Evian-naivE:
Emigration wohin?Eines der
entmutigendsten Ereignisse des Jahres 1938 war die Konferenz, die vom 6. bis zum 15.Juli im
französischen Kurort Evian-les-Bains tagte. Präsident Roosevelt, vom 'Anschluß'
Österreichs alarmiert, hatte zehn Tage später Einladungen an die Regierungen von Staaten
in aller Welt ergehen lassen, die möglicherweise bereit waren, Opfer Hitlers aufzunehmen.
Zweiunddreißig Staaten akzeptierten die Einladung zu der Konferenz in Evian: sechs von
Deutschlands Nachbarn, das Vereinigte Königreich mit seinen Dominions und neunzehn
lateinamerikanische Länder. Nicht formell dazu eingeladen waren neununddreißig
Organisationen, die sich bereits damals für die deutschen Juden einsetzten, aber sie
durften kurze Erklärungen abgeben, während Abgesandte der Reichsvertretung
und
der jüdischen Gemeinde in Wien, denen die Ausreise zu dem Zweck gestattet worden war, ihr
Anliegen vorzutragen, für die potentiellen Fliichtlinge selbst sprachen.
In der Presse wurde rasch vermerkt, daß 'Evian' rückwärts
gesprochen das Wort 'naive' ergab, und Beobachter, die geglaubt hätten, die Konferenz
werde zu irgendwelchen konkreten Schritten führen, wären dann auch naiv gewesen. In
seiner energischen Eröffnungsrede schilderte Myron Taylor, Präsident Roosevelts
Beauftragter, die Situation mit offenen Worten: 'In diesem Augenblick, da die Konferenz
zusammentritt', erklärte er, 'sind mehrere Millionen Menschen tatsächlich oder
potentiell heimatlos.' Dieser alarmierende Tatbestand bewirkte, wenn überhaupt etwas,
nur, daß die meisten Länder in ihrer Entschlossenheit bestärkt wurden, die Grenzen
geschlossen zu halten.
Die Vereinigten Staaten allerdings schienen im Begriff zu
sein umzudenken. Taylor sagte zu, daß das Kontingent für Deutsche und Österreicher
zusammen - 27.300 Einwanderer pro Jahr - jetzt voll ausgeschöpft werden sollte. In den
vorhergegangenen fünf Jahren hatten die Vereinigten Staaten, was er ungesagt ließ, nur
insgesamt 27.000 vom deutschen Kontingent aufgenommen, nicht 130.000, wie es eigentlich
vorgesehen war. (Von den Menschen, die ins Land kamen, waren nur zwischen achtzig und
fünfundachtzig Prozent Juden. Auch andere Deutsche hatten Grund, den Nazistaat zu
verlassen.) Das einzige konkrete Ergebnis der Konferenz von Evian war eine Übereinkunft
der Teilnehmer, ein in Permanenz tagendes zwischenstaatliches Flüchtlingskomitee ins
Leben zu rufen, das versuchen sollte, mit der deutschen Regierung zu verhandeIn, damit
eine geordnete Abwanderung aus Deutschland stattfinden könne.
Aber Pläne für eine Massenauswanderung kamen nie zustande.
Einzelne Personen fanden einen Weg aus Deutschland hinaus, je nach dem, wie ihnen
Zufälle, Familienbeziehungen und der Beistand von Freunden dabei zu Hilfe kamen. Nach dem
September 1939, als Nazideutschland Europa mit Krieg überzog, wurde Auswanderung noch
viel schwieriger. In einer Welt, die ihnen weitgehend feindselig gesinnt und verschlossen
war, ergriffen deutsche Juden jede Chance, und war sie noch so gering. 10.000 deutsche und
österreichische Juden gingen nach Shanghai, wo es, wie sonst nirgends in der Welt, keine
Einwandererquoten gab. Weitere 130.000 emigrierten in die Vereinigten Staaten;
Großbritannien nahm 50.000 und Australien, unter strengen Bedingungen, 6.500 auf. Die
vier großen lateinamerikanischen Staaten, Argentinien, Brasilien, Chile und Mexiko,
ließen weitere 85.000 ins Land, und nach Palästina schafften es 55.000 deutsche Juden,
ungefähr 12.000 von ihnen 'illegal'. Als dann die deutschen Armeen im Mai und Juni 1940
die Niederlande, Belgien und Frankreich besiegten, fielen die 30.000 Juden aus
Deutschland, die in Westeuropa Zuflucht gefunden zu haben glaubten, den Nazis wieder in
die Hände und erduldeten das gleiche Schicksal wie ihre Glaubensbrüder in Deutschland.
Was an dieser Aufzählung - die den Eindruck
einer glatt ablaufenden Entwicklung erwecken könnte fehlt, sind die systematischen
Schikanen, mit denen die Nazis ihre Opfer quälten. Sie waren darauf aus, den Juden, die
das Land verließen, möglichst viel Geld und Besitz abzupressen und sie nach Kräften zu
demütigen und hinzuhalten; sie zwangen die Juden, stundenlang Schlange zu stehen,
schickten sie von einer Behörde zur anderen und schoben Entscheidungen immer wieder auf
die lange Bank. Eine Regierung, die es fertigbrachte, daß alles wie geölt funktionierte,
war auch eine Meisterin des Gegenteils. Die wohlkalkulierte Absicht bestand darin, die
Opfer so weit zu bringen, daß sie bereit waren, alles zu tun, sich von Grundbesitz, Hab
und Gut, Geld, von allem zu trennen, nur um den begehrten Paß zu erhalten.
