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Zionistische Erziehung im norddeutschen Moor:
Die Ausbildungsstätte des Hechaluz auf dem Brüderhof bei Harksheide

Von Sieghard Bußenius

Das Ende des Kibbuz Brüderhof

Am 27./28. Oktober 1938 fand die erste große Deportation von Juden aus dem nationalsozialistischen Deutschland statt; hiervon wurde auch der Brüderhof betroffen. Die Deportation betraf Juden polnischer Herkunft, die seit mehr als fünf Jahren in Deutschland gelebt hatten, und nun durch eine Verordnung der polnischen Regierung quasi zu staatenlosen Menschen erklärt worden waren. Das Deutsche Reich lehnte die Aufnahme dieser Menschen ab und organisierte ihren zwangsweisen Transport an die polnische Grenze [1].

Einige Chaluzim vom Brüderhof flüchteten vor der drohenden Deportation nach Dänemark; andere wurden - zusammen mit ca. 700 Menschen aus Norddeutschland - mit einem Zug von Hamburg-Altona zum polnischen Grenzort Zbaszyn (Altbentschen) gefahren. In mehreren Berichten wurde hervorgehoben, dass sich Ernst Heinrich Leuschner in besonderer Weise für diese Menschen eingesetzt hatte. Daher soll hier der Bericht eines ehemaligen Chaluz, der nach einer Umfrage unter mehreren Brüderhof-Absolventen geschrieben wurde, ausführlich zitiert werden:

"Am Tag der 'Polen-Aktion' stellte Leuschner sein Telefon unseren Leuten zur Verfügung, damit sie vor dem Abschub mit der Familie sprechen konnten. Er selbst brachte danach unsere Chawerim mit seinem eigenen Auto nach Hamburg zum Bahnhof. Von dort fuhr man mit einem speziellen Zug (oder vielleicht nur Wagons) und einem besonderen Madrich bis zur polnischen Grenze. Der Zug kam dort um 23.50 an und da der Durchgang um Mitternacht geschlossen wurde ließen die Polen keinen mehr rein. Die Leute blieben fast drei Tage an der Grenze und konnten dann selbst bescheiden (entscheiden, Anm. S.B.), nach Polen oder zurück nach Deutschland. Nach einem Telefongespräch mit Berlin fuhren unsere Chawerim und derselbe Madrich dann mit Aufenthalt in Berlin nach Hamburg zurück. Leuschner holte sie von dort wieder mit seinem Auto zurück."[2]

Etwa eine Woche später erschoss ein 17 Jahre alter Jugendlicher, Herschel Grynzpan, dessen Familie auch nach Zbaszyn deportiert worden war, aus Rache und Verzweiflung einen Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Paris. Dieses Attentat nahmen die Nationalsozialisten zum Anlass, um unter dem beschönigenden Namen 'Reichskristallnacht' einen Pogrom gegen die gesamte jüdische Bevölkerung zu initiieren; hiervon blieben die meisten Ausbildungsstätten des Hechaluz nicht verschont. "Die Hachschara-Plätze sind bei dieser Aktion aufs stärkste mitgenommen worden" schrieb Perez Leshem - damals noch unter seinem deutschen Namen Fritz Lichtenstein - am 20.11.1938 in Kopenhagen, nachdem er als Delegierter des internationalen Hechaluz drei Tage in Berlin verbracht hatte [3]. Mosche Auerbach, der Wiener Delegierte des Hechaluz, stellte in einer ersten Übersicht fest, dass mindestens 250 junge Menschen auf den Hachschara-Plätzen verhaftet worden waren. Zum Brüderhof vermerkte er in seiner auf hebräisch geschriebenen, stichwortartigen Übersicht: "Der Ort besteht, vier Mitglieder verhaftet" [4]. In dem bereits zitierten Erinnerungsbericht der Brüderhof-Absolventen ist zu lesen:

"Soviel die meisten von uns sich erinnern können, ging .. während der Kristallnacht am Brüderhof alles seinen normalen Gang. Wir hörten von dieser Geschichte erst am nächsten Tag. Es wurde auf jeden Fall keiner von uns 'Mittleren' verhaftet. Nach einigen Aussagen sollten aber um diesen Tag herum Uniformierte zum Brüderhof gekommen sein und dort eine harte Auseinandersetzung mit unserem damaligen Madrich gehabt haben. Vielleicht haben dieselben bei der Gelegenheit Leute von der Älteren-Gruppe verhaftet." [5]

Diese Schilderung ist insofern bemerkenswert, als der Jägershof bei Flensburg - der zweite Hachschara-Kibbuz auf dem heutigen Gebiet von Schleswig-Holstein  -  bei dem Pogrom überfallen und verwüstet wurde. Die Bewohner des Jägershofs wurden misshandelt, verhaftet und in das KZ Sachsenhausen verschleppt; nur wenige konnten sich durch eine Flucht über die nahe dänische Grenze retten.[6] Etwa die Hälfte aller Ausbildungsstätten des Hechaluz musste nach dem Novemberpogrom aufgegeben werden, darunter befand sich auch der Brüderhof.

