Das Podiums-Gespräch:
Geschichte wird von Menschen
gemacht
Ingrid Strobl:
Ich begrüße Sie alle und freue mich, dass der Saal zu diesem Anlass so gefüllt
ist. Nach den vielen Begrüßungen und Ansprachen begrüße ich jetzt herzlich alle
Gäste, die aus Polen gekommen sind und Sie vier hier auf dem Podium. Ich danke
Ihnen ganz besonders dafür, dass Sie bereit sind, über Ihre Erlebnisse zu
sprechen. Geschichte wird von Menschen gemacht und wir begreifen Historie nicht,
wenn wir die Geschichten nicht kennen, aus der sie gewoben ist. Geschichten, die
nur die Menschen erzählen können, die sie erlebt haben.
Wir haben
heute schon sehr viel über das Warschauer Ghetto gehört. Deshalb möchte ich mich
jetzt kurz fassen, aber eines besonders ansprechen:
Der
Aufstand im Warschauer Ghetto war ein sehr wichtiges Symbol zu der damaligen
Zeit für die wenigen Menschen, die davon erfahren konnten, denn Kommunikation in
den besetzten Ländern und besonders in und zwischen den Ghettos war schwierig
bis unmöglich. Der Aufstand war aber von allem nach der Befreiung und ist bis
heute ein Symbol dafür - wie wir jetzt schon mehrfach und besonders
beeindruckend von Ludwik Krasucki gehört haben - dass Juden kämpfen konnten und
jüdische Männer und Frauen haben in jeder erdenklichen Art und Weise gekämpft.
Mir ist
nach meiner langen Erfahrung mit diesem Thema sehr wichtig darauf hinzuweisen,
dass die Tatsache, dass Frauen und Männer in dieser Situation überhaupt kämpfen
konnten, das eigentliche Wunder ist und nicht, dass die meisten Juden nicht
gekämpft haben.
Die
Bedingungen im besetzten Polen waren zusammen mit denen im besetzten Teil der
Sowjetunion die schlimmsten im deutsch besetzten Europa. Die Besatzer haben sich
von Anfang an nicht darum gekümmert, wie die Bevölkerung reagieren würde, was
sie in Frankreich und Belgien z.B. wenigstens zu Beginn der Besatzung noch getan
haben.
Sie haben
sofort mit aller Brutalität und Offenheit zugeschlagen. Die polnischen Juden
hatten eine noch geringere Chance als all die anderen, irgendetwas zu tun, sie
waren in den Ghettos eingekerkert, sie zu verlassen, war unendlich schwierig,
ebenso war es sehr schwierig, Informationen in die Ghettos zu bringen, es gab
kaum Waffen und die Bedingungen waren so, wie sie heute schon geschildert
wurden.
Da war
die von den Deutschen gezielt betriebene Verelendung, die Menschen waren auf
allerkleinstem Raum zusammengepfercht, es herrschte heillose Überfüllung, es gab
kaum hygienische Einrichtungen, die Kinder hatten keine Möglichkeit, sich zu
beschäftigen, Schulen waren verboten. Es ging um das nackte Überleben, es ging
um jedes Stück Brot. Das tägliche Leben war geprägt von Hunger, Erschöpfung,
gezielter Irreführung, es war eine Situation, in der Menschen nichts tun konnten
und in der andere Menschen auch nichts getan haben.
Weder im
besetzten Frankreich, noch in Holland oder Belgien z.B. hat sich die Bevölkerung
erhoben, und deren Lebensbedingungen unter der deutschen Besatzung waren mit der
in den Gettos nicht vergleichbar. Ich möchte Chaika Grossman zitieren, die
sagte: "Was sollten denn die Juden machen. Sie waren Zivilbevölkerung, Bäcker,
Schneider, sie waren weder als Soldaten ausgebildet, noch hatten sie Waffen, sie
waren nicht organisiert. Ich habe die sowjetischen Kriegsgefangenen gesehen,
Kombattanten, ausgebildete Soldaten und als sie von den Deutschen abgeführt
wurden."
