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Bericht 2777
aus: Die Juden in den geheimen NS-Stimmungsberichten 1933-1945

Dokumente zu einem unfasslichen Kapitel
deutscher Geschichte

SD-Oberabschnitt West II 112 / Bericht für 1938
Düsseldorf, o.D. [1938] / FfZ; 939121

Die Lage des Judentums im Jahre 1938 ist durch einen katastrophalen Niedergang auf allen Gebieten und allen bisher bestandenen Einflußsphären gekennzeichnet.

Zu Beginn des Berichtsjahres übten die Juden in fast allen Berufen ihre Tätigkeit ungestört aus, die ihnen im Wirtschaftsleben sogar einen nicht unerheblichen Anteil an dem wirtschaftlichen Aufschwung sicherten. Die Entjudung der Wirtschaft erstreckte sich zunächst auf die Entziehung der Wandergewerbescheine und auf einen Teil der Großwarenhäuser (1), bei deren *Arisierung die Juden teilweise außerordentlich gut abschnitten. Die Rückgliederung Österreichs in das Deutsche Reich und die gleichzeitig folgenden einschneidenden Bestimmungen im Zuge der Bereinigung der österreichischen Wirtschaft vom jüdischen Einfluß verursachten eine wirksame Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben. Die danach stark einsetzenden Arisierungen jüdischer Geschäfte zeigten jüdischerseits nur in wenigen Fällen Spekulationsabsichten, was im wesentlichen auf die Erlasse des Beauftragten für den Vierjahresplan (2) zurückzuführen ist. Bis Oktober vergangenen Jahres war eine schnell und sicher fortschreitende Abwärtsentwicklung des noch im Wirtschaftsleben vorhandenen jüdischen Einflusses zu erkennen. Nach der Aktion gegen die Juden vom 9. und 10.11.1938 (3) wurde dieser normale Weg verlassen, da die danach erfolgten Arisierungen als Zwangsverkäufe anzusehen sind.
Schon zu Beginn des Jahres steigerte sich der Auswanderungswille auch der älteren Juden im Gegensatz zu den Vorjahren, in denen sich nur junge Juden freiwillig zur *Auswanderung meldeten, da sie die Sorgen um den zukünftigen Beruf ins Ausland trieb. So stiegen z.B. die Ziffern der tatsächlich ausgewanderten Juden im Bereich des UA Minden-Lippe bis um das Vierfache gegenüber den gleichen Monaten des Vorjahres. Nach der Eingliederung Österreichs nahm dann die Auswanderung infolge der scharfen staatlichen Erlasse einen noch größeren Umfang an. Unwesentlich für die Juden wurde schon in diesen Monaten die Art der Auswanderung. Von Bedeutung allein waren die Schwierigkeiten bei der Einwanderung in andere Länder, die deshalb häufig illegal erfolgte, was wiederum die hier angrenzenden Nachbarländer zu Gegenmaßnahmen veranlaßte. Infolgedessen gingen die Auswanderungsziffern in den Monaten August/September wesentlich zurück. Die dann einsetzende deprimierte Stimmung wurde durch den Fehlschlag der Konferenz von *Evian noch erhöht. So brachte die Aktion gegen die Juden im November eine verzweifelte Lage, insbesondere hinsichtlich der Einwanderungsmöglichkeiten in andere Länder. Wie sich die Ansichten bezüglich der Auswanderung innerhalb des Judentums änderten, zeigt z.B. die Auswanderungsziffer der Stadt Köln. Diese betrug im ersten Halbjahr 1938 etwa 350 Personen und im zweiten Halbjahr über 1.000. Das ganze Sinnen und Trachten der Juden, selbst der eingefleischtesten *Assimilanten steht heute nur noch darauf, möglichst schnell und unter allen Umständen Deutschland zu verlassen. Teilweise haben Juden staatlichen Stellen ihren gesamten Grundbesitz unter der Bedingung angeboten, daß dadurch die notwendigen Formalitäten zu ihrer sofortigen Auswanderung aufs schnellste geregelt würden.