Bis zum März 1939 konnten alle Teilnehmer der 'Mittleren-Hachschara' noch den Brüderhof verlassen und nach Palästina auswandern. Im Frühjahr 1939 kam zum letzten Mal eine Gruppe von älteren Jugendlichen auf den Brüderhof. Diese Gruppe konnte jedoch nur ca. einen Monat bleiben, da die Hachschara nun plötzlich aufgelöst wurde. Ernst Heinrich Leuschner hatte im Februar 1939 das Rauhe Haus um eine Entlassung aus dem Pachtvertrag gebeten, da er von einem wohlhabenden Bekannten einen kleinen Hof in Dresenow/Mecklenburg als Geschenk bekommen hatte. Im März 1939 verließ der Landwirt mit seiner Familie recht überstürzt den Brüderhof.[7] Ob möglicherweise noch andere Ursachen für die schnelle Abreise des Pächters und das plötzliche Ende der Hachschara  verantwortlich waren, konnte bislang nicht geklärt werden.

Das Rauhe Haus verpachtete den Brüderhof am 01.05.1939 an die evangelische Stiftung ‘Alsterdorfer Anstalten', die dort geistig behinderte Menschen unterbringen wollte.[8] Kurt Goldmann, ein Leitungsmitglied des deutschen Hechaluz, schrieb im Juni 1939 einen verzweifelten Brief nach Palästina; darin heißt es: "In diesen Tagen sind wir im Brüderhof herausgeschmissen worden, da an Stelle des Hachschara-Kibbuz eine Irrenanstalt eingerichtet werden soll. Die Umordnung der Brüderhof-Gruppe macht uns viel Schwierigkeiten."  In seinem Bericht, der in Palästina unter den Kibbuzim als Rundschreiben veröffentlicht wurde, fasste Kurt Goldmann die Stimmung in Deutschland mit folgenden Worten zusammen: ""Es gibt für die Juden in Deutschland keine Perspektive"[9].

Ernst Heinrich Leuschner wurde sofort nach Kriegsbeginn zum Militärdienst eingezogen. Das Rauhe Haus machte ihm nach dem Wechsel der Pachtverhältnisse den Vorwurf, Gebäude und Inventar des Hofes in erheblicher Weise vernachlässigt zu haben.

Es bleibt die Frage,  wie die zionistische Ausbildung auf dem Brüderhof von den nationalsozialistischen Behörden beurteilt wurde.  Wie bereits eingangs erwähnt,  wurde  die Einrichtung ausdrücklich vom schleswig-holsteinischen NSDAP-Gauleiter und Reichsstatthalter, Hinrich Lohse, genehmigt. Hinrich Lohse war bereits 1923 der NDSDAP beigetreten und am 1925 zum Gauleiter der Partei in Schleswig-Holstein gewählt worden; er zeichnete sich während seiner gesamten Karriere durch einen fanatischen Antisemitismus aus [10]. In den ersten Jahren nach 1933 sollten die Juden in Deutschland durch immer stärkere Repressionen zum Verlassen des Landes gedrängt werden. Daher wurden die Bemühungen zionistischer Organisationen um eine Auswanderung junger Menschen mit einem begrenzten Wohlwollen betrachtet.[11]

Im Mai/Juni 1934 gab der Reichsführer SS, Chef des Sicherheitshauptamtes, einen geheimen Lagebericht mit dem Titel: "Die Judenfrage" heraus. Darin war zu lesen: "Uns erscheint am klarsten die Stellung der Zionisten, die nicht nur der Religion nach Juden sein wollen, sondern sich auch zu ihrer jüdischen Eigenart bekennen und zu einem völkischen Staat kommen wollen. Ihre Parolen: Studiert jüdische Geschichte, treibt verstärkt Bibelstudien, pflegt jüdisches Brauchtum, lernt wieder hebräisch und: Wandert aus nach Erez Israel, der gelobten Heimat." Der Bericht skizzierte den Stand der Umschulung von Juden in der Landwirtschaft und vermerkte hierzu: "Gegen eine solche Umschulung ist nichts einzuwenden, wenn sie in geschlossenen  Gruppen und im Hinblick auf eine spätere Auswanderung geschieht. Sie muss verhindert werden, wenn sie einzeln in deutschen Dörfern erfolgt und eine Ansiedlung in Deutschland vorbereiten soll."[12] Unter diesen Umständen waren nationalsozialistische Behörden bereit, die Tätigkeit des Hechaluz zu dulden; sie wurde jedoch sehr argwöhnisch beobachtet.

