Die letzten Tage:
Die Ermordung der Juden Ungarns
Dr. RANDOLPH BRAHAM
Es gehört zu den großen
Tragödien des Zweiten Weltkriegs, dass die ungarischen Juden noch so kurz
vor dem Sieg der Alliierten ausgelöscht wurden. Obzwar zahlreichen
diskriminierenden Maßnahmen ausgesetzt, die annähernd 64.000 Juden das
Leben kosteten und der jüdischen Bevölkerung die fundamentalen
Bürgerrechte entzogen, überlebte der größte Teil der ungarischen Juden
die ersten Kriegsjahre.
Im Oktober 1942 traten einige
hochrangige ungarische Persönlichkeiten heimlich an einen von Adolf
Eichmanns engsten Mitarbeitern heran, um ein "Umsiedlungsprogramm" zu
erörtern, von dem zunächst 100.000 sogenannte "Ostjuden" aus dem
Nordosten Ungarns betroffen sein sollten. Eichmann, der sich darüber im
klaren war, dass die damalige ungarische Regierung einer "Lösung"
nach deutschem Muster ablehnend gegenüberstand, zog es vor, so lange zu
warten, bis die Ungarn der "Umsiedlung" aller Juden zustimmten. Die
deutsche Besetzung Ungarns am 19. März 1944 schaffte dafür die
Voraussetzungen.
Die Ereignisse, die zur Besetzung
führten, begannen kurz nach der Niederlage der deutschen und ungarischen
Truppen bei Woronesh und Stalingrad Anfang 1943. Als deutlich wurde, dass
die Achsenmächte den Krieg verloren hatten, bemühte sich die Regierung Kállays,
Ungarn aus der Allianz mit Deutschland zu lösen. Hitler war über die
heimlich mit den westlichen Alliierten geführten Verhandlungen der Ungarn
informiert und wollte ihre Pläne durchkreuzen, damit war das Schicksal
der ungarischen Juden besiegelt.
Die deutsch Besetzung schaffte die
Voraussetzungen für die Nazis und ihre Komplizen, die "Endlösung"
innerhalb kürzester Zeit durchzusetzen. Und Zeit spielte eine
entscheidende Rolle. Die Rote Armee rückte zügig auf die rumänischen
Grenzen vor, während die westlichen Alliierten kurz vor Abschluß ihrer
Vorbereitungen für den D-Day standen. Mit Ausnahme einiger weniger
Uneinsichtiger war selbst den Nazis klar, dass die Achsenmächte den Krieg
verloren hatten.
Vor diesem Hinter grund beschloß
die SS, zumindest den Krieg gegen die Juden zu gewinnen und aufgrund der
Erfahrungen, die sie mit dem Massenmord an Juden im von Deutschland
beherrschten Europa gesammelt hatten, waren die Nazis in der Lage, die
Operation in Ungarn in größter Eile durchzuführen. Die Kapazitäten der
Todes- fabriken in Auschwitz wurden erhöht und die Gleisanlagen so
ausgebaut, dass sie nun direkt zu den Gaskammern von Birkenau führten.
Innerhalb Ungarns bestand das Eichmann-Sonderkommando, dem relativ wenige
SS-Berater angehörten und das die volle Unterstützung der neuen
Regierung Sztójay genoß.
Ohne diese eindeutige
Unterstützung wären die Nazis hilflos gewesen. Die rechtmäßig ernannte
Regierung stellte den Sonderkommandos alle Mittel staatlicher Gewalt zur
Verfügung: Die Fassade der nationalen Souveränität blieb mit Horthy an
der Spitze aufrechterhalten, während Polizei, Gendarmerie und
Beamtenschaft mit der SS zusammenarbeiteten. Dabei legten sie eine
Routiniertheit und brutale Effizienz an den Tag, die häufig sogar die der
Nazis übertrafen.
Auf die Isolierung
folgte die Ermordung
Von Ende März bis Mitte Mai 1944
schlossen sie und ihre Nazi-"Berater" die erste Phase der
Judenverfolgung ab: Die ungarischen Juden wurden isoliert, gekennzeichnet,
enteignet und in Ghettos getrieben. Im Laufe der nächsten zwei Monate
wurden sie Opfer eines ebenso barbarischen wie mit irrsinniger
Geschwindigkeit durchgeführten Deportations- und Vemichtungsprogramms,
mit dem die Krematorien in Auschwitz-Birkenau nicht mithalten konnten.
Gruben mußten ausgehoben werden,
um Tausende von Opfern zu verbrennen, die in den Krematorien nicht mehr
beseitigt werden konnten. In diesem letzten großen Vernichtungsfeldzug
der Nazis gegen die europäischen Juden wurden annähernd 440.000
ungarische Juden deportiert. Als die Deportationen am 9. Juli ausgesetzt
wurden - dem Tag, an dem Raoul Wallenberg in Budapest eintraf, um seine
Rettungsmission durchzuführen, war ganz Ungarn mit Ausnahme Budapests
bereits "judenrein".
Das Ausmaß der Katastrophe laßt
sich durch folgendes Zahlenmaterial illustrieren:
Am 6. Juni 1944 (dem D-Day), als die größte multinationale Armada, die
jemals unter einem Kommando vereinigt worden ist, die Strände der
Normandie erstürmte, erreichten drei Transporte mit annähernd 12.000
Juden aus dem Norden Siebenbürgens Auschwitz-Birkenau. Am Ende desselben
Tages war die Zahl der Gefallenen der alliierten Truppen nur halb so groß
wie die Zahl der ermordeten Juden.
