbt demnächst aus.
Dennoch gibt es abermals Nazis unter der jungen Generation. Man schmäht die
jüdischen Toten; die deutschen Richter sind bemüht, der Partei neuer Nazis die
Legalität zu bestätigen. Noch gibt es ein bisschen Wohlstand. Wie aber, wenn
wirklich die Krise eintritt und eine neue Verblendung? Wie es dann zugehen
könnte, dafür gibt es viele Beispiele in der jüdischen Geschichte und auch in
der deutschen.«
Das kennt jeder Jude in Deutschland, dieses Sich-über-die-Eisdecke-Bewegen
und die Frage: Wird sie halten? Und was ist darunter? Lassen wir den Ötzi. Er ist tot. Man hat ihn aus dem Eis geholt
und in ein Museum gebracht. Aber was ist mit dem, wofür der Ötzi hier als
Metapher herhalten musste? Wie lebendig ist das noch? Welche Kräfte halten es in
Schach? Wann und unter welchen Umständen könnte es (wieder) ausbrechen?
Auf der einen Seite die Ängste, auf der ändern die Abwehr von Schuldgefühlen.
In welchem Zwiespalt sich auch die Nachkommen der Täter befinden, zeigt eine
Erfahrung der in München geborenen, in Boston lebenden Autorin Aliana
Brodmann-Menkes. Der Eilermann Verlag hatte sie gebeten, »Die Geschichte von den
Feigen«, eine Erzählung aus dem Talmud, für ein Kinderbuch zu bearbeiten. Als
das Buch fertig war, widmete es die Autorin ihren im Konzentrationslager
ermordeten Großeltern. Die Verlegerin störte sich an dem Wort »ermordet«. Es gab
eine lange Korrespondenz zur Fassung der Widmung. Aliana Brodmann-Menkes wurde
aufgefordert, das Wort »ermordet« abzuschwächen. Schließlich sollte sie ganz auf
die Widmung verzichten. Sie zog das Manuskript zurück. Das Buch erschien
trotzdem, und zwar ohne Widmung. Das heißt, die Verlegerin hatte einerseits
eine jüdische Autorin um eine spezifisch jüdische Geschichte gebeten und
konnte es andererseits nicht ertragen, dass eine ihr unangenehme Tatsache
aus der jüdischen Geschichte benannt wurde. Dieser Vorgang erinnert mich an den
unter jüdischen Intellektuellen kursierenden Satz: Die Deutschen werden den
Juden Auschwitz nie verzeihen.
Auf der einen Seite also die Abwehr von Schuldgefühlen, auf der ändern die
mühsam in Schach gehaltenen Ängste der Überlebenden und die Haltlosigkeit ihrer
(in Deutschland lebenden) Nachkommen. Ich denke an meinen Freund Jehuda und
seine Tochter. Jehuda war der einzige Überlebende einer großen Familie, die seit Generationen in Netra, einem kleinen
Dorf im Norden Hessens, zu Hause war. Dort war man gewöhnt an das, was man
bekowede rischess nannte. Das heißt in etwa »Antisemitismus in Ehren« und
bezieht sich auf die üblichen Gemeinheiten den Juden gegenüber. Man hatte
gelernt, damit zu leben, man nahm das nicht ernst, es war schon immer so
gewesen. Jehuda war der Einzige seiner Familie, der merkte, dass etwas anderes
an die Stelle des bekowede rischess getreten war. Vergeblich versuchte er
Eltern und Geschwister zur Auswanderung nach Israel zu überreden. Schließlich
ging er alleine, und so war er der Einzige, der überlebte.
Anfang der fünfziger Jahre kehrte er nach Deutschland zurück, heiratete eine
Frau, die keine Jüdin war und hatte Kinder mit ihr. Nach Deutschland
zurückgekommen war er, weil er sich nicht herausdenken konnte aus der deutschen
Kultur. Er sammelte Bilder von deutschen Malern, veranstaltete Hauskonzerte, bei
denen Deutsche und Juden zusammenkamen und hatte seine kleine private Symbiose
mit seinem »Hausgoj«. Er hatte seine Einbrüche und Ausbrüche, aber er schlief
gut und konnte seine Ängste mehr oder weniger in Schach halten. Seine Tochter
aber kam erst zur Ruhe, nachdem sie eine strenggläubige Jüdin geworden war, eine
Orthodoxe, die all die Gebote und Verbote, mit denen sie nicht
aufgewachsen war, genau einhält. In dieser Fesselung, mit der ihr Vater
vermutlich nicht einverstanden gewesen wäre und unter der ihre Mutter schweigend
leidet, findet sie den dringend benötigten Halt.