So
wichtig der Aufstand im Warschauer Ghetto für die Erinnerung ist, so wichtig ist
es auch zu betonen, dass die meisten nicht kämpfen konnten, weil sie keine
Chance hatten. Eine Wertung und Unterscheidung zwischen Kämpfern und "Lämmern,
die sich zur Schlachtbank führen ließen", ist unzulässig.
Die
vier Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf diesem Podium waren alle nicht im
Ghetto, sie repräsentieren verschiedene Situationen, in denen sich Jüdinnen und
Juden im besetzten Polen befinden konnten. Anknüpfend an den Widerstand im
Ghetto möchte ich die erste Frage an Jadwiga Gawronska richten:
Sie
befanden sich außerhalb des Ghettos auf der "arischen" Seite, Sie haben dort
politisch gearbeitet und Widerstand geleistet. Frau Gawronska, was haben Sie im
April 1943 konkret gemacht?
Jadwiga Gawronska:
Als der Aufstand ausbrach, war ich nicht drinnen, ich war draußen. Ich hatte
damals "arische" Papiere und konnte draußen bleiben. Ich war versteckt. Aber was
im Ghetto passierte, wie die Stimmung und die Einstellung war, das wussten wir
ganz genau, da sich in meinem Haus die geheime Druckerei befand. Wir hatten die
Kopiermaschine und wir haben die geheime Zeitung gedruckt. In dieser Zeitung
berichteten wir nicht nur darüber, was im Ghetto passierte, sondern über ganz
Warschau: über die Morde, über alle Verbrechen der Deutschen gegenüber der
polnischen Bevölkerung. Ich wusste also genau, was im Ghetto vor sich ging und
ich möchte noch einmal betonen, dass die Jugend, die 1943 noch lebte, zu diesem
Aufstand überhaupt noch fähig war, das größte Wunder bedeutet.
nicht ohne Kampf in den Tod
Die
jungen Kämpferinnen und Kämpfer gingen in den Tod, aber sie wollten nicht ohne
Kampf in den Tod gehen. Der Kampfeswille der jüdischen Jugend war ebenso stark
wie der der polnischen Jugend. In ganz Warschau herrschte eine revolutionäre
Stimmung. Alle waren zum Kampf bereit. Wir wussten also, dass es im Ghetto einen
Aufstand geben würde, aber nicht wann. Wir wussten auch, dass sich die
Warschauer auf einen Aufstand in Warschau vorbereiteten, aber auch diesen
Zeitpunkt kannten wir nicht. Der Warschauer Aufstand sollte dann erst 15 Monate
später beginnen.
Wie Sie
wissen, war der Aufstand im Warschauer Ghetto der erste Aufstand im besetzten
Europa. Es waren die Menschen im Warschauer Ghetto, die sich als erste gegen die
deutsche Okkupation zur Wehr setzten.
Am 19.
April 1943 habe ich mein Haus verlassen und sah überall in der Stadt Flugblätter
der Deutschen an die Warschauer Bevölkerung, auf denen stand, dass die Juden mit
ihrem Aufstand die Verantwortung für die Verhältnissen in Warschau und die
Besatzer-Maßnahmen gegen die polnische Bevölkerung tragen.
Im Ghetto
waren nur noch die verblieben, die den bisherigen Deportationen entgangen und
noch nicht an Hunger, Kraftlosigkeit und Krankheiten gestorben waren: Ungefähr
10 Prozent der rund 400.000 Menschen, die bei der Errichtung des Ghettos
eingesperrt worden waren.
Ich war
nicht drinnen, ich war draußen, ich habe an dem Aufstand nicht unmittelbar
teilgenommen, aber ich habe alles mit eigenen Augen gesehen, ganz Warschau hat
gesehen, was im Ghetto geschah. Wir sahen den schwarzen Rauch über dem Ghetto,
es kam die Nachrichten, dass die Frauen mit ihren kleinen Kindern aus den
brennenden Fenstern gesprungen sind und dass sie - als sie kaum noch lebend auf
den Bürgersteigen lagen - erschossen wurden.
