SD-Oberabschnitt West II 112 / Bericht
für 1938
Düsseldorf, o.D. [1938] / FfZ; 939121
Die Lage des Judentums im Jahre 1938 ist durch einen katastrophalen
Niedergang auf allen Gebieten und allen bisher bestandenen Einflußsphären
gekennzeichnet.
Zu Beginn des Berichtsjahres übten die Juden in fast allen Berufen ihre
Tätigkeit ungestört aus, die ihnen im Wirtschaftsleben sogar einen nicht
unerheblichen Anteil an dem wirtschaftlichen Aufschwung sicherten. Die Entjudung
der Wirtschaft erstreckte sich zunächst auf die Entziehung der
Wandergewerbescheine und auf einen Teil der Großwarenhäuser (1), bei deren
*Arisierung die Juden teilweise außerordentlich gut abschnitten. Die
Rückgliederung Österreichs in das Deutsche Reich und die gleichzeitig folgenden
einschneidenden Bestimmungen im Zuge der Bereinigung der österreichischen
Wirtschaft vom jüdischen Einfluß verursachten eine wirksame Ausschaltung der
Juden aus dem Wirtschaftsleben. Die danach stark einsetzenden Arisierungen
jüdischer Geschäfte zeigten jüdischerseits nur in wenigen Fällen
Spekulationsabsichten, was im wesentlichen auf die Erlasse des Beauftragten für
den Vierjahresplan (2) zurückzuführen ist. Bis Oktober vergangenen Jahres war eine
schnell und sicher fortschreitende Abwärtsentwicklung des noch im
Wirtschaftsleben vorhandenen jüdischen Einflusses zu erkennen. Nach der Aktion
gegen die Juden vom 9. und 10.11.1938
(3) wurde dieser normale Weg verlassen, da
die danach erfolgten Arisierungen als Zwangsverkäufe anzusehen sind.
Schon zu Beginn des Jahres steigerte sich der Auswanderungswille auch der
älteren Juden im Gegensatz zu den Vorjahren, in denen sich nur junge Juden
freiwillig zur *Auswanderung meldeten, da sie die Sorgen um den zukünftigen
Beruf ins Ausland trieb. So stiegen z.B. die Ziffern der tatsächlich
ausgewanderten Juden im Bereich des UA Minden-Lippe bis um das Vierfache
gegenüber den gleichen Monaten des Vorjahres. Nach der Eingliederung Österreichs
nahm dann die Auswanderung infolge der scharfen staatlichen Erlasse einen noch
größeren Umfang an. Unwesentlich für die Juden wurde schon in diesen Monaten die
Art der Auswanderung. Von Bedeutung allein waren die Schwierigkeiten bei der
Einwanderung in andere Länder, die deshalb häufig illegal erfolgte, was wiederum
die hier angrenzenden Nachbarländer zu Gegenmaßnahmen veranlaßte. Infolgedessen
gingen die Auswanderungsziffern in den Monaten August/September wesentlich
zurück. Die dann einsetzende deprimierte Stimmung wurde durch den Fehlschlag der
Konferenz von *Evian noch erhöht. So brachte die Aktion gegen die Juden im
November eine verzweifelte Lage, insbesondere hinsichtlich der
Einwanderungsmöglichkeiten in andere Länder. Wie sich die Ansichten bezüglich
der Auswanderung innerhalb des Judentums änderten, zeigt z.B. die
Auswanderungsziffer der Stadt Köln. Diese betrug im ersten Halbjahr 1938 etwa
350 Personen und im zweiten Halbjahr über 1.000. Das ganze Sinnen und Trachten
der Juden, selbst der eingefleischtesten *Assimilanten steht heute nur noch
darauf, möglichst schnell und unter allen Umständen Deutschland zu verlassen.
Teilweise haben Juden staatlichen Stellen ihren gesamten Grundbesitz unter der
Bedingung angeboten, daß dadurch die notwendigen Formalitäten zu ihrer
sofortigen Auswanderung aufs schnellste geregelt würden.