Ich selber habe den Halt im Schreiben gesucht und scheinbar paradoxerweise
gerade bei der hautnahen Berührung mit dem, was unter der Decke ist, auch
gefunden. Ich sage scheinbar paradoxerweise, weil es nahe liegt, dass
Morddrohungen Angst machen. Das tun sie natürlich. Aber die Ungewissheit, das
Nichtwissen, was hinter dem Schweigen steckt, macht noch mehr Angst.
Es fing damit an, dass ich, nachdem ich eine Reihe von »Jüdischen
Geschichten« geschrieben hatte, in denen es jeweils darum ging, wie die
Vergangenheit heute fortlebt, von Arthur Mayer hörte, dem ersten Arzt in dem
Ort, in dem ich damals lebte.
Arthur Mayer war unter ungeklärten Umständen in Auschwitz umgekommen. Ein
gut versteckter Gedenkstein außerhalb des Ortes erinnerte an ihn. Von den
älteren Einheimischen höre ich, dass er sehr beliebt gewesen war. »Den kannte ich
gut, der hat mich noch behandelt, als ich ein Kind war«, sagten die Leute,
bevor ich davon sprach, dass ich über ihn schreiben wollte. Alle, auch die
alten Nazis, brachten ihre Wertschätzung zum Ausdruck, ein guter Arzt, sehr
beliebt, und dann brach etwas weg: Das Schweigen setzte ein.
Arthur Mayer war nicht in Seeheim abgeholt worden. Er war 1934 ins
Elsass, die Heimat seiner Frau, geflüchtet, später dann nach Lyon, wo er nach
dem Einmarsch der deutschen Truppen von einem Seeheimer erkannt, an die Gestapo
ausgeliefert und mit Frau und Schwiegermutter nach Auschwitz gebracht worden
war. Das Schweigen hatte also nichts mit einer unmittelbaren Beteiligung der
Seeheimer an seiner Verhaftung zu tun.
Ein Jahr lang fragte ich nach Arthur Mayer und erfuhr doch erst aus den in
Auschwitz aufbewahrten Unterlagen über ihn, dass er ein ungewöhnlich kleiner
Mann war und mehrere Sprachen beherrschte.
Je länger ich recherchierte, umso deutlicher trat der Riss zutage, die Kluft,
in der Arthur Mayer verschwunden war. Er und die anderen ermordeten Juden des
Ortes. Der eine erklärte mir in aller Seelenruhe, »den Juden von Seeheim ist nichts passiert,
das können Sie mir glauben«, die andere, eine ehemalige Nachbarin Arthur Mayers,
die nicht vergessen hatte, dass er ihre sterbende Mutter liebevoll versorgt
hatte, sagte, sie habe gehört, er sei in Auschwitz gestorben, an Heimweh
und erwiderte auf mein ungläubiges Nachfragen, das habe sie von einem Juden, als
sei das der endgültige Beweis dafür, dass es stimmte. Nicht einer von den vielen
Menschen, mit denen ich redete, hat Trauer, Schmerz oder Fassungslosigkeit über
das Geschehene zum Ausdruck gebracht, auch nicht diejenigen, die sich als
Heimatforscher mit dem Schicksal der ortsansässigen Juden beschäftigt hatten.
»Was?«, fragte ein pensionierter Lehrer und Heimatforscher. »Der Arthur Mayer,
der war in Auschwitz? Ich hab gedacht, der war in Frankreich von der SS erledigt
worden.« Erledigt. Keine Trauer, keine Gedenktafel an seinem Haus und
keine an der ehemaligen Synagoge. »Das war ein guter Arzt, der war sehr
beliebt.« Und dann fing es an mit den anonymen Briefen, den Anrufen, den
Morddrohungen, offensichtlich in Gang gesetzt von denselben, die vom guten Arzt
gesprochen hatten.
