Die
sogenannte "Polenaktion":
Auftakt zur
Vernichtung
Zur Quellenlage und dem
derzeitigen Stand der Forschung
Zitiert aus der Einführung
des Buches:
Auftakt zur
Vernichtung,
Die Vertreibung polnischer Juden aus Deutschland im Jahre 1938,
von Jerzy Tomaszewski, ersch. 2002
Am 28. und 29. Oktober 1938 sind im Rahmen der sog. "Polenaktion" etwa
17.000 Juden polnischer Staatsangehörigkeit über Nacht aus dem Dritten Reich
ausgewiesen worden - ein bisheriger Höhepunkt der Diskriminierungsmaßnahmen des
NS-Regimes gegenüber den Juden.
Unter den Deportierten befanden sich auch die Eltern Herschel Grynszpans,
dessen Anschlag auf den Botschaftssekretär vom Rath in Paris als Vorwand für die
sog. "Reichskristallnacht"-Pogrome am 9. und 10. November 1938 diente. Vor dem
Hintergrund der polnischen Innenpolitik wie der deutsch-polnischen Beziehungen
und der internationalen Zusammenhänge behandelt
Jerzy Tomaszewski
detailliert die Genese und den Verlauf der Ausweisungsaktion, die Aufnahme der
Deportierten in Polen sowie die Reaktionen auf diese Ereignisse in Polen wie im
Ausland. Ein Großteil der Deportierten sammelte sich in dem damaligen Grenzort
Bentschen/Zbaszyn; die dortigen Lebensumstände bilden einen weiteren Schwerpunkt
des Buches. Der Verfasser hat Archive in Polen, Israel, den USA und
Großbritannien sowie Zeitzeugenberichte und die polnische wie internationale
Presse ausgewertet.
Zur Quellenlage zu diesem Ereignis meint Jerzy Tomaszewski in der Einführung zu
seinem Buch
Auftakt zur
Vernichtung: "Die Tragödie des Judenmords während des Zweiten Weltkriegs hat die
vorangehenden Ereignisse überdeckt, die auf diese Weise nur noch zum Vorspiel
zur Vernichtung des jüdischen Volkes in Europa wurden. An die "Polenaktion"
erinnern sich diejenigen, die ihr zum Opfer fielen; hin und wieder trifft man
auf kleine Hinweise in historischen Arbeiten, meist gestützt auf Informationen
aus zweiter oder dritter Hand.
Die ersten, noch fragmentarischen
Quellennachweise erschienen in einigen Dokumentensammlungen, die der Geschichte
der Juden in einzelnen Städten Deutschlands gewidmet waren, sowie in den
Arbeiten von Sybil Milton. Sie werden an entsprechender Stelle dieser Arbeit
zitiert.
Es kann daher kaum verwundern, dass sich auch in wichtigen Publikationen zur
Tragödie der Juden einige grundlegende Irrtümer einschlichen, und zwar sowohl in
Bezug auf die Ereignisse, die der Ausweisung vorausgingen, als auch auf ihren
Verlauf und die Folgen. Hier ein charakteristisches Beispiel:
"By a degree of October 6, 1938, all Polish passports were recalled [...]
[als Folge wiesen die Deutschen ungefähr 15.000 Juden nach Polen aus, J.T.] The
Polish govemment refused however to admit more than a portion of this group on
the grounds that they forfeited their Polish nationality, and flung them back
into the no-man's land on the Polish-German border. Over 7.000 of those expelled
from both countries lived for months in disused stables, tents and cellards in
the no-man's hamlet of Zbonszyn, their bare existence sustained by a meagre
trickle of foodstuffs which had to be smuggled across to them by charitable
organisations."*
* A.J.Sherman, Island Refugee. Britain
and Refugees from the Third Reich 1933-1939, London 1973. S. 164-165.)
Unter allen mir bekannten, bedeutenderen Studien vermeidet nur Eliahu Ben
Elissar solche und ähnliche Fehler. Bei der Darstellung der Vorgeschichte der
Ausweisung hat er unter anderem auch polnische Quellen benutzt**.
In einigen Punkten - die besonders die Probleme an der polnisch-deutschen Grenze
zwischen dem 28. und 30. Oktober betrafen und die er nach deutschen Quellen
erarbeitet hat - unterliefen ihm jedoch Irrtümer, weil er sich zu sehr auf
Dokumente deutscher Provenienz stützte***.
Dieser Forschungsstand hat sich erst in den letzten Jahren geändert, obwohl
weiterhin Veröffentlichungen mit unzutreffenden Angaben selbst in wichtigen
polnischen Publikationen erscheinen. Ein Beispiel dafür ist der Kommentar der
Herausgeberin der Tagebücher von Zofia Naikowska:
"Als Rache für die Erschießung des Nazi-Diplomaten durch
einen jungen Emigranten aus Deutschland, wies die Regierung des Dritten Reichs
17.000 Juden polnischer Staatsangehörigkeit aus Deutschland aus. Sie machte sich
dabei eine Verordnung der polnischen Regierung vom 6. Oktober 1938 über die
Gültigkeitsdauer polnischer Pässe zunutze. Da diese Juden nicht nach Polen
hereingelassen wurden, irrten die Ausgewiesenen lange an der polnischen Grenze
in der Gegend von Bentschen [Zbaszyn] umher."****
** Eliahu ben Elissar, La Diplomatie du IIIe Reich et les Juifs (1933-1939),
Paris 1969, S.302-307.