Die Ausweisung der polnischen Juden4 erregte durch die unvermutete
Zwangsmaßnahmen beträchtliches Aufsehen, insbesondere in den Kreisen der im
hiesigen Bereich lebenden ausländischen Juden, die in der Ausweisung den Beginn
eines allgemeinen Vorgehens gegen ausländische Juden erblickten.5 Man vertrat
den Standpunkt, daß die Ausweisung ein Versuchsballon der deutschen Regierung
sein sollte, um festzustellen, ob und wie das Ausland zu diesen Vorgängen
Stellung nehmen würde. Im hiesigen Oberabschnittsgebiet wurden ungefähr 3.000
Juden entfernt und abtransportiert.
Die Ereignisse des 9. und 10. Novembers 1938 wurden nur in den größeren Städten
des hiesigen Bereiches von breiteren Volksmassen getragen. In den kleineren
Städten und vor allen Dingen auf dem flachen Land beteiligte sich die
Bevölkerung nicht. Doch wurde die Aktion im allgemeinen wenigstens im Anfang mit
der Befriedigung aufgenommen. Der zuverlässige Teil der Bevölkerung billigte
durchaus die von Ministerpräsidenten *Göring gegen die Juden getroffenen
Anordnungen. Es wurde dabei betont, daß die Aktion zweifellos eine Grundlage für
die restlose Lösung der *Judenfrage in Deutschland um einen gewissen Schritt
vorwärts gebracht habe. Mit der Art der Durchführung der Aktion war man jedoch
in den meisten Kreisen nicht einverstanden. Stark ablehnend verhielt sich der
überwiegend konfessionell gebundene Bevölkerungsteil. Priester beider
Konfessionen nutzten die Protestaktion zu Angriffen auf den Nationalsozialismus
aus.6 Die zerstörten *Synagogen wurden als geschändete ''Gotteshäuser''
bezeichnet, als was sie früher nie anerkannt wurden. Man benannte die Aktion
offen eine Kulturschande und Glaubensverfolgung. Vermutungen wurden laut, man
habe jetzt mit der Verbrennung von Gotteshäusern angefangen, das gleiche können
auch in kürzester Zeit mit den christlichen Kirchen geschehen. Von der Kanzel
wurde verkündet, daß in den Orten, in denen die Synagogen zerstört worden seien,
nie mehr Friede und Glück einziehen werde. Als Ausdruck dieser Haltung fanden in
verschiedenen Orten Protestkundgebungen gegen die Judenaktionen statt. So
tätigte z.B. in Vreden der größte Teil der Bevölkerung am Tage nach der
Judenaktion ostentativ seine Einkäufe in den noch einigermaßen ganz gebliebenen
jüdischen Geschäften. Ortsgruppenleitern, die man für die Aktion verantwortlich
machte, wurden in anderen Orten die Fenster eingeworfen. Eintopfspenden und
Pfundsammlungen der NSV lehnte man unter Hinweis auf die Judenaktion ab. Im
Ruhrgebiet wurden Flugblätter verteilt, die die Aufforderung enthielten,
diejenigen Parteiführer und staatlichen Beamten, die den Protestaktionen und
Zerstörungen tatenlos zugesehen hätten, zu erschießen. Im Regierungsbezirk
Aachen sind Flugblätter erfaßt worden, die feststellten, daß 99% der Bevölkerung
mit diesen ''Schandtaten'' nichts zu tun haben wollten. Ein anderes Flugblatt,
das im gleichen Regierungsbezirk sichergestellt wurde, verwies im Zusammenhang
mit den Zerstörungen der Synagogen auf den Reichstagsbrand.
Große Mißstimmung entstand unter der Bevölkerung durch das Bekanntwerden von
Kundenkreditlisten jüdischer Geschäfte. In diesen Listen fanden sich sehr viele
Parteigenossen und Beamte als Kreditinhaber. Diese Tatsache wurde in weitem Maße
zu hetzerischen Redensarten gegen die NSDAP ausgeschlachtet.
