
Diese Vergangenheit nicht zu kennen
heißt,
sich selbst nicht zu begreifen."
Raul Hilberg
Wendepunkt
1938
Wie man den Monatsblättern des
jüdischen Kulturbunds entnehmen kann, markierte das Jahr 1938 einen Wendepunkt für die
Juden, die sich noch in Deutschland befanden, beinahe nur noch die Hälfte der einstigen
Zahl. Die zurückgebliebenen ergriff allmählich eine verzweifelte Stimmung, ausgelöst
von dem langen Warten auf Konsulaten, abschlägigen Bescheiden sogar von Ländern zweiter
oder dritter Wahl und der zunehmenden Brutalität der Nazis.
Veteranen des Ersten Weltkriegs und ihre Kinder waren lange Zeit von den
Maßnahmen verschont geblieben, die sich gegen die allgemeine jüdische Bevölkerung
richteten. Nun verloren auch sie ihren Sonderstatus, als die letzten Juden aus den freien
Berufen vertrieben wurden und ihre Kinder nicht länger öffentliche Schulen besuchen
durften. Firmeninhaber wurden gezwungen, ihre Betriebe zu 'verkaufen', was in der Praxis
bedeutete, daß ihr Besitz beschlagnahmt und 'arisiert' wurde.
Dann zog das Tempo immer mehr an. lmJuli 1938 wurde den Juden
auferlegt, besondere Ausweise bei sich zu tragen; im August wurde verordnet, daß jeder
jüdische Mann in amtlichen Dokumenten zwischen Vor- und Zunamen 'Israel' und jede
jüdische Frau 'Sara' einzutragen hätte. Ab dem 5. Oktober stand in an Juden
ausgegebenen Pässen ein großes, rotes 'J', das unübersehbar aufdie Seite mit den
Personalangaben gestempelt worden war. Und dann, am 28. Oktober, wurden zwischen 14.000
und 18.000 Juden polnischer Staatsangehörigkeit ohne jede Frist ausgewiesen. Diese
Ausweisung, die Juden betraf, die seit Jahrzehnten in Deutschland lebten, wurde mit
äußerster Brutalität ausgeführt. In den frühen Morgenstunden drangen uniformierte
Polizisten in die Wohnungen ein und zwangen die Bewohner, sie unverzüglich zu verlassen.
Manche dieserJuden durften nicht einmal ihre Nachthemden und Schlafanzüge ausziehen.
Zu diesem Zeitpunkt lebten ungefähr 50.000 polnische Juden
in Deutschland, die das Auswärtige Amt unbedingt aus dem Land haben wollte. Als Anfäng
Oktober bei der polnischen Regierung in diesem Sinne sondiert wurde, zeigten sich die
Polen nicht nur desinteressiert, diese Bürger zurückzubekommen, sondern es wurde sogar
eine Verordnung erlassen, die allen polnischen Staatsangehörigen das Betreten des Landes
nach dem 29-10-38 verwehrte, es sei denn, ihre Pässe seien vor dem 29-10-38 eigens
bestätigt worden. Der Tag, den die Nazis für die Ausweisung der polnischen Bürger
gewählt hatten, war zeitlich perfekt ausgesucht, um dieses Dekret zu umgehen.
Ausweisung und Abschiebung polnischer Bürger
An der Grenze verweigerten die Posten, die von den zeitgleich
stattfindenden Verhandlungen im Warschauer Außenministerium nichts wußten, den Juden den
Zugang, und als sie auf die deutsche Seite zurückzukehren versuchten, sahen sie sich von
Maschinengewehren bedroht. 5.000 Menschen hausten wochenlang in einem provisorischen Lager
im Grenzort Zbasyn, bis die jüdischen Gemeinden in Polen intervenieren konnten und für
sie Unterbringungsmöglichkeiten in Warschau und anderswo fanden. Nun schickte Polen
seinerseits im Land lebende deutsche Juden an die polnisch-deutsche Grenze. Schließlich
kam ein Kompromiß zustande: Die Polen erklärten sich bereit, 7000 Juden aus Deutschland
ins Land zu lassen, während die Deutschen zum Ausgleich eine kleine Zahl Juden mit
deutscher Staatsangehörigkeit, die aus Polen an die Grenze geschickt worden waren,
aufnehmen wollten. Den übrigen wurde erlaubt, nach Hause zurückzukehren.
