Zionistische Erziehung im norddeutschen Moor:
Die Ausbildungsstätte des Hechaluz auf dem Brüderhof bei
Harksheide
Von Sieghard
Bußenius
Leben und Arbeiten
auf dem Brüderhof
Auf dem
Brüderhof stand ein großes Wirtschaftsgebäude, das 1928 vom Rauhen Haus
errichtet worden war.[1] Hierin befanden sich im
Erdgeschoss die Schlafräume der Chaluzoth (hebr. Pionierinnen) sowie der große
Gemeinschaftsraum des Kibbuz. Im Obergeschoss waren die Schlafräume der Chaluzim
(hebr. Pioniere) untergebracht. In einer großen Holzbaracke, die 1924 vom
Reichsbauamt in Flensburg gekauft worden war, befanden sich die Privaträume des
Pächters sowie die Küche und der Speiseraum des Kibbuz. Den Wohnunterkünften
schlossen sich verschiedene Viehställe, Scheunen, Lagerschuppen und kleinere
Baracken an.
Das Haupthaus aus dem Jahr 1928
Quelle: Nachlass von Ernst Heinrich Leuschner
Gesamt-Ansicht des Brüderhofs, im Vordergrund: Lorenbahn zur Torfkuhle, im
Hintergrund: Gebäude, Baracken und Ställe
Quelle: Archiv des Rauhen Hauses
Der Hof
unterhielt einen ansehnlichen Viehbestand. Im Jahre 1936 zählte er fünf Schweine
und zwanzig Ferkel, sechzehn Kühe mit einem Zuchtbullen, elf Milchschafe, drei
Pferde, zwei Wachhunde, 120 Hühner sowie einige Gänse, Puten und Kaninchen. Im
Garten des Hofes standen ca. 150 Obstbäume; dem Hofgelände schlossen sich 20
Hektar Acker- und Weideland an. Außerdem gehörte zu dem Grundstück im
benachbarten Moor ein kleines Torfwerk, das mit 100 Meter Feldbahnschienen und
mit einer Lore zum Transportieren der Torfstücke ausgestattet war. Daher ergaben
sich auf den Äckern und Weiden, in den Ställen, im Garten und im Torfwerk
zahlreiche Arbeitsmöglichkeiten für die Chaluzim und Chaluzoth. Der Brüderhof
bot, nach einer offiziellen Aufstellung der 'Reichsvertretung der Juden in
Deutschland', vierzig Ausbildungsplätze [2]; zeitweise hielten sich dort auch
nur zwanzig oder dreißig junge Menschen auf. Meist bestanden die Hachschara-Gruppen zu einem Drittel aus Chaluzoth und zu zwei Dritteln aus
Chaluzim.
Der
Pächter, Ernst Heinrich Leuschner, war in der Landwirtschaft Anleiter und
Vorgesetzter der jungen Menschen; die kostenlosen Arbeitskräfte waren ihm
willkommen und halfen zumindest teilweise, die wirtschaftlichen Probleme zu
lösen. "Wenn ich die Juden nicht gehabt hätte und mir mein Vater nicht geholfen
hätte, wäre es mir unmöglich gewesen, den Viehbestand bis heute zu erhalten und
meine Familie zu ernähren", schrieb er im März 1935 an das Rauhe Haus, als er
wegen anhaltender Missernten und Tierkrankheiten wieder einmal um eine Stundung
des Pachtzinses nachfragte.[3] In nahezu allen Berichten, die
ehemalige Chaluzim und Chaluzoth zum Brüderhof abgaben, wurde das anständige
Verhalten des Pächters hervorgehoben. Obwohl Ernst Heinrich Leuschner in der SA
gewesen sein soll [4] und gelegentlich in Uniform zu
Treffpunkten gegangen war, hatte er die jüdischen Jugendlichen keine feindselige
Haltung spüren lassen. "Leuschner war ein guter Instrukteur und gab jegliche
Anleitung. Ich erinnere mich, daß ich bei ihm das Pflügen mit Gespann und die
Bedienung des Drills (Saatmaschine) sowie die Pflege der Pferde sehr gut gelernt
habe", schrieb ein ehemaliger Chaluz 1985 in einem Erinnerungsbericht.[5]
Junge
Erwachsene der Älteren-Hachschara auf dem Hof
Quelle: Nachlass von Jehuda Barlev
Jeden
Morgen teilte der Landwirt die anfallenden Arbeiten auf und schickte die jungen
Menschen einzeln oder in Gruppen zu ihren Einsatzplätzen. Die Chaluzim
arbeiteten in allen Bereichen der Landwirtschaft, wobei die Einsatzplätze in
einer gewissen Reihenfolge wechselten. Die Chaluzoth arbeiteten in der
Landwirtschaft ebenso wie im Haushalt und im Gemüsegarten des Pächters; außerdem
führten sie die Hauswirtschaft des Kibbuz. Gelegentlich wurden die jungen
Menschen auf benachbarte Bauernhöfe geschickt, wo sie bei der Feld- und
Gartenarbeit aushalfen. Diese Arbeiten waren bei den Kibbuz-Mitgliedern sehr
beliebt, da die Bauernfamilien sie gut behandelten und verpflegten. Am
schwersten war die Arbeit im Moor, wo die Chaluzim Torf stachen und die
Chaluzoth die gestochenen Torfstücke abtransportierten. "Wenn man am Abend nach
Hause kam, war der Rücken wie zerbrochen", schrieb ein ehemaliger Chaluz über
seine Arbeit im Zwickmoor.[6] Einfach war es dagegen, die
Schafe auf der Weide zu hüten; dieser Dienst wurde als angenehme Abwechslung im
Arbeitsleben empfunden.