Äußerst ungünstig wirkte sich die Judenaktion nach Aussagen von deutschen
Geschäftsleuten im benachbarten holländischen Grenzgebiet aus. Die
deutschfeindliche Stimmung des größten Teils der Bevölkerung war dort so stark,
daß Deutsche, die aus geschäftlichen Gründen sich in Holland zu dieser Zeit
aufhielten, aus Furcht vor tätlichen Bedrohungen ihre Tätigkeit unterbrechen
mußten. Eine Sammelaktion zugunsten jüdischer Flüchtlinge fand großen Anklang.
Allein in Enschede/Holland brachte die Sammlung etwa 100.000 Gulden ein. Auch
innerhalb der deutsch-niederländischen Gesellschaft kam es anläßlich der
Aktionen zu scharfen Protesten, die zur Folge hatten, daß eine Reihe namhafter
Holländer aus der Vereinigung austraten. Der schwedische Studentenverein in
Drontheim sandte an die deutsche Studentenschaft in Münster eine Entschließung,
in der die Behandlung der deutschen Juden als unwürdig einer Kulturnation
abgelehnt wird und die Studenten von Münster gebeten werden, gegen diese
Tendenzen in Deutschland anzukämpfen.
Als Einzelfall ist noch interessant, daß ein Jude Hirsch-Dunker, der neben
vielen anderen nach Holland zu flüchten versuchte, am Grenzübergang in einen
Kraftwagen angehalten wurde. Man fand bei ihm einen Reisepaß und ein
persönliches Schreiben des Prinzen Joachim Albrecht von Preußen, das ihn
ermächtigte, den Kraftwagen des Prinzen zur Fahrt nach Holland zu benutzen.
Durch die Protestaktion und die Festnahmen der führenden jüdischen
Persönlichkeiten wurde die Tätigkeit der jüdischen Organisationen und Vereine,
die zu Beginn des Berichtsjahres teilweise sehr rege waren, nach und nach aber
durch die äußeren Umstände immer mehr abfielen, für den Rest des Berichtsjahres
völlig lahmgelegt. Irgendwelche Interessen für ein jüdisches Eigenleben liegen
nicht mehr vor, da die Juden ihre ganze Tätigkeit auf das Auswandererproblem
legen. Das außerfamiliäre Leben der Juden spielt sich deshalb in den
Auswandererberatungsstellen ab.
Naturgemäß wurde durch die Aktion vom 9. November auch die Wohlfahrtseinrichtung
der Juden in Mitleidenschaft gezogen. Die nur notdürftig wieder aufgenommene
Tätigkeit der jüdischen *Winterhilfe verschlechtert sich zusehends, da die
Spenden der besitzenden Juden spärlich ausfallen, wogegen die Zahl der
Unterstützungsempfänger in gleicher Weise ansteigt. So ist z.B. die Zahl der zu
unterstützenden Juden in Dortmund im Berichtsjahr um 30% gestiegen, die
Einkünfte dagegen erreichten den vorjährigen Stand nicht.
1. Vgl. *Warenhäuser.
2. Vgl. Zeittafel, August 1936 und *Schacht, Hjalmar.
3. Vgl. *Kristallnacht.
4. Vgl. Zeittafel, 27.-29. Oktober 1938.
5. Vgl. *Diskriminierung von Juden nicht-deutscher Staatsangehörigkeit.
6. Vgl. *Kirchen und NS-Judenpolitik.

*) Bezogen auf weitere Angaben in:
Otto Dov Kulka und Eberhard Jäckel
Die
Juden in den geheimen NS-Stimmungsberichten 1933-1945
Dokumente zu einem unfasslichen Kapitel deutscher Geschichte
Band 62, Droste-Verlag, Düsseldorf 2004
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Bilder aus der Dokumentation
Spuren und
Fragmente: Jüdische Bücher, jüdische Schicksale in Nürnberg und aus
Die
Juden in den geheimen NS-Stimmungsberichten 1933-1945.
hagalil.com 06-06-2004
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