In Seeheim gab es gleich mehrere Heimatforscher, die sich der Juden
angenommen hatten und durchaus hasserfüllt miteinander konkurrierten. Einer, der
zugleich Abgeordneter der Christlichen Partei war, hatte das Rennen gemacht. Nur
er durfte die Judenmatrikel auswerten. Nur er wusste, welche Häuser aus
jüdischem Besitz an wen gegangen waren und zu welchem Preis. Die anderen
beschwerten sich, er habe »das Judenmonopol« und nannten ihn »den Judenkönig«.
Er arbeitete an einer Dokumentation über die Juden von Seeheim. Dafür hatte die
Gemeinde ihm eine großzügig bemessene Geldsumme zur Verfügung gestellt. Dabei
störte ich durch mein Auftauchen und meine Fragen. Der Mann fürchtete die
Konkurrenz. Und er fürchtete, dass »was rauskommt«. Er sagte nicht: »Lassen wir
die Vergangenheit ruhen«. Er sagte: »Lassen wir den Deckel drauf.«
So war auch die von ihm arrangierte Ausstellung über die Seeheimer Juden
konzipiert. Sie erweckte den Eindruck, als sei irgendwann irgendeine Katastrophe
über die Juden hereingebrochen. Wie über ein indianisches Volk, dessen Bauten
man im Urwald entdeckt hat, stumme Zeugen einer hohen Kultur, die aus
unerklärlichen Gründen verschwunden ist. Doch war der Mann besonders stolz auf
seine »jüdischen Freunde in aller Welt« und rechnete es sich hoch an, dass er
»Auschwitz gleich zweimal besichtigt« hatte. Und so schien der Riss denn nicht
nur im Schweigen, sondern gelegentlich auch in Worten auf: als wäre Auschwitz
eine Sehenswürdigkeit, die man besichtigt wie den Kölner Dom oder das
Empire State Building.
Jahrzehnte, bevor ich nach Arthur Mayer fragte, sagte der damalige
Generalstaatsanwalt Fritz Bauer: »Die Luft würde gereinigt werden, wenn endlich
mal ein menschliches Wort fiele - es ist nicht gefallen, und es wird auch nicht
mehr fallen.«
Natürlich wusste ich zu dem Zeitpunkt, als ich über Arthur Mayer schrieb,
längst von der heimlichen-unheimlichen Kontinuität vor und nach 1945, aber erst
diese Erfahrung machte mir klar, dass es dabei nicht um Einzelfälle ging.
Seitdem halte ich die These von der »negativen Symbiose« für Wunschdenken,
jüdisches Wunschdenken. Auf der Ebene der Politik sieht es so aus, als sei die
Vernichtung der Juden »Ausgangspunkt des deutschen Selbstverständnisses«, doch
finden sich in der Allgemeinheit der deutschen Bevölkerung dafür kaum
Anhaltspunkte. Auch ein halbes Jahrhundert danach herrschen noch immer Verdrängung und Verleugnung vor.
Zum Schluss noch zwei Beispiele für das, was ich die heimliche-unheimliche
Kontinuität nenne:
Karl Korn, langjähriger Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen
Zeitung, war vor 1945 Feuilletonchef des Reich, jener Zeitung für den
»anspruchsvollen« Leser der Nazizeit. Die Aurlage betrug eine halbe Million. Zu
lesen war dort unter anderem:
»Die Juden wollten ihren Krieg, und sie haben ihn nun. Aber es bewahrheitet
sich an ihnen auch die Prophezeiung, die der Führer am 30. Januar 1939 im
Deutschen Reichstag aussprach, dass, wenn es dem internationalen Finanzjudentum
gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, das
Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums
sein werde, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa. Wir erleben
den Vollzug dieser Prophezeiung, und es erfüllt sich damit am Judentum ein
Schicksal, das zwar hart aber mehr als verdient ist, Mitleid oder gar Bedauern
ist da gänzlich unangebracht.«
Joseph Goebbels, 16. November 1941. Nach Fünfundvierzig hieß es dann. Das
Reich sei das Blatt der »inneren Emigration« gewesen, der anständigen,
»unpolitischen« Feuilleton-Schreiber, eine Legende, an deren Verbreitung
zumindest diejenigen, die für Das Reich geschrieben hatten, ein Interesse
hatten, nicht zuletzt der ehemalige Feuilletonchef, der den Film »Jud Süß«
beispielsweise so besprochen hatte:
»Damals beginnt der Jude sich im Gehäuse des Reiches einzunisten. Er lebt
seine Machtgier, die Jahrhunderte niedergehalten war, aus und nimmt Rache für
mehr als ein Jahrtausend des Fluches. Wie der dunkeläugige, glatte, schlanke Mann die
Bartlöckchen abschert und um die blonde Frau giert, wie er vom Herzog
Demütigungen einsteckt und gleich wieder vorprescht, wie er Triumphe einheimst
und, als er dann genug Macht hat und sich fest genug im Sattel weiß, brutal
droht, wie er grausam seinen Widersachern ins Auge schaut, sich ihnen körperlich
nähert und sie den Hass uralter Rachsucht fahlen lässt...« Karl Korn, 29.