Während die Alliierten in der
Folge, d. h. nach der Sicherung der Normandieküste, immer weniger
Gefallene zu beklagen hatten, blieb die Zahl der Tag für Tag ermordeten
ungarischen Juden bis zum 9. Juli konstant. Die Zahl der Kriegstoten
Großbritanniens (das besonders unter den deutschen Angriffen zu leiden
hatte), Zivilisten wie Soldaten zusammengenommen, war nur halb so groß
wie die Zahl der ums Leben gekommenen ungarischen Juden. Sinn und Zweck
derartiger Vergleiche ist keineswegs, die von den westlichen Alliierten
erbrachten Opfer herunterzuspielen, sondern viel mehr das Ausmaß des
Holocaust in Ungarn zu verdeutlichen.
Als Ende 1944 durch den Vormarsch
der Roten Armee Auschwitz als Zielort nicht länger in Frage kam, zwang
man Tausende Budapester Juden, in Richtung der deutschen Reichsgrenzen zu
marschieren. Viele Gefangene - ohne Schuhe, ausgezehrt und mit
unzureichender Kleidung, starben an Hunger und Typhus. Noch mehr kamen in
den Lagern entlang der Grenze oder in den Konzentrationslagern in
Deutschland ums Leben: in Mauthausen, Buchenwald und Bergen-Belsen.
Etwa ein Zehntel aller im Zweiten
Welt krieg ermordeten europäischen Juden war aus Ungarn, nämlich
600.000. Mehr als zehn Prozent von ihnen starben als Zwangsarbeiter.
War das System der Zwangsarbeit vor der Besetzung Ungarns eine
Strafmaßnahme, stellte es nach dem Einmarsch der Deutschen eine
potentielle Zuflucht dar. Unter der direkten Jurisdiktion der Ungarn
genossen die Zwangsarbeiter den Schutz des Militärs. Einige Offiziere "rekrutierten"
sogar Juden, um sie vor der Deportation zu bewahren. Deren Situation
verschlechterte sich allerdings nach dem Staatsstreich der Pfeilkreuzler
am 15. Oktober 1944: In den letzten Monaten des Krieges wurden
Tausende von Zwangsarbeitern deportiert und teilten das traurige Schicksal
der Juden.
Ich selbst bin ein Überlebender
des ungarischen Holocaust. Als ich am 4. Oktober 1943 zur Zwangsarbeit
eingezogen wurde, verabschiedete ich mich von meinen Eltern in dem
Glauben, schon bald wieder zu Hause zu sein. Doch ich sah sie nie wieder.
Ich wußte nicht, was mit ihnen geschehen war, bis ich 1945 meine
Schwester Margaret wiederfand, die aus einem Konzentrationslager in
Norddeutschland befreit worden war. Bei der Ankunft in Auschwitz hatte man
sie von den Eltern getrennt: Sie wurden in die Reihe derer geschickt, die
man vergaste.
Ich wurde im Januar 1945 nahe der
ungarisch-slowakischen Grenze befreit. Zunächst kam ich in ein
sowjetisches Kriegsgefangenenlager, dann kehrte ich in meine Heimatstadt
zurück und nahm mein Studium wieder auf. Nachdem ich ein Jahr lang in
meiner völlig zerstörten Heimatstadt gelebt hatte, zog ich zu meinen
Verwandten in die USA. Ein Hillel-Stipendium ermöglichte mir das Studium
am City College von New York, dem ich als Mitglied der Fakultät bis zu
meiner Pensionierung im Jahre 1992 verbunden blieb.
Während der Arbeit an meiner
Promotion in Politologie entwickelte ich ein besonderes Interesse für den
Holocaust. 1953/54 wurde ich außerordentliches Mitglied des
YIVO-Institute for Jewish Research und erstellte Bibliographien und
Dokumentationen für Yad Vashem, die in eben dieser Zeit errichtete
Gedenkstätte in Jerusalem. Selbstredend beschäftigte mich auch das
Rätsel, wie es gelingen konnte, Ungarn am Vorabend des alliierten Sieges "judenrein"
zu machen, als die gesamte Welt schon Kenntnis von Auschwitz hatte.
Kein anderes Kapitel der Geschichte
der Menschheit ist so gut dokumentiert wie der Holocaust. Aber hat die
Welt ihre Lektion daraus gelernt? Die Mahnung des amerikanischen
Philosophen George Santayana gilt noch immer: Wir müssen aus der
Vergangenheit lernen, um die Zukunft zu sichern. Wenn man sich die großen
Katastrophen der Nachkriegszeit vor Augen hält - die Massenmorde in
Uganda, dem Sudan, Ruanda, Burundi, Kambodscha und auf dem Balkan, dann
ist man zu glauben geneigt, die Welt habe nur wenig gelernt.
Ich bin der festen Überzeugung, dass
der Holocaust gelehrt werden muß als ein Kapitel in der langen Geschichte
der Unmenschlichkeit, der Verbrechen von Menschen an Menschen. Jener
Geschichte, die uns eine Unmenge von Lektionen über die zerstörerische
Wirkung von Intoleranz und Hass, Diskriminierung und Verfolgung
vermittelt. Es herrscht Einigkeit darüber, dass der Holocaust in der
Geschichte der Unmenschlichkeit von Menschen an Menschen einzigartig ist:
Der Holocaust muß gelehrt werden als das Höchstmaß des Terrors, der
auftritt, wenn der Mensch seine moralische Integrität und seinen Glauben
an die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens verliert.
Erschienen in "Die
letzten Tage"
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haGalil onLine 02-05-2000
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