*** Ben Elissar, La Diplomatie, S. 308-309.
**** Zofia Nalkowska, Dzienniki IV 1930-1939 (1935-1939) [Tagebücher], Bd. 4,2.
Teil, hg von Hanna Kirchner, Warszawa 1988, S.353.
Ich habe jedoch nicht die Absicht, mich mit den verschiedenen
Ungenauigkeiten, Missverständnissen oder Fehlern zu befassen, die sich in der
Literatur nachweisen lassen. Die vorliegende Arbeit unternimmt in erster Linie
den Versuch, den Verlauf der Ereignisse, die zur Ausweisung der polnischen Juden
aus Deutschland führten, sowie deren weiteres Schicksal bis zum Ausbruch des
Zweiten Weltkriegs darzustellen. Dies und nicht die Korrektur falsch
dargestellter Tatsachen von Seiten meiner Vorgänger ist das Ziel dieses Buches.
Zwar wurden zahlreiche Akten im Verlauf des Krieges in Polen vernichtet
(vermutlich traf dieses Schicksal alle Akten der Abteilung für
Flüchtlings-angelegenheiten betreffend Deutschland des Beauftragten des
Innenministeriums, die in Neutomischel (Nowy Tomysl) erstellt worden waren),
aber ein Faktengerüst lässt sich auf der Grundlage der geretteten Quellen
durchaus erarbeiten. Wesentliche Hilfe leisten dabei vor allem Materialien, die
sich außerhalb Polens befinden: So habe ich z.B. auch Dokumentensammlungen in
Israel benutzen können. Leider hatte ich keine Möglichkeit, in deutschen
Archiven zu arbeiten.
Der dramatische Charakter der hier dargestellten Ereignisse bringt es mit
sich, dass Dokumente oder Erinnerungen der seinerzeit Betroffenen die damalige
Atmosphäre am besten wiedergeben. Deshalb ziehe ich des öfteren solche
Quellentexte heran (falls Ergänzungen notwendig waren, stehen sie in eckigen
Klammern), deren äußerer Zustand oder Form manchmal von nicht geringerer
Aussagekraft ist als ihr Inhalt. Häufig verdanke ich wertvolle Hinweise auch
denjenigen, die selbst die Ausweisung erleben mussten oder den Ausgewiesenen
Hilfe gewährten. Ihnen allen danke ich herzlich und darüber hinaus allen denen,
die mir Zeit für Gespräche gewährt oder auch schriftlich auf meine Fragen
geantwortet haben.
Ein Teil der polnischen Quellen, die die "Polenaktion" betreffen, wurde in
den Jahren 1984-1985 in der jiddischsprachigen Wochenzeitung "Folks-Sztyme" in
Polen veröffentlicht, einige andere Fragen in Artikeln verschiedener
Fachzeitschriften angesprochen.
Die Möglichkeit, israelische Archive zu benutzen - als besonders wertvoll
erwiesen sich die Bestände in Yad Vashem, wo ich auf die unermüdliche Hilfe von
Prof. Israel Gutman und seinen Mitarbeitern im Archiv zählen konnte - verdanke
ich einer Einladung auf Initiative des im Sommer 1997 verstorbenen Prof. Chone
Shmeruk durch das Institute of Advanced Studies der Hebräischen Universität in
Jerusalem. Das United States Holocaust Memorial Museum in Washington ermöglichte
mir einen kurzen, aber sehr fruchtbaren Besuch für die Benutzung seiner
Bestände. Zustande kam dieser Besuch auf Initiative seines Direktors Jacek
Nowakowski. Material aus dem YIVO-Institute for Jewish Research in New York
bekam ich dank der Hilfe des bereits verstorbenen Prof. Lucjan Dobroszycki sowie
von Dr. Zofia Borzyminska und Prof. Michael Steinlauf. In der letzten
Arbeitsphase kam mir auch die Hilfe des Komitees für Wissenschaftliche Forschung
zugute. Ihnen allen danke ich herzlich. Meiner Frau bin ich ganz besonders
dankbar für ihre Geduld und Toleranz.
Der Autor: Jerzy Tomaszewski, geb. 1930, ist Professor für Geschichte Ostmitteleuropas
im 20.Jh., Neueste Geschichte sowie die Geschichte der Juden an der Universität
Warschau. Seine Forschungsschwerpunkte sind Minderheitenfragen, insbesondere die
Geschichte der Juden in Polen, und die polnische Wirtschaftsgeschichte. Er
leitet das Warschauer Mordechaj Anielewicz-Forschungszentrum für Geschichte und
Kultur der Juden in Polen. Neben mehr als 500 Beiträgen zu Themen der neuesten
Wirtschafts- und politischen Geschichte Polens, Bulgariens und der
Tschechoslowakei ist Tomaszewski Herausgeber eines Handbuches zur
Wirtschaftsgeschichte Polens (Gospodarka Polski miedzywojennej 1918-1939; 3
Bde., 1982-1989) und des Bandes "Ostmitteleuropa 1944-1968" (Europa
Srodkowo-Wschodna 1944-1968; 1992).
Zitiert aus der Einführung
des Buches:
Auftakt zur
Vernichtung
Die Vertreibung polnischer Juden aus Deutschland im Jahre 1938,
von Jerzy Tomaszewski, ersch. 2002
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Weitere Information:
hagalil.com 20-10-2002
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