In dieser Atmosphäre wurde selbst eine so
bedeutende Persönlichkeit wie der Chemiker Richard Willstätter, der 1915 den Nobelpreis
erhalten hatte, zu einem illegalen Fluchtversuch in die Schweiz getrieben. Wie er
berichtet, erschienen am 10. November 1938 mehrere Gestapo-Männer in seinem Haus, um ihn
abzuholen und nach Dachau zu schaffen. Sie kamen nicht aufden Gedanken, im Garten, wo er
gerade seine Rosen betrachtete, nach ihm zu suchen, so daß er fürs erste verschont
blieb. Nach diesem Vorfall beschloß er, das Land zu verlassen.
'Und nun', schrieb er in seinen Erinnerungen,
'begann auf Monate hinaus, worauf ich gar nicht vorbereitet war, das tägliche Laufen zu
den vielen beteiligten Behörden, das Anstehen vor den städtischen und staatlichen
Kassen, Zollfahndungsstelle, Devisenstelle und Devisenüberwachungsstelle, fast täglich
stundenlanges Warten auf den Korridoren, Demütigung vor überheblichen Unterbeamten.' Vom
endlosen Warten und der Ungewißheit zur Verzweiflung getrieben, beschloß er
schließlich, heimlich über die Grenze zu gehen, wurde da bei gestellt und
zurückgeschafft.
Willstätters Geschichte zeigt, daß der
Exodus der deutschen Juden eine der erstaunlichsten Migrationen in der Geschichte war.
Daran beteiligten sich nicht nur Nobelpreisträger, sondern auch Tausende weniger
prominenter Wissenschaftler, Künstler, Akademiker, Ingenieure und Mitglieder freier
Berufe jeglicher Kategorie. Und da eine ganze Bevölkerungsgruppe davon erfaßt wurde,
nicht nur wie im allgemeinen die jungen Männer auf der Suche nach ihrem Glück, nahmen
daran ganze Familien teil, Ehepaare mittleren Alters und sogar alte Menschen wie Betty
Scholem, die sich in einer australischen Kleinstadt niederließ, wo sie sich zusammen mit
einem ihrer Sühne in einem Süßwarenladen abrackerte. Aus ihrer Heimat vertrieben,
nahmen diese Menschen ihre Begabungen, Fertigkeiten und ihre Kultur mir, und bereicherten
damit die Welt.
Felix Nußbaum,
(1904-1944)
Selbstportrait mit 'jüdischem Pass'
Richard Willstätters Geschichte von seinem
Fluchtversuch 1938 aus Nazi-Deutschland:
... Beim Warten auf die amerikanischen
Dokumente und bei den Zweifeln, ob sie überhaupt kämen, verbrauchte sich meine Geduld.
So kam es, daß ich alter Mann eine verhängnisvolle Torheit beging. Ich fuhr an den
Bodensee in eine nahe der Grenze gelegene Stadt, um zu sehen, ob es ginge, ohne Paß und
Gepäck das Land zu verlassen. Es war regnerisch und stürmisch. Stundenlang' lief ich
allein herum, schließlich durchnäßt und müde. Dann wollte ich eine Gaststätte oder
einen Gasthof zum Übernachten aufsuchen, aber ich stieß überall auf das Plakat: 'Juden
ist der Eintritt strengstens verboten.' Darauf machte ich den Versuch, im Ruderboot über
die Grenze zu gelangen. Er schlug fehl. Es gab Verhöre von vielen Stunden. Aber todmüde
bestand ich um Mitternacht die letzte Stunde. Der herbeigeholte hohe Beamte der Geheimen
Staatspolizei wahr gerecht und mehr, einsichtsvoll, menschlich, wohlmeinend. Er hörte und
verstand. Ich wurde festgehalten, nicht verhaftet. Nach zwei Tagen, als die Bestätigung
meinerAngaben eintraf konnte ich das Gefängnis verlassen und frei nach München
zurückkehren.
Nach weiteren zwölf schwierigen Tagen
bekam ich meinen Paß und mit Professor Stalls freundlicher Hilfe das Visum für die
Schweiz. Ich verließ meine geliebte deutsche Heimat, die mir alles gegeben und gewesen,
und fand als Emmmigrant 'toleranza per riposo' zu Muralto-Locarno.
Juden in Deutschland:
Wendepunkt
1938
Wie man den
Monatsblättern des jüdischen Kulturbunds entnehmen kann, markierte das Jahr
1938 einen Wendepunkt für die Juden, die sich noch in Deutschland
befanden...
09./10.November 1938
Überblick: München Weiss-Blau' oder
'Blau-Weiss'
haShoah
hagalil.com 08-11-1996
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