Diese Entwicklung, die blitzartig über die polnischen Juden
in Deutschland hereinbrach, veranlaßte Herschel Grynszpan, einen siebzehnjährigen
Studenten polnisch-jüdischer Herkunft, dessen Eltern von den Deportationen betroffen
waren, zu einem Racheakt am deutschen Botschafter in Paris. An dessen Stelle erschoß er
den Dritten Sekretär, Ernst vom Rath, der zwei Tage später seinen Verletzungen erlag.
Dies wurde zum Anlaß einer neuerlichen Welle nazistischer Gewalttaten gegen Juden.
(Anm.: Lesen Sie hierzu auch
'Neuer Blick auf die
'Reichskristallnacht':
Ungereimtheiten in der
Vorgeschichte und bei den Folgen)
Pogrom
Die Idee, zur Vergeltung jüdisches Eigentum zu zerstören, ging auf Joseph
Goebbels, den Propagandaminister, zurück. Tausende von SS Männern machten die Nacht vom
9. auf den 10.November zu einem Alptraum für die deutschen Juden. Während der
'Reichspogromnacht' oder 'Reichskristallnacht', wie die Nazis sie beschönigend nannten,
wurden 1.200 Synagogen in Brand gesteckt, Thorarollen und Gebetbücher entweiht. Jüdische
Geschäfte wurden systematisch verwüstet, Schaufensterscheiben eingeschlagen, die
Warenbestände entweder vernichtet oder geplündert.
Zugleich wurden 35.000 jüdische Männer zusammengetrieben und in
drei Konzentrationslager, Sachsenhausen, Buchenwald und Dachau, eingeliefert, in denen
dafür schon alles vorbereitet war. Im Verlauf dieser Nacht wurden einundneunzig Juden von
SA-Männern getötet. Mehrere Hundert weitere Opfer starben in den Lagern an
Mißhandlungen und Unterkühlung oder begingen Selbstmord.
Das Entsetzen der jüdischen Gemeinschaft über diese
'Vergeltungsaktion', die mit dem Blick auf die internationale Presse als eine spontane
Erhebung des deutschen Volkes gegen die Juden ausgegeben wurde, fand ein verhalteneres
Echo bei ausländischen Regierungen. Doch die Aktion löste auch eine gewisse Beunruhigung
in den höchsten Rängen der NSDAP aus. Einige Würdenträger äußerten Kritik an dem
Pogrom mit der Begründung, daß es die ohnehin schon angeschlagene Reputation
Deutschlands in der Welt weiter diskreditiere. Um sich aus der Affäre zu ziehen, setzte
Goebbels noch eins drauf. Er schlug vor, den Juden für den Tod vom Raths eine 'Geldbuße'
von einer Milliarde Reichsmark aufzuerlegen. Dazu kamen noch 250 Millionen für die
Reparaturarbeiten an Straßen, Laternenpfosten und Schaufenstern, was den
Versicherungsgesellschaften ersparte, für die Schäden aufzukommen, und für die Juden
eine weitere Demütigung bedeutete.
Dieses organisierte Pogrom, gefolgt von Erpressung, löste
bei den 250.000 in Deutschland verbliebenen Juden und den 150.000 in Österreich - das am
13. März 1938 widerstandslos den 'Anschluß' hingenommen hatte - begreiflicherweise
höchste Besorgnis aus. Jeden Tag bildeten sich vor den zionistischen Büros in Berlin und
Wien Menschentrauben aus Juden, die im Ausland Zuflucht zu finden hofften. Viele müssen
gedacht haben wie Betty Scholem, die schrieb: 'Immer mehr zeigt sich, wie falsch es war,
33 noch hierzubleiben.'
Evian-naivE:
Emigration
wohin?
Eines der
entmutigendsten Ereignisse des Jahres 1938 war die Konferenz, die vom 6. bis zum 15.Juli im
französischen Kurort Evian-les-Bains tagte...
Felix Nußbaum,
(1904-1944), Selbstportrait mit 'jüdischem Pass'

Ruth Gay
Geschichte der Juden in Deutschland
Von der Römerzeit bis zum Zweiten Weltkrieg
1993. 280 Seiten mit 274 einfarbigen Abbildungen
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ISBN 3-406-376037 /
C.H.Beck
hagalil.com 08-11-1996
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