9.1940. Wenige Jahre später war er, wie gesagt. Feuilletonchef der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die damals mit dem Slogan warb: »Dahinter
steckt immer ein kluger Kopf.«
Karl Korn, einer von vielen, denen der nahtlose Übergang vom einen zum ändern
gelang. Hier stellt sich natürlich die Frage, ob der Übergang wirklich so
nahtlos war, wie es den Anschein hatte oder ob die Bruchstelle nur geschickt
geklebt war und aufgrund einer schweigenden Übereinkunft der mittelbar und
unmittelbar Beteiligten nicht wahrgenommen wurde. Sprechen wir also von der
Wiederkehr des Verdrängten: Als Ingrid Bacher in den neunziger Jahren auf dem
Höhepunkt des Streits um die Vereinigung der beiden deutschen PEN-Zentren sagte:
»Wir haben einen Riss in unserem PEN«, meinte sie den Riss von damals,
den der Klebstoff nicht mehr zusammenhalten konnte, den Riss, der in der
vielbeschworenen »Stunde Null«, die es in Wahrheit nie gegeben hat, entstanden
war. Und jetzt, ein halbes Jahrhundert danach konnte man zuschauen, wie
er sichtbar wurde.
Es ging, wie gesagt, um die Vereinigung des west- und ostdeutschen PEN.
Bekannt war, dass etliche Mitglieder des Ost-PEN Schriftstellerkollegen
bespitzelt und denunziert hatten. Einige der Denunzierten hatten im Gefängnis
gesessen, andere waren ausgebürgert worden und mittlerweile Mitglieder des West-PEN. Im Ost-PEN weigerte man sich jedoch, die aufgrund der
Aktenlage bekannten Denunzianten auszuschließen. Im West-PEN gab es eine
Fraktion, die eine Vereinigung unter diesen Umständen ablehnte, auch weil sie es
den aus der DDR ausgebürgerten Kollegen nicht zumuten wollte, in einem Verband
mit denjenigen zu sitzen, die sie hintergangen und verraten hatten, und eine
andere, die für »Großzügigkeit« plädierte, unter anderem mit dem Argument: »Ich
weiß nicht, was ich getan hätte.« Und wieder ging das Wort von der »Sonne
der Emigration« um -diesmal waren es die in der DDR verbliebenen Schriftsteller,
die ihren freiwillig oder unfreiwillig in den Westen gezogenen Kollegen
vorwarfen, sie hätten es sich Wohlsein lassen in der »kalifornischen Sonne«,
während sie, die Daheimgebliebenen, es ungleich schwerer hatten. Das Wort von
der »kalifornischen Sonne« bezog sich direkt auf die Emigranten der NS-Zeit,
über die Gottfried Benn damals (in einem Brief vom 19.3.1945) schrieb: »Wer über
Deutschland reden und richten will, muss hier geblieben sein.« Die heimgekehrten
Emigranten waren keineswegs willkommen. Alfred Döblin, im Februar 1946: »Und als
ich wiederkam, da - kam ich nicht wieder.«
Auf der einen Seite also die Großzügigen, die Guten, die sich auf die Seite
der Schwachen schlugen, nicht urteilen, nicht selbstgerecht sein wollten, auf
der ändern die Nachtragenden, die auch als »Ewiggestrige« bezeichnet wurden (ein
Begriff, der bis dahin auf die unverbesserlichen Nazis gemünzt war). Plötzlich
standen Verfolgte wie Rainer Kunze, Sarah Kirsch und der mittlerweile vermutlich
an den Folgen der Röntgenstrahlung, der man ihn im Gefängnis ausgesetzt hatte,
verstorbene Jürgen Fuchs als Miesmacher da. Sie und etwa fünfzig andere traten
aus dem PEN aus.
