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Zionistische Erziehung im norddeutschen Moor:
Die Ausbildungsstätte des Hechaluz auf dem Brüderhof bei Harksheide

Von Sieghard Bußenius

Wenige Kilometer nördlich der Stadtgrenze von Hamburg bereiteten sich junge Juden in den ersten Jahren der NS-Zeit auf die Auswanderung nach Palästina vor.  Die zionistische Jugendorganisation Hechaluz (hebr. Der Pionier) unterhielt dort eine landwirtschaftliche Ausbildungsstätte, die allen Zeichen der Zeit zum Trotz als Kibbuz bezeichnet wurde. Es soll hier von der kurzen Geschichte des Kibbuz berichtet werden; dabei werden persönliche Erinnerungsberichte ebenso verwendet wie verstreute Archivalien aus Deutschland und Israel.

Die Entstehung des Kibbuz Brüderhof

Am 10.03.1923 erwarb die evangelische Stiftung 'Das Rauhe Haus' in Hamburg-Horn einige Ländereien im so genannten 'Zwickmoor', das bei dem Dorf Harksheide im damaligen Landkreis Stormarn lag.[1] Es war zunächst ein 40,7 Hektar großes Moorgebiet, das der Kreis Stormarn zusammen mit einem Torfwerk in jener Inflationszeit für 120 Millionen Mark an das Rauhe Haus verkaufte. Weiterhin erhielt das Rauhe Haus einen benachbarten Bauernhof, dem sich 23 Hektar landwirtschaftlich nutzbares Gelände anschlossen. Diesen Besitz tauschte ein ortsansässiger Landwirt gegen zwei Hamburger Grundstücke des Rauhen Hauses ein. So hatte die evangelische Stiftung ein zusammenhängendes Grundstück von 64 Hektar in einer einsamen Gegend, weit von ihrem Stammgelände entfernt, bekommen.

Das Rauhe Haus war bereits am 12.09.1833 von Johann Hinrich Wichern gegründet worden. Seit jener Zeit hatte die Anstalt hilfsbedürftigen Jugendlichen Unterkunft und Verpflegung, schulische und religiöse Unterweisung, Arbeitsplätze und berufliche Orientierung geboten.[2] Von der neuen Außenstation erhoffte man sich 1923 eine geeignete Arbeitsstelle für ältere Jugendliche, eine ständige Versorgung mit Torf als billigem Brennstoff und ein gutes Anbaugebiet für landwirtschaftliche Erzeugnisse. Die Mitarbeiter des Rauhen Hauses hatten sich seit Wicherns Zeiten in einer 'Brüderschaft' zusammengeschlossen. So lag es nahe, der neuen Außenstation den Namen 'Brüderhof' zu geben. Pastor Fritz Engelke, der Vorsteher des Rauhen Hauses, beschrieb 1927 den Brüderhof:

"Er ist ein kleines Moorgut von 300 Morgen, das in der Inflationszeit gekauft wurde, um dort Torf zu gewinnen und damit die Beheizung der Anstalt zu erleichtern. Inzwischen hat sich ja darin vieles geändert. Heute ist es wieder billiger, mit Kohle zu heizen als mit Torf. Und doch freuen wir uns dieses kleinen Brüderhofes. 60 arbeitslose junge Männer sind dort in vier Baracken untergebracht und machen dort das Land urbar. Es sind junge Leute zwischen 18 und 25 Jahren, etwa, die das Wohlfahrtsamt in Hamburg uns zuweist."[3]

Der Brüderhof brachte jedoch schon einige Jahre später wirtschaftliche Probleme für das Rauhe Haus mit sich. Die Belegung des Hofes mit Arbeits- und Obdachlosen der Hamburger Fürsorgestelle erwies sich als wenig rentabel und musste bald eingestellt werden. Kohle war nach der Wirtschaftskrise wieder billiger als Torf geworden. So verpachtete das Rauhe Haus den Brüderhof an den Landwirt Ernst Heinrich Leuschner, dem für einen jährlichen Pachtzins von 1500 Reichsmark das gesamte Gelände mit allem Inventar am 15.03.1930 übergeben wurde. In den Jahren 1930 – 1932 wurden auf dem Hof zusätzlich Fürsorgezöglinge der Stadt Berlin untergebracht; von 1932 – 1934 wurde dort ein Freiwilliger Arbeitsdienst betrieben. Bald beklagte sich der neue Pächter des Hofes über Missernten und andere Widrigkeiten; mehrmals wurde von ihm eine Minderung des Pachtzinses beantragt.