Flucht durch die Kanalisation
Das habe
ich 1943 erlebt, das ist meine Geschichte, ich habe alles mit angesehen. Aber
was ich gefühlt habe, das muss ich ihnen jetzt nicht sagen, das kann ich auch
nicht. Meine Gefühle sind nicht zu beschreiben. Das ist meine Antwort.
Eine
Geschichte möchte ich noch erzählen. Zuvor aber muss ich noch ein paar Tatsachen
erwähnen. Tatsachen, über die oft geschwiegen wird, wenn von dem Kampf gegen die
Besatzer die Rede ist. Es gab damals in Warschau ein unterirdisches Kanalsystem,
durch das eine Rettung einzelner unter schwierigsten Bedingungen möglich war.
Unsere Organisation hat den Menschen bei der Flucht durch die Kanäle geholfen.
Nach einer gelungenen Flucht war eine sichere Unterkunft das Wichtigste. Wir
haben Wohnungen für die Flüchtenden gesucht und beschafft.
Ich bekam
den Auftrag, einer Lehrerin zu helfen, die in einer polnischen Schule
unterrichtet hatte und versuchte, sich und ihre achtjährige Tochter aus dem
Ghetto zu retten. Zusammen flohen sie durch die Kanalisation. Plötzlich merkte
die Frau, dass sie die Hand ihrer Tochter nicht mehr in ihrer Hand hielt. Ihr
ist es zwar gelungen, auf die andere Seite zu gelangen und die Grenze zu
überwinden, aber ihre Tochter blieb im Kanal. Ich habe die Frau nach dieser
Tragödie noch oft gesehen. Können Sie sich vorstellen, wie riesengroß die
Verzweifelung war, wie wir beide verzweifelt waren, wie wir geweint haben über
diese Frau ohne Tochter.
Ingrid
Strobl: Die
Kanäle haben insgesamt eine sehr wichtige Rolle gespielt. Zwar wurde das
Kanalsystem erst relativ spät genutzt, dann aber diente es dem
Informationsaustausch zwischen drinnen und draußen, besonders jedoch dazu,
"draußen" darüber zu informieren, was Ghetto bedeutete, welche unvorstellbaren
Zustände dort herrschten.
Am Tag
des Aufstandes von den Deutschen entdeckt und mit Gasbomben angegriffen wurde,
war den Menschen aus der Untergrundführung bewusst, dass das Ende kam. Ein Teil
von ihnen hat beschlossen, nicht elendig in dem Gas ersticken zu wollen und hat
sich umgebracht, darunter auch Mordechai Anielewicz, der gewählte Anführer der
Untergrundorganisation. Ein anderer Teil hat dann doch noch einen Nebenausgang
entdeckt und konnte durch das Kanalsystem nach draußen gelangen. Einige der so
Überlebenden gingen nach der Befreiung nach Palästina oder später Israel und
haben dort das Museum der Ghettokämpfer mit aufgebaut.
Vor dem
Aufstand wurden durch die Kanäle auch Kinder gerettet, leider nicht sehr viele.
Eines dieser Kinder ist Teresa Wieczorek.
Frau
Wieczorek, Sie waren zwei oder drei Jahre alt, als sie durch das Kanalsystem
nach draußen gebracht wurden. Was haben Sie über ihre Rettung erfahren können.
die
Erinnerungen meiner Mutter
Teresa
Wieczorek:
Alles, was ich Ihnen erzählen möchte, sind nicht meine Erinnerungen. Es sind die
Erzählungen meiner zweiten Mutter, die ich durch Zufall gefunden habe. Im Herbst
1942, es war vermutlich im September, wurde ich aus dem Ghetto durch den eben
erwähnten Kanal herausgebracht. Der Kanal, von dem ich erzählen möchte, führte
vom Muranowski-Platz bis zur Sierakowska Straße .In der Sierakowska Straße
befand sich damals eine Straßenbahn-Reparaturwerkstatt. In dieses Gebäude fuhren
also die Straßenbahnen hinein und sie hielten über dem Kanaleinstieg. Die Kinder
wurden in kleinen Koffern unter den Sitzplätzen versteckt. Dann fuhr die
Straßenbahn weiter und an der nächsten Haltestelle kam jemand, um die Kinder
abzuholen. Ich wurde also auch in einen winzigen Koffer verpackt und unter einem
Straßenbahnsitzplatz versteckt. An der nächsten Haltestelle wurde ich abgeholt.