Die Ausweisung der polnischen Juden4 erregte durch die unvermutete Zwangsmaßnahmen beträchtliches Aufsehen, insbesondere in den Kreisen der im hiesigen Bereich lebenden ausländischen Juden, die in der Ausweisung den Beginn eines allgemeinen Vorgehens gegen ausländische Juden erblickten.5 Man vertrat den Standpunkt, daß die Ausweisung ein Versuchsballon der deutschen Regierung sein sollte, um festzustellen, ob und wie das Ausland zu diesen Vorgängen Stellung nehmen würde. Im hiesigen Oberabschnittsgebiet wurden ungefähr 3.000 Juden entfernt und abtransportiert.
Die Ereignisse des 9. und 10. Novembers 1938 wurden nur in den größeren Städten des hiesigen Bereiches von breiteren Volksmassen getragen. In den kleineren Städten und vor allen Dingen auf dem flachen Land beteiligte sich die Bevölkerung nicht. Doch wurde die Aktion im allgemeinen wenigstens im Anfang mit der Befriedigung aufgenommen. Der zuverlässige Teil der Bevölkerung billigte durchaus die von Ministerpräsidenten *Göring gegen die Juden getroffenen Anordnungen. Es wurde dabei betont, daß die Aktion zweifellos eine Grundlage für die restlose Lösung der *Judenfrage in Deutschland um einen gewissen Schritt vorwärts gebracht habe. Mit der Art der Durchführung der Aktion war man jedoch in den meisten Kreisen nicht einverstanden. Stark ablehnend verhielt sich der überwiegend konfessionell gebundene Bevölkerungsteil. Priester beider Konfessionen nutzten die Protestaktion zu Angriffen auf den Nationalsozialismus aus.6 Die zerstörten *Synagogen wurden als geschändete ''Gotteshäuser'' bezeichnet, als was sie früher nie anerkannt wurden. Man benannte die Aktion offen eine Kulturschande und Glaubensverfolgung. Vermutungen wurden laut, man habe jetzt mit der Verbrennung von Gotteshäusern angefangen, das gleiche können auch in kürzester Zeit mit den christlichen Kirchen geschehen. Von der Kanzel wurde verkündet, daß in den Orten, in denen die Synagogen zerstört worden seien, nie mehr Friede und Glück einziehen werde. Als Ausdruck dieser Haltung fanden in verschiedenen Orten Protestkundgebungen gegen die Judenaktionen statt. So tätigte z.B. in Vreden der größte Teil der Bevölkerung am Tage nach der Judenaktion ostentativ seine Einkäufe in den noch einigermaßen ganz gebliebenen jüdischen Geschäften. Ortsgruppenleitern, die man für die Aktion verantwortlich machte, wurden in anderen Orten die Fenster eingeworfen. Eintopfspenden und Pfundsammlungen der NSV lehnte man unter Hinweis auf die Judenaktion ab. Im Ruhrgebiet wurden Flugblätter verteilt, die die Aufforderung enthielten, diejenigen Parteiführer und staatlichen Beamten, die den Protestaktionen und Zerstörungen tatenlos zugesehen hätten, zu erschießen. Im Regierungsbezirk Aachen sind Flugblätter erfaßt worden, die feststellten, daß 99% der Bevölkerung mit diesen ''Schandtaten'' nichts zu tun haben wollten. Ein anderes Flugblatt, das im gleichen Regierungsbezirk sichergestellt wurde, verwies im Zusammenhang mit den Zerstörungen der Synagogen auf den Reichstagsbrand.