Im Jahre 1933 hatte auch im Rauhen Haus die nationalsozialistische Ära begonnen. Im September wurde der 100. Gründungstag der Anstalt zusammen mit dem 9. Deutschen Diakonentag begangen. Auf einer außerordentlichen Vertreterversammlung des Deutschen Diakonenverbandes, die anlässlich des Jubiläums am 14.09.1933 stattfand, wurde eine 'Hamburger Entschließung' verabschiedet. Darin hieß es:

"Wir begrüßen den nationalsozialistischen Aufbruch unseres Volkes als eine Gnade Gottes und nehmen mit unserem ganzen Sein, Denken, Fühlen und Wollen daran teil, hoffend, dass nun Volk und Kirche eine lebendige Gemeinschaft werde."[4]

Man wollte jedoch das Rauhe Haus als selbständige Einrichtung erhalten und eine möglicherweise drohende Verstaatlichung der Erziehungsarbeit verhindern. Daher waren die Leitungsorgane der Anstalt bestrebt, durch ein demonstratives Wohlverhalten gegenüber den neuen Machthabern keinen Anlass für Sanktionen zu bieten. Am 17.01.1934 gab der Verwaltungsrat vor geladenen Vertretern der NSDAP seine ausdrückliche Zustimmung zur "staatspolitischen, völkisch-nationalsozialistischen Erziehung im Rauhen Hause".[5]

In dieser Anstalt, die in kirchlich-oppositionellen Kreisen gelegentlich als ‘Braunes Haus' bezeichnet wurde, erhielten jüdische Jugendliche 1934 - 1939 die Möglichkeit, sich mit körperlicher Arbeit und geistiger Schulung auf die Auswanderung nach Palästina vorzubereiten. Es stellt sich natürlich die Frage, wie eine jüdische Ausbildungsstätte unter diesen Umständen entstehen und bestehen konnte.

August Füßinger, der 1927 - 1966 Erziehungsinspektor des Rauhen Hauses war, berichtete 1982 aus seinen Erinnerungen: "Im Mai 1934 kam ein Herr Sternberg vom Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens in die Hauptanstalt in Hamburg wegen (der) Unterbringung eines Umschulungslagers."  Daraufhin hätte man den Brüderhof besichtigt und dem Verein, nach ausdrücklicher Genehmigung durch den Reichsstatthalter und NSDAP-Gauleiter Hinrich Lohse in Kiel, ein Haus als Unterkunft für 50 Schulungspersonen vermietet.[6]

Der 'Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens' war jedoch im Deutschen Reich die größte Organisation jener Juden, die nach Gleichstellung und Assimilation strebten und einen jüdischen Nationalismus entschieden ablehnten. Gegründet im Jahre 1893 organisierte der Centralverein einen beständigen Abwehrkampf gegen den Antisemitismus; dieser stützte sich auf juristische Schritte, publizistische Tätigkeiten und argumentative Überzeugungskraft.[7] Es stand dem Centralverein fern, jüdische Jugendliche 1934 zur Auswanderung nach Palästina anzuregen.

Der Brüderhof wurde vielmehr von der 'Reichsvertretung der deutschen Juden' als landwirtschaftliche Ausbildungsstätte für die zionistische Jugendorganisation Hechaluz angemietet.[8] Nach den Nürnberger Rassegesetzen von 1935 musste die Organisation ihren Namen in 'Reichsvertretung der Juden in Deutschland' ändern.

>> Weiter: Hechaluz

Anmerkungen:
[1] Für die folgenden Angaben zum Brüderhof wurden unterschiedliche Akten im Archiv des Rauhen Hauses, Bestand 2, Nr. 36 und 37 verwendet.
In manchen Überlieferungen wurden für den Brüderhof die Ortsangaben 'Ochsenzoll' oder 'Tangstedt' benutzt. Diese sind nur teilweise richtig. Der Hof gehörte zur Gemarkung Harksheide, die bis 1938 dem Amtsbezirk Tangstedt zugeordnet war. Ab 1938 bildete Harksheide einen eigenen Amtsbezirk. Geographisch lag der Brüderhof nördlich des historischen Ochsenzolls, der in früheren Jahrhunderten die Zollgrenze zur Hansestadt Hamburg markierte. Seit dem 1.1.1970 gehört der Brüderhof zur neu gegründeten Stadt Norderstedt, die nunmehr dem Landkreis Segeberg zugeteilt wurde.
[2] Zur Geschichte des Rauhen Hauses siehe: http://www.rauheshaus.de/stiftung/geschichte/ als kurze Einführung. Weiterhin Thomas Ehlert: Kleine Geschichte des Rauhen Hauses, Hamburg 2003.
[3] Das Rauhe Haus – Brunnenstube der Inneren Mission, Hamburg 1927. S. 68.
[4] Festbericht: 100 Jahrfeier des Rauhen Hauses und der Männlichen Diakonie - 9. Deutscher Diakonentag, Berlin 1933, S. 44. Zum Hintergrund siehe: Brüderschaft und 3. Reich. Studie eines Forschungs-Seminars an der Ev. Fachhochschule für Sozialpädagogik der Diakonenanstalt des Rauhen Hauses, 2. Auflage, Hamburg 1988, besonders S. 25 ff.
[5] Protokoll des Verwaltungsrates vom 17. 01. 1934, S. 6. Archiv des Rauhen Hauses.
[6] August Füßinger: Leserbrief zum Thema "Brüderschaft und Drittes Reich". In: Der Brüder-Bote, hg. im Auftrag der Brüderschaft des Rauhen Hauses, Hamburg, Nr. 3/1982, S. 6.
[7] Siehe Avraham Barkai: "Wehr Dich!". Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 1893-1938. München 2002.
[8] Reichsvertretung der Juden in Deutschland, Richtlinien für die Berufsausbildung von Juden in Deutschland, Berlin o. J. (1936),  S. 13.  Kölner Bibliothek zur Geschichte des Judentums, Germania Judaica.

hagalil.com 15-04-2007

 

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