Einen
finanziellen Lohn erhielten die jungen Menschen für ihre Arbeit nicht. Vom
Pächter bekamen sie kostenlos Wasser aus dem Hofbrunnen, Torf als Brennmaterial,
täglich etwas Milch und im Herbst eine bestimmte Menge Kartoffeln. Gemüse und
andere Nahrungsmittel, die sie für ihre Verpflegung benötigten, mussten sie
bezahlen. Ebenso erhielt der Pächter - vermutlich von der zuständigen
Bezirksstelle der 'Reichsvertretung der Juden' - eine monatliche Miete von 100,-
Reichsmark. Zur Finanzierung der Ausbildungskosten erhielten die jungen Menschen
in der Regel einen monatlichen Zuschuss von 39,50 Reichsmark, der je zur Hälfte
von ihren Heimatgemeinden und von der 'Reichsvertretung der Juden' getragen
wurde.[7] Diese Zuschüsse wurden in eine
gemeinsame Kasse eingezahlt; aus der u.a. die Verpflegung der Kibbuz-Mitglieder
bestritten wurde. Mit der gemeinsamen Kasse wurden auch Mitglieder unterstützt,
deren Zuschussmöglichkeit abgelaufen war. Die vorhandenen Geldmittel erlaubten
oft nur eine kärgliche Verpflegung der jungen Menschen; es wurde berichtet, dass
die Chaluzim und Chaluzoth oft hungrig ihre Arbeit verrichteten. Medizinisch
versorgt wurden sie vom Israelitischen Krankenhaus in Hamburg, die Regelung der
Reichsvertretung enthielt auch eine Krankenversicherung.
Während
der Tagesablauf weitgehend vom Pächter und den Arbeitspflichten bestimmt wurde,
blieben die jungen Menschen in ihrer Freizeit unter sich. Es gab nach dem
Arbeitsschluss fast keine Kontakte zu den benachbarten Bauernhöfen oder zu den
Bewohnern des nahe gelegenen Dorfes Harksheide. Mussten die Kibbuz-Mitglieder
dennoch einmal den Brüderhof verlassen, um beispielsweise zur Haltestelle des
Busses zu gehen, dann benutzten sie einen Feldweg, der sich am Rande des Dorfes
hinzog und im Volksmund 'Judenweg' genannt wurde.[8]
Nach dem
Arbeitsschluss bereiteten sich die jungen Menschen mit Schulungen,
Gesprächsrunden und gelegentlichen Kulturabenden auf ihr späteres Leben in
Palästina vor. Besonders intensiv wurde die hebräische Sprache gelernt, man
sprach jedoch auch über Palästinakunde, Siedlungsformen und allgemeine
zionistische Themen. Mitunter erhielt der Kibbuz sogar Besuch von jüdischen
Schauspielern, die ihre Künste vorführten, oder sachkundige Referenten, die über
ausgewählte Themen sprachen. Freitag abends erholte man sich beim Oneg Schabbat
von den Anstrengungen der vergangenen Woche, mit Liedern und Lesungen wurde der
jüdische Wochenfeiertag begrüßt. Während die Kibbuz-Mitglieder der ersten Jahre
die Schulungsarbeit auf dem Brüderhof als sehr intensiv bezeichneten,
beschrieben sie Jugendliche in den späteren Jahren als "sehr arm". Ein Chaluz,
der den Brüderhof im Jahre 1938 erlebte, schrieb in seinen Erinnerungen: "Man
darf aber nicht vergessen, daß wir wegen der harten körperlichen Arbeit am Abend
sehr müde waren und außerdem zu derselben Zeit keinen Kopf für (das) Lernen
hatten".[9] Im Laufe der Zeit hatte sich nämlich das Alter
der Kibbuz-Mitglieder wesentlich verändert; dies drückte sich auch in den
unterschiedlichen Einstellungen aus.
