Aus den Erinnerungen von Karl
Wieninger:
Der Weg ins ElendIm September 1938 erlebte München einige glanzvolle Tage.
Außer Hitler und Mussolini mit ihren Stäben der Nationalsozialisten und Faschisten,
hielten sich der britische Premierminister Chamberlain und der französische
Ministerpräsident Daladier mit großen Regierungsdelegationen in München auf. Sie waren
auf die verschiedenen Hotels der Stadt verteilt, die französische Delegation zum Beispiel
hatte das damalige Hotel Regina (das es heute nicht mehr gibt) zugeteilt bekommen.
Es
herrschte eine weltstädtische Atmosphäre, und das Ergebnis, das Münchner
Abkommen, weckte selbst bei Gegnern des Nationalsozialismus die Hoffnung auf
einen dauerhaften Frieden für Europa.
Am 26. September 1938 führte Hitler in
seiner berühmten Berliner Sportpalastrede noch aus, dies sei seine letzte territoriale
Forderung, die er an Europa zu stellen habe.
Drei Tage später unterschrieben Chamberlain
und Daladier den Rechtsanspruch des Deutschen Reiches auf die rein deutsch besiedelten
Gebiete am Rand der Tschechoslowakei, das
Sudetenland. Schon ein halbes Jahr später hatte Hitler jedoch das
Versprechen seiner Sportpalastrede gebrochen: Am 13. März 1939 wurde der neue Präsident
der "Rest-Tschechei", Emil Hacha, nach Berlin zitiert. In beleidigender Weise ließ man den
Präsidenten eines souveränen Staates von 18 Uhr bis nachts 2 Uhr warten, bis er zu
Hitler vorgelassen wurde. Dieser eröffnete dem greisen Staatsmann, daß die deutsche
Wehrmacht früh 6 Uhr in das tschechische Hoheitsgebiet einmarschieren werde.
Zum 9. November 1938, sollte
der schon zur Tradition gewordene Rummel zum Gedenken an die Toten des 9. November 1923,
mit dem inzwischen feststehenden Ritual an neu errichteten sogenannten Ehrentempeln am
Königsplatz begangen werden. Da verbreitete der Reichsrundfunk eine Meldung aus Paris,
daß dort ein deutscher Diplomat von einem Juden ermordet worden sei.
Am selben Abend forderte Goebbels in München
zu härtestem Vorgehen gegen alle Juden auf, und von München aus wurde für die Nacht vom
9. zum 10. November ein Pogrom im ganzen Reich organisiert.
In vielen Städten wurden die deutschen
Synagogen - mit zum Teil tausendjähriger Tradition - angezündet (in München war bereits
im Jahr zuvor die Hauptsynagoge aus angeblich stadtplanerischen Gründen abgerissen
worden). Viele jüdische Warenhäuser gingen in Flammen auf oder wurden geplündert. Auch
Menschen wurden ermordet, und viele Deutsche, die sich dagegen auflehnen wollten, wurden
verhaftet. Mancher Polizeibeamte versteckte sich schamhaft mit schlechtem Gewissen, um
nicht gegen die Räuber und Mörder einschreiten zu müssen.
Die ganze verbrecherische Aktion, die sich
über mehrere Tage im deutschen Reichsgebiet, vor allem in den von Juden besonders
zahlreich besiedelten neu eingegliederten Gebieten Österreich und Sudetenland, hinzog,
muß in der Reichszentrale der NSDAP in München am 9. November sehr sorgfältig geplant
worden sein. Sicher sind auch bürokratisch sorgfältige Pläne mit Richtlinien usw.
angelegt worden. Nur haben die führenden Parteibeamten in den letzten Tagen vor dem
Einrücken der US-Army Ende April 1945, gemäß dem Befehl des letzten Gauleiters Giesler,
alle Akten verbrannt.
In den Bunkern unter dem ehemaligen
Parteiarchiv im Bereich Brienner und Arcisstraße sowie Königsplatz, sind in Treppen und
Gängