
Auszug aus dem historischen Glossar zur Dokumentation Die
Juden in den geheimen NS-Stimmungsberichten 1933-1945. Dieses bietet
in knapper, lexikalischer Form Hintergrundinformationen zu in den Dokumenten
(Bsp.: <2777 und
2550> wiederkehrenden Personen,
Organisationen und Begriffen, vorwiegend aus dem jüdischen Bereich. Es
konzentriert sich auf die für das Thema und seinen Zeitraum spezifischen
Aspekte, welche in bereits bestehenden Nachschlagewerken häufig fehlen.
Kristallnacht
(Reichskristallnacht, Novemberpogrom, in NS-Berichten meist:
Judenaktion)
Offensichtlich von Hitler angeregter (vgl. Bibl.: Kley) und von *Goebbels
angeblich als Vergeltung für das *Grynszpan -Attentat ausgelöster, von der NSDAP
inszenierter und von *SS, *SA, *HJ und anderen Parteiorganisationen
ausgeführter reichsweiter Pogrom in der Nacht vom 9./10. November 1938, an dem
sich z.T. auch die Bevölkerung beteiligte (vgl. z.B. regional <2777> und
reichsweit <2550>).
Die verharmlosende Bezeichnung der Zeitgenossen ''Kristallnacht'' bezieht
sich auf die überall verstreuten Glasscherben vor den zerstörten Wohnungen,
Läden und Büros, *Synagogen und öffentlichen jüdischen Einrichtungen
(siehe auch: Schändung religiöser Symbole).
Während der Kristallnacht wurden Juden überall gedemütigt, misshandelt und in
mehreren Fällen getötet; von den im Zuge der Massenverhaftungen festgenommenen
jüdischen Männern wurden über 30.000 in *Konzentrationslager gebracht. Im
Anschluss an die Kristallnacht wurden fast alle jüdischen Organisationen
aufgelöst und die jüdische *Presse verboten. Obwohl der Novemberpogrom
schlagartig in der Nacht vom 9./10. November entfesselt wurde, zeichnete er sich
bereits in den vorangegangenen Monaten in zahlreichen ''Aktionen gegen die
jüdische Bevölkerung, die ... teilweise pogromartigen Charakter annahmen'' ab
(vgl. <2529> sowie *Einzelaktionen).
Wie aus vielen NS-Berichten, vor allem auf lokaler Ebene, hervorgeht, erinnerte
sich die deutsche Bevölkerung auch später, in den Kriegsjahren, immer wieder an
die Ereignisse der Kristallnacht, die durchaus mit Schuldgefühlen besetzt waren.
Im Kollektivbewusstsein der deutschen Juden und in deren Erinnerung war sie das
einschneidende Ereignis und - noch vor dem Beginn der *Endlösung - das Ende der
Geschichte der Juden in Deutschland (vgl. Kulka, Deutsches Judentum I, Nr. 119).
Bibl.: ''Reichskristallnacht'' in EH II , S. 1205 ff.; Kley, Hitler and the
Pogrom of November 9-10, 1935 ; Wildt, Violence against Jews in Germany
1933-1939.
Schändung religiöser Symbole
Während das NS-Regime es bei seiner antisemitischen Verfolgung nicht auf das
religiöse Leben der Juden abgesehen hatte (*Rassengesetzgebung vs. religiöse
Zugehörigkeit), wandte sich ein Großteil der *Einzelaktionen gegen die
sichtbaren religiösen Symbole der Juden, wie *Synagogen und *Friedhöfe (vgl.
*Friedhofs-schändungen).
Ebenso nahm ein Teil der antisemitischen Hetze
traditionelle christliche Vorstellungen über die religiöse Praxis der Juden auf
(*Ritualmordbeschuldigungen).
Die grundsätzlich säkuläre, politisch motivierte rassistische Judenverfolgung
des Nationalsozialismus wäre paradoxerweise ohne diese Komponente des
traditionellen christlichen Judenhasses wohl unmöglich, die *''Endlösung der
Judenfrage'' aber unter christlicher Herrschaft kaum denkbar gewesen.
Synagoge
Jüdisches Lehr- und Gebetshaus; hier konzentriert sich das gesamte Gemeindeleben
(*Synagogengemeinde). Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung waren
die Synagogen meist nicht nur Gebetshäuser, sondern Zentren des öffentlichen
jüdischen Lebens (*Vereinsleben, jüdisches), insbesondere auf dem Gebiet der
Kultur und der jüdischen *Erwachsenenbildung.
Während der *Kristallnacht wurden fast alle Synagogen in Deutschland und den
angeschlossenen Gebieten Österreich und Sudetenland in Brand gesteckt oder auf
andere Weise zerstört, geschändet oder verwüstet.
Friedhofsschändungen
Eine der charakteristischen Erscheinungen des antijüdischen Terrors; schon in
der Weimarer Republik gab es zahlreiche Friedhofs- und Synagogenschändungen.