Im Jahre
1934 war der Kibbuz als Hachschara für junge Erwachsene im Alter von 18 bis 30
Jahren eingerichtet worden. Ab 1935 entwickelte der Hechaluz jedoch noch eine
weitere Ausbildungsform für arbeits- und orientierungslos gewordene
Schulabgänger, die 15 bis 17 Jahre alt waren. Für diese Jugendlichen der so
genannten mittleren Jahrgänge wurden zweijährige Lehrgänge in besonderen
Ausbildungsstätten eingeführt.[10] Eine solche Mittleren-Hachschara, im Sprachgebrauch des Hechaluz kurz Mi-Ha genannt, sollte
auf dem Brüderhof entstehen. Zeitweise verbrachten ab 1936 zwei unterschiedliche
Hachschara-Gruppen ihre Vorbereitungszeit auf dem Hof.
Jugendliche der Mittleren-Hachschara im Moor
Quelle: Nachlass von Jakob Gover
Die Dauer
der Hachschara war recht unterschiedlich; sie richtete sich nach den politischen
Verhältnissen und nach dem persönlichen Reifegrad der jungen Menschen.
Grundsätzlich sollte jede Hachschara nach den Beschlüssen des Hechaluz zwei
Jahre dauern [11],
dies konnte jedoch in der Praxis nur selten verwirklicht werden. Dem Autor
liegen die Ausbildungszeiten von ca. 20 Chaluzim und Chaluzoth vor; diese
hielten sich zwischen vier und dreißig Monaten auf dem Brüderhof auf. Besonders
in den Jahren 1937 bis 1939 mussten die jungen Menschen häufig ihre
Hachschara-Stätte wechseln, wenn organisatorische Probleme oder politische
Entwicklungen dies erforderten.
Sobald
sich die jungen Menschen körperlich und geistig in der Hachschara bewährt
hatten, wurden sie zur Alijah (hebr. Auswanderung) vorgeschlagen und ein
Einreise-Zertifikat für Palästina wurde beantragt. Um ihre Probleme bei diesem
Verfahren zu verdeutlichen, soll hier der komplizierte Weg eines Zertifikates
stark vereinfacht beschrieben werden: Die britische Mandatsregierung von
Palästina erteilte zweimal jährlich eine immer wieder neu festgelegte Anzahl von
Zertifikaten verschiedener Kategorien. Die jeweilige Anzahl hing von der
britischen Beurteilung des jüdisch-arabischen Verhältnisses in Palästina ab. Die
Kategorien reichten in zehn Untergruppen von einem so genannten
Kapitalisten-Zertifikat für Einwanderer mit 1000 Pfund Investitionsvermögen bis
zu den Arbeiter-Zertifikaten für Chaluzim und Chaluzoth. Diese Zertifikate
erhielt zunächst die ‚Jewish Agency for Palestine', die gegenüber der britischen
Mandatsregierung die Interessen der in Palästina lebenden Juden vertrat. Die
Jewish Agency gab die zur Verfügung stehenden Zertifikate dann an ihre
nationalen Vertretungen weiter. Im Berliner Palästina-Amt entschied schließlich
eine Kommission über die Vergabe der Zertifikate an die zur Auswanderung
bereiten Menschen. Wenn die Chaluzim und Chaluzoth auf dem Brüderhof die
Nachricht erhielten, dass ihre Zertifikate genehmigt worden waren, wurde ihre
gemeinschaftliche Reise durchgeführt. Meist verlief ihr Reiseweg zunächst mit
dem Zug zum italienischen Hafen Triest und von dort mit einem Schiff nach
Palästina. Auf diesem Weg wurden die jungen Menschen von zahlreichen Hoffnungen
und Ängsten begleitet, Delegierte des Hechaluz betreuten sie auf dem mühevollen
Weg in ihre neue Heimat.[12]
Im
Frühjahr 1938 konnten nur die jüngeren Jahrgänge der Mittleren-Hachschara die
Reise nach Palästina beginnen. Brüderhof-Absolventen, die älter als 18 Jahre
waren, erhielten zu diesem Zeitpunkt keine Einreise-Erlaubnis für Palästina. Sie
mussten ihre Hachschara im benachbarten Dänemark fortsetzen; der dänische
Hechaluz hatte in dem kleinen Land ein hervorragend organisiertes Netz von
Ausbildungsstätten geschaffen.[13] In der Nähe von Kolding
arbeiteten die jungen Menschen tagsüber einzeln auf verschiedenen Bauernhöfen,
abends konnten sie sich in einem Pfarramt zur geistigen Schulung treffen.[14] Die Gruppe gründete dort ein
Hachschara-Zentrum, das aus ca. 15 Chaluzim und 5 Chaluzoth bestand. Am Tage der
deutschen Besetzung Dänemarks, am 09.04.1940, betreute der dänische Hechaluz
noch 550 Chaluzim und Chaluzoth, davon hatten sieben einen Teil ihrer Hachschara
auf dem Brüderhof verbracht.[15]
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Das Ende des Kibbuz Brüderhof
Anmerkungen:
[1] Siehe Archiv des Rauhen Hauses, Bestand 2, Nr. 36 und 37.