Große Mißstimmung entstand unter der Bevölkerung durch das Bekanntwerden von Kundenkreditlisten jüdischer Geschäfte. In diesen Listen fanden sich sehr viele Parteigenossen und Beamte als Kreditinhaber. Diese Tatsache wurde in weitem Maße zu hetzerischen Redensarten gegen die NSDAP ausgeschlachtet.
Äußerst ungünstig wirkte sich die Judenaktion nach Aussagen von deutschen Geschäftsleuten im benachbarten holländischen Grenzgebiet aus. Die deutschfeindliche Stimmung des größten Teils der Bevölkerung war dort so stark, daß Deutsche, die aus geschäftlichen Gründen sich in Holland zu dieser Zeit aufhielten, aus Furcht vor tätlichen Bedrohungen ihre Tätigkeit unterbrechen mußten. Eine Sammelaktion zugunsten jüdischer Flüchtlinge fand großen Anklang. Allein in Enschede/Holland brachte die Sammlung etwa 100.000 Gulden ein. Auch innerhalb der deutsch-niederländischen Gesellschaft kam es anläßlich der Aktionen zu scharfen Protesten, die zur Folge hatten, daß eine Reihe namhafter Holländer aus der Vereinigung austraten. Der schwedische Studentenverein in Drontheim sandte an die deutsche Studentenschaft in Münster eine Entschließung, in der die Behandlung der deutschen Juden als unwürdig einer Kulturnation abgelehnt wird und die Studenten von Münster gebeten werden, gegen diese Tendenzen in Deutschland anzukämpfen.
Als Einzelfall ist noch interessant, daß ein Jude Hirsch-Dunker, der neben vielen anderen nach Holland zu flüchten versuchte, am Grenzübergang in einen Kraftwagen angehalten wurde. Man fand bei ihm einen Reisepaß und ein persönliches Schreiben des Prinzen Joachim Albrecht von Preußen, das ihn ermächtigte, den Kraftwagen des Prinzen zur Fahrt nach Holland zu benutzen.
Durch die Protestaktion und die Festnahmen der führenden jüdischen Persönlichkeiten wurde die Tätigkeit der jüdischen Organisationen und Vereine, die zu Beginn des Berichtsjahres teilweise sehr rege waren, nach und nach aber durch die äußeren Umstände immer mehr abfielen, für den Rest des Berichtsjahres völlig lahmgelegt. Irgendwelche Interessen für ein jüdisches Eigenleben liegen nicht mehr vor, da die Juden ihre ganze Tätigkeit auf das Auswandererproblem legen. Das außerfamiliäre Leben der Juden spielt sich deshalb in den Auswandererberatungsstellen ab.
Naturgemäß wurde durch die Aktion vom 9. November auch die Wohlfahrtseinrichtung der Juden in Mitleidenschaft gezogen. Die nur notdürftig wieder aufgenommene Tätigkeit der jüdischen *Winterhilfe verschlechtert sich zusehends, da die Spenden der besitzenden Juden spärlich ausfallen, wogegen die Zahl der Unterstützungsempfänger in gleicher Weise ansteigt. So ist z.B. die Zahl der zu unterstützenden Juden in Dortmund im Berichtsjahr um 30% gestiegen, die Einkünfte dagegen erreichten den vorjährigen Stand nicht.

1. Vgl. *Warenhäuser.
2. Vgl. Zeittafel, August 1936 und *Schacht, Hjalmar.
3. Vgl. *Kristallnacht.
4. Vgl. Zeittafel, 27.-29. Oktober 1938.
5. Vgl. *Diskriminierung von Juden nicht-deutscher Staatsangehörigkeit.
6. Vgl. *Kirchen und NS-Judenpolitik.


*) Bezogen auf weitere Angaben in:
Otto Dov Kulka und Eberhard Jäckel
Die Juden in den geheimen NS-Stimmungsberichten 1933-1945

Dokumente zu einem unfasslichen Kapitel deutscher Geschichte
Band 62, Droste-Verlag, Düsseldorf 2004

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Bilder aus der Dokumentation Spuren und Fragmente: Jüdische Bücher, jüdische Schicksale in Nürnberg und aus Die Juden in den geheimen NS-Stimmungsberichten 1933-1945.

hagalil.com 06-06-2004

 

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