Auf der Jahrestagung in Mainz 1997 plädierte der Jurist Uwe Wesel dann mit
folgenden Worten für Großzügigkeit:
»Adenauer hat ja ganz bewusst auf Integration gesetzt. Er hat 1950 ein
Gutachten machen lassen, in welcher Form oder ob es überhaupt möglich ist, die
ganzen Naziverbrecher, die da zwischen 1945 und 1949 abgeurteilt waren und das
waren ja die meisten, ob er die begnadigen kann, die waren ja zum Teil auch von
den Alliierten verurteilt:... man hat das ja ein Gnadenfieber genannt, was er da
gemacht hat ... Er hat sich gesagt, wir haben einen Neuanfang, wir müssen eine
Demokratie aufbauen, und dann geht es nicht, das können wir nicht machen, indem
wir eine außerordentlich große Zahl von Menschen von vornherein ausgrenzen.
Deswegen hat er auch dieses Gesetz erlassen, mit dem die alten Nazis mehr oder
weniger einen Wiedereinstellungsanspruch in den öffentlichen Dienst bekommen
haben...
Wir haben trotz oder gerade wegen Adenauers Integrationspolitik erreicht,
dass die Bundesrepublik heute eine verhältnismäßig stabile Demokratie ist. Bei
diesen ganzen Debatten um Amnestie habe ich die Erfahrung gemacht, dass
rationale Argumente kaum verfangen. Meistens ist es so: die einen sind hart und
die ändern weich. Man kann auch sagen: die einen sind großzügig, die ändern
nicht großzügig. Das sind vorgeformte Verhaltensmuster. Der Satz: Wir sind ein
Land der Täter und nicht der Opfer, der ist im Grunde richtig: Wir gehen mit den
Tätern um mit dem Ziel, sie wieder zu integrieren. In der Tat, unsere
Gesellschaft hat kein Verhältnis zu den Opfern, das ist richtig, aber das
entbindet uns nicht auch einer gewissen Verantwortung gegenüber den Tätern. Wenn
ich einen Täter bestrafe, helfe ich dem Opfer damit noch überhaupt nicht. Ich
bin ja in Berlin großgeworden, mit den Prozessen, deswegen meine Haltung für die Amnestie, darüber will ich jetzt nicht weiter reden. Ich will noch einmal
sagen: Ich plädiere für Großzügigkeit gegenüber den Tätern.«
Nachzutragen ist, dass Wesel mit dem Satz »Wir sind ein Land der Täter und
nicht der Opfer« einen Zwischenruf von Ralph Giordano aufgegriffen hatte, nicht
ohne Giordano mit milder Überheblichkeit in den Senkel zu stellen: »Herr
Giordano, Sie sind immer so aufgeregt.«
Also der Riss und nicht die Symbiose. Und wenn Sie mich jetzt fragen, warum
ich trotz allem in Deutschland lebe, kann ich nur sagen, es geht mir wie dem
kleinen Kohn, der im Zug sitzt, aus dem Fenster schaut und bei jeder Station
laut zu jammern anhebt: »Oj wej, oj Gewalt, wie ist mir?« Der Zug hält oft, und
jedes Mal wird das Geschrei des kleinen Kohn lauter. Schließlich fragt ihn einer
der Mitreisenden, was er denn habe. Und der kleine Kohn brüllt: »Ich sitze im
falschen Zug! Mit jeder Station sitze ich falscher und falscher!«
Katja Behrens (Hg.)
Ich bin geblieben - warum?
Katja Behrens, geboren 1942 in Berlin, war
Übersetzerin und Verlagslektorin und arbeitet seit 1978 als freie Autorin.
Sie lebt heute in Darmstadt. Veröffentlichungen u.a. Die dreizehnte Fee,
Frankfurt 1983. Salomo und die anderen Jüdische Geschichten, Frankfurt
1993. Die Vagantin, Frankfurt 1997. Zuletzt: Alles Sehen kommt von der Seele
die Lebensgeschichte der Helen Keller, Weinheim 2001. |