Unter dem NS-Regime gehörten, wie aus den Lageberichten hervorgeht,
Friedhofsschändungen zu den dauernd wiederkehrenden *Einzelaktionen gegen Juden
in allen Teilen des Reiches, an denen sich oft auch Kinder und Jugendliche
beteiligten. Dabei spielte es keine Rolle, ob die Friedhöfe noch benutzt wurden
und ob überhaupt Juden am Ort lebten. Bibl.: Centralverein,
Friedhofsschändungen; Walter, Antisemitische Kriminalität und Gewalt in der
Weimarer Republik; Borut, Antisemitism in Tourist Facilities in Weimar Germany.

Vereinsleben, jüdisches
Im deutschen Judentum gab es eine Vielfalt von religiösen, wohltätigen und
politischen Vereinigungen mit teilweise traditionellem, meist aber modernem
Charakter, sowie zahlreiche *Jugendorganisationen und *Sportvereine . Im
Gegensatz zur Gleichschaltung des öffentlichen und kulturellen Lebens innerhalb
der ''deutschen Volksgemeinschaft'' durch das NS-Regime ermöglichte die
rassistische Ausgrenzungspolitik gegenüber den Juden paradoxerweise das
Weiterbestehen des vielfältigen jüdischen Vereinslebens; in der NS-Zeit kamen
sogar noch neue Vereine hinzu, wie die *Reichsvertretung der deutschen Juden und
der *Kulturbund . Nach der Machtergreifung rückte das Vereinsleben ins Zentrum
der jüdischen Gesellschaft. Die Organisationen intensivierten ihre Arbeit,
erweiterten die *Wohlfahrtspflege , das *Schulwesen und die *Erwachsenenbildung
und wandten sich neuen Tätigkeitsfeldern wie *Umschichtung und *Auswanderung zu,
um der neuen Situation und den neuen Bedürfnissen der Juden in Deutschland
gerecht zu werden. Im Rahmen dieser relativen ''Freiheit'' der Verbannten konnte
das deutsche Judentum seine bisherige pluralistische Struktur weitgehend
beibehalten und trotz Schwerpunktverschiebung die ideologischen und religiösen
Kontroversen (z.B. zwischen *Orthodoxie und *Liberalem Judentum , zwischen *Assimilanten
und *Zionisten) weiter austragen. Diese Aktivitäten wurden vom Regime, vor
allem durch *Gestapo und *SD , dauernd überwacht. Die *Überwachungsorgane
beschränkten *deutsch-jüdische Gruppen, welche die Juden zum Verbleiben in
Deutschland ermutigten, und förderten alles, was die *Auswanderung der Juden
beschleunigte, besonders die Arbeit der Zionisten. Vor allem in den ersten
Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft kam es wiederholt zu
Betätigungsverboten für jüdische Vereine und Organisationen. Diese Verbote
beschränkten sich teilweise auf spezifische Vereine (z.B. Sportvereine) und
einen begrenzten regionalen Kreis. Sie wurden im allgemeinen von einer
übergeordneten Instanz wieder aufgehoben. Bis November 1938 wurden nur in
einzelnen Fällen jüdische Vereinigungen aufgelöst und verboten, wie 1935 der
*Verband nationaldeutscher Juden und die *Staatszionistische Organisation im
August 1938. Nach der *Kristallnacht wurden die meisten Vereine und
Organisationen aufgelöst, einige wurden Anfang 1939 in die bis Juli 1943
bestehende *Reichsvereinigung integriert, der Kulturbund arbeitete bis September
1941 eigenständig weiter.
Die NS-Berichte geben ein detailliertes Bild des jüdischen Vereinslebens in den
Jahren 1934 bis 1936 auf lokaler Ebene, landesweit vor allem in den SD-Berichten
von 1937 bis Anfang 1939. In den Berichten aus den Kriegsjahren werden die
jüdischen Organisationen nur noch sporadisch erwähnt. Dies nicht nur, weil sie
inzwischen stark dezimiert waren, sondern v.a. wegen des unterschiedlichen
Aufbaus der Berichte, die nun nicht mehr gesondert über Juden berichteten.
Bibl.:
FJGV 1932/33; Kulka, Deutsche Geschichtsschreibung, S. 635-640; Margaliot,
Dispute over the Leadership of German Jewry; Paucker, Juden im
nationalsozialistischen Deutschland; Mommsen, Der nationalsozialistische
Polizeistaat ;Benz, Juden; Meyer M., Jewish Political Leadership in Nazi
Germany.
Grynszpan, Herschel (1921-?)
Geboren in Hannover als Sohn einer jüdischen Familie, die 1911 aus Polen nach
Deutschland immigriert war. Grynszpan war bei Verwandten in Paris, als ihn die
Nachricht über die Abschiebung von ca. 15-17.000 Juden polnischer
Staatsangehörigkeit (vgl. Zeittafel, 27.-29. Oktober 1938 ; sowie *Deportation), darunter seine Familie, aus Deutschland nach Polen erreichte.
Grynszpan
beabsichtigte offensichtlich, den deutschen Botschafter in Paris am 7. November
1938 in einer demonstrativen Protestaktion zu erschießen, tötete jedoch den
Legationsrat vom Rath.