[2] Reichsvertretung der Juden in Deutschland, a.a.O., S. 13.
[3] Undatierter Brief von Ernst Heinrich Leuschner an das
Rauhe Haus, geschrieben vor dem 15.03.1935. Archiv des Rauhen Hauses, Bestand 2,
Nr. 36. Der zitierte Satz ist der einzige zeitgenössische Hinweis auf die
Ausbildungsstätte, der im Archiv erhalten geblieben ist.
[4] Ernst Heinrich Leuschner trat am 30.05.1937 der NSDAP bei;
für eine SA-Mitgliedschaft konnte bislang kein Beleg gefunden werden.
[5] Brief von Hans Feinberg aus Israel an den Autor vom
17.11.1985.
[6] Brief von Max Kolko aus Dänemark an den Autor vom
09.04.1989. Zur Torfgewinnung im Zwickmoor siehe Otto Kröger: Chronik der
Gemeinde Harksheide, Harksheide 1963, S. 216 ff.
[7] Richtlinien der Reichsvertretung, a. a. O., S. 13.
[8] Kröger, a. a. O., S. 295.
[9] Brief von Jonathan Kinarthy aus Israel an den Autor vom
08. 11. 1997.
[10] Siehe Senta Josephthal: Erziehungsfragen der Mittleren
Hachschara. In: Jüdische Wohlfahrtspflege und Sozialpolitik, , 7. Jg., Heft
2/1937, S. 43-46.
[11] Beschluss auf der Delegierten-Tagung des Hechaluz in
Berlin vom 14. - 17. 10. 1935. Siehe Barlev, a. a. O., S. 5 f.
[12] Zur Zertifikatsverteilung siehe S. Adler-Rudel: Jüdische
Selbsthilfe unter dem Naziregime 1933-1939. Im Spiegel der Berichte der
Reichsvertretung der Juden in Deutschland, Tübingen 1974, S. 82 ff. sowie Barlev,
a. a. O., S. 15 ff.
[13] Siehe Jørgen Haestrup: Passage to Palestine. Young Jews
in Denmark 1932 - 1945, Odense/Dänemark 1983. Eine kurze Einführung in deutscher
Sprache bietet Juha Tiusanen: Die Auslandshachschara in Dänemark. In Andreas
Paetz / Karin Weiss (Hg): ‚Hachschara'. Die Vorbereitung junger Juden auf die
Auswanderung nach Palästina, Potsdam 1999.
[14] Zur Hachschara der Brüderhof-Gruppe erhielt der Autor
Briefe von Michal Meron aus Israel am 19.06.1985 und Max Kolko aus Dänemark am
09.04.1989. Den Lebenslauf eines Chaluz beschreibt ausführlich Eva Hoffmann:
Jacob Gower - in Kiel geboren und aufgewachsen. In: Mitteilungen des Beirates
für Geschichte der Arbeiterbewegung und Demokratie in Schleswig-Holstein, Nr.
20/ 1995, S. 27-52, bes. S. 28.
[15] Hechaluz i Danmark: Statistik der Chawerim in der
dänischen Hachscharah, Kopenhagen, den 22.04.1940. The Central Zionist Archives,
Jerusalem/Israel, S6/3626.
hagalil.com 15-04-2007
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