Genau gesagt: Das Straßenbahndepot hatte die Nr. 7 und die nächste Haltestelle
die Nr. 6 in der Sierakowska Straße. Die Reparaturwerkstatt war genau gegenüber
der Ghettomauer. Ich selber weiß weder, wer mich abholte, noch wer mich in die
neue Familie brachte. Manche meinen, es sei mein Vater gewesen, aber das ist
nicht gewiss, es kann auch ein Polizist gewesen sein, dem Geld dafür gegeben
wurde. Der Mann ist gekommen und hat gesagt, alle im Ghetto werden deportiert
und darum gebeten, mich nur für eine Nacht aufzunehmen. Dann jedoch begann der
Aufstand und es hat sich niemand mehr gemeldet, um mich abzuholen. Die Frau, die
zu meiner zweiten Mutter geworden ist, hat mich versteckt. Ich wurde von Haus zu
Haus, von Stadtteil zu Stadtteil gebracht und überlebte so.
Noch
einmal zu der Reparaturwerkstatt, die an der Rettung der Kinder beteiligt war:
Dort arbeitete eine polnische Organisation mit Namen Zegota, die damals den
Juden half. Ich möchte hier eine Frau erwähnen mit Namen Sendlarowa, eine
Lehrerin in Warschau, die mehrere hundert jüdische Kinder gerettet hat. Die
Reparaturwerkstatt war nicht der einzige Weg, wie jüdische Kinder gerettet
wurden. An meiner Rettung war Leon Szezcko beteiligt von der Organisation Zegota,
der später von der Gestapo erschossen wurde. Er hat mehrere Kinder gerettet,
aber durch seine Ermordung kennen die von ihm Geretteten und auch ich ihre
richtigen Namen nicht, nicht Geburtstag und -jahr, ich weiß nichts von meinen
Eltern oder meiner Familie.
meine zweite Mutter
Meine
zweite Mutter war eine gute, eine einfache Frau, die weder lesen noch schreiben
konnte, aber mir alles, was sie geben konnte, gegeben hat Was ich in meinem
Leben erreicht habe, war schon mein Verdienst, aber meine zweite Mutter hat
alles, was ihr möglich war, für mich getan. Bevor ich zu meiner zweiten Mutter
kam, wurde ich von einem Versteck zum anderen gebracht und es wurden auch immer
wieder Menschen gefunden, die mich versteckten, obwohl auf das Verstecken von
Juden und auch von jüdischen Kindern die Todesstrafe stand. Nachdem für meine
neue Familie feststand, dass nach der Zerschlagung des Ghettoaufstandes niemand
mehr kommen würde, erhielt ich eine christliche Geburtsurkunde und als
Familiennamen den meiner zweiten Mutter. Ich selber habe keine persönlichen
Erinnerungen an diese Zeit und ich war immer überzeugt, dass ich mich an nichts
erinnern kann und niemals erinnern werde.
So war es
bis zum Jahre 1970, als ich das erste Mal nach Deutschland fuhr. Am Ostbahnhof
in Berlin sah ich durch das Zugfenster einen deutschen Soldaten in seiner
Uniform. Da bin ich auf einmal ohnmächtig geworden. Wie war das möglich? Ich
muss mich an etwas Verschüttetes erinnert haben, warum sonst bin ich ohnmächtig
geworden.
Teil 2 des Podium-Gesprächs
Dokumenation:
Zeitzeugnisse zum Aufstand im Warschauer Ghetto
Bild-Dokumenation:
Das Warschauer Ghetto
Weitere Information:
hagalil.com
29-07-2003