Am  20.10.1936 erschien unter dem Titel: "Die zionistische Weltorganisation" ein detaillierter  und umfangreicher Bericht  des Sicherheitshauptamtes.  Darin wurde der Hechaluz als marxistisch beeinflusste Organisation angesehen und ihm  - ebenso wie der gesamten ‘Zionistischen Vereinigung für Deutschland'  - eine "scharfe Gegnerstellung" zum nationalsozialistischen Staat bescheinigt. Der Bericht wurde am 21.03.1937 als Leitheft an alle Dienststellen des Sicherheitsdienstes versandt; in einer Anlage waren ihm genaue Anweisungen für Beobachtungen hinzugefügt worden.  So sollten die Teilnehmer der Umschulungskurse namentlich erfasst werden und nach dem Ende der Umschulung sollte geprüft werden, ob die Teilnehmer tatsächlich ausgewandert waren. Die Einstellung des Sicherheitsdienstes gegenüber der zionistischen Schulungsarbeit orientierte sich an folgendem Grundsatz:  Es "wird solange Bewegungsfreiheit in beschränktem Maße gewährt als durch ihre Förderung in der Auswanderung sichtbare Erfolge zu verzeichnen sind."[13]

Es wurde dem Autor von ehemaligen Chaluzim berichtet, dass der Brüderhof regelmäßig von zahlreichen uniformierten Polizisten mit scharfen Schäferhunden inspiziert worden war. Nach dem Pogrom vom November 1938 schien vielen nationalsozialistischen Stellen die Auswanderungsarbeit der zionistischen Organisationen zu langwierig, arbeitsintensiv und umständlich zu sein. Schärfere Maßnahmen zur Vertreibung der Juden aus Deutschland wurden nun eingeleitet.

>> Weiter: Epilog

Anmerkungen:
[1] Siehe Bettina Goldberg: Die Zwangsausweisung der polnischen Juden aus dem Deutschen Reich im Oktober 1938 und die Folgen. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 46. Jg., Nr. 11/1998, Seiten 971-984 sowie Gerhard Paul: Die Abschiebung des 'Volksfeinds'. In: Jungle World vom 04.11.1938. http://www.nadir.org/nadir/periodika/jungle_world/_98/45/27a.htm
[2] Brief von Jonathan Kinarthy aus Israel an den Autor vom 08. 11. 1997. Worterklärungen: Chawer, Chawerim (hebr. Kamerad, Kameraden), Madrich (hebr. Leiter, Erzieher).
[3] Fritz Lichtenstein, Vertraulicher Bericht über meinen Aufenthalt in Deutschland vom 17. bis 19. November 1938, geschrieben in Kopenhagen am 20.11.1938. Archiv des Kibbuz Meuchad - Yad Tabenkin/ Israel, Karton 10, Mappe 49.
[4] Mosche Auerbach, Brief an das Sekretariat des Kibbuz Meuchad vom 21.11.1938. Archiv des Kibbuz Meuchad - Yad Tabenkin/ Israel, Karton 10, Mappe 49.
[5] Jonathan Kinarthy, a.a.O.
[6] Siehe Bernd Philipsen: "Atempause auf der Flucht in ein Leben mit Zukunft". Der Kibbuz auf Gutshof 'Jägerslust' bei Flensburg (1934-1938). In Gerhard Paul / Miriam Gilles-Carlebach (Hg.): Menora und Hakenkreuz. Zur Geschichte der Juden in und aus Schleswig-Holstein, Lübeck und Altona (1918-1998), Neumünster 1998, S. 411-424.
[7] Brief von Charlotte Leidholdt, einer Tochter von Ernst Heinrich Leuschner, an den Autor vom 01.03.2006.
[8] Schreiben des Rauhen Hauses an das Landratsamt des Kreises Stormarn vom 28. 04. 1939 sowie Pachtvertrag mit den Alsterdorfer Anstalten vom 01. 11. 1939. Archiv des Rauhen Hauses, Bestand 2, Nr. 36.
[9] Kurt Goldmann, Brief an die Machleka, geschrieben im Juni 1939. Archiv des Kibbuz Meuchad - Yad Tabenkin/ Israel, Karton 10, Mappe 49.
[10] Siehe Uwe Danker: Oberpräsidium und NSDAP-Gauleitung in Personalunion: Hinrich Lohse. In Landeszentrale für Politische Bildung (Hg.): Nationalsozialistische Herrschaftsorganisationen in Schleswig-Holstein, Reihe Gegenwartsfragen 79, Kiel 1996, S. 23-44.
[11] Siehe Francis Nicosia: Jewish Farmers in Hitler's Germany: Zionist Occupational Retraining and Nazi 'Jewish Policy'. In Holocaust and Genocide Studies, hg. United States Holocaust Memorial Museum, Washington/USA, 19/2005, S. 365-389.
[12] Lagebericht des Reichsführers SS, Chef des Sicherheitshauptamtes vom Mai/Juni 1934: "Die Judenfrage". Bundesarchiv Koblenz, Bestand R 58/229.
[13] Bericht des Reichsführers SS, Chef des Sicherheitshauptamtes vom 20. 10. 1936: "Die Zionistische Weltorganisation". Bundesarchiv Koblenz, Bestand R 58/955. S. 60 ff. und 73 ff.

hagalil.com 15-04-2007

 

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