Das NS-Regime nutzte den Anschlag als Vorwand für den
*Kristallnachtpogrom . Grynszpan wurde 1940 von Frankreich an Deutschland
ausgeliefert und im *Konzentrationslager Sachsenhausen, später in Berlin-Moabit
inhaftiert; er gilt seit 1942 als verschollen.
Bibl. in.: Heiber, Der Fall
Grünspan; Kaul, Der Fall Herschel Grynszpan.
Midrasch
Bezeichnung für die rabbinische Auslegung der Bibel (*Tora , schriftliche Lehre)
seit dem dritten Jahrhundert bis ins Mittelalter. Viele Midraschim geben in Art
und Inhalt der Exegese Aufschluß über die Zeit, in der sie verfaßt wurden. Die
alte Form des Midrasch diente auch in späteren Zeiten der verschlüsselten,
subversiven Kritik an den jeweils gegenwärtigen Umständen, unter anderem an
judenfeindlicher Herrschaft.
Auch im Dritten Reich wurden in Predigten, Vorträgen und der Jüdischen *Presse
historische Ereignisse der jüdischen Geschichte und die mit Not, Verfolgung und
deren Überwindung verbundenen Feiertage auf die aktuelle Situation der
Judenverfolgung in Deutschland bezogen; so etwa die Knechtschaft in Ägypten (*Pessach), die Bedrohung und Errettung der Juden in der persischen Diaspora (*Purim),
die Religionsverfolgungen in der hellenistischen und römischen Zeit (*Chanukka
oder der Gedenktag zur Zerstörung des Tempels in Jerusalem nach dem großen
Aufstand gegen die römische Herrschaft). Eine andere Form des ''geistigen
Widerstandes'', die der Zensur meist entging, war die verschlüsselte
Aktualisierung von traditionellen Texten, die für jüdische Leser aber leicht zu
erkennen war und das jüdische Selbstbewußtsein stärkte (vgl. das Kapitel ''Der
neue Midrasch'' und die Definition des Begriffes ''geistiger Widerstand'' bei
Simon, Aufbau im Untergang, 76-91). In diesem Geist wurden auch zahlreiche
Botschaften der *Reichsvertretung der Juden in Deutschland , etwa zu *Jom Kippur
1935 (vgl. Kulka, Deutsches Judentum I, Nr. 73 und 79) und zum Jüdischen
*Neujahrsfest im September 1938 (vgl. *Jüdische Rundschau vom 30.9.1938; <2509>) verfaßt.
Pessach
Eines der drei jüdischen Wallfahrtsfeste; es fällt etwa in die Osterzeit und
erinnert an die Befreiung aus der ägyptischen Knechtschaft. Am ersten Abend wird
bei der Feier im Familienkreis die Erzählung (Haggada) des Auszuges aus Ägypten
mit verschiedenen traditionellen Überlieferungen gelesen. In der Pessach-Woche
werden Matzen gegessen, da der Genuß von gesäuertem Brot in dieser Zeit verboten
ist. Seit dem Mittelalter wurden die Juden immer wieder beschuldigt, für das
Backen der Matzen Christenblut zu verwenden (*Ritualmord). Diese
Anschuldigungen wurden noch bis ins 20. Jahrhundert erhoben und auch von der
antisemitischen NS-Propaganda, vor allem vom *Stürmer , wieder aufgenommen.
Ritualmord
Der Vorwurf der Verwendung von Christenblut für rituelle Handlungen wurde
erstmals im 12. Jahrhundert gegen Juden erhoben. Ungeklärte Mordfälle, besonders
an Kindern und kurz vor *Pessach , wurden vielfach als Ritualmorde proklamiert
und führten zu grausamen Judenverfolgungen. Die sogenannte Blutbeschuldigung war
auch im modernen Antisemitismus ein charakteristisches Motiv. Ritualmordprozesse
fanden um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in mehreren Ländern Mittel- und
Osteuropas statt, einer der letzten aufsehenerregenden 1892 in Deutschland, in
Xanten. In der nationalsozialistischen Propaganda bediente sich v.a. der
*Stürmer der Blutbeschuldigung in Wort und Bild in besonders krasser Form (vgl.
Kulka, Deutsches Judentum I, Nr. 37). Unabhängig davon wurde in der NS-Zeit an
verschiedenen Orten über neue Blutbeschuldigungen berichtet, in denen Juden
vorgeworfen wurde, zum Backen der Matzen für das *Pessachfest Christenblut zu
verwenden.
Verweise
beziehen sich auf:
Otto Dov Kulka und Eberhard Jäckel
Die
Juden in den geheimen NS-Stimmungsberichten 1933-1945
Dokumente zu einem unfasslichen Kapitel deutscher Geschichte
Band 62, Droste-Verlag, Düsseldorf 2004
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Bilder aus der Dokumentation
Spuren und
Fragmente: Jüdische Bücher, jüdische Schicksale in Nürnberg und aus
Die
Juden in den geheimen NS-Stimmungsberichten 1933-1945.
hagalil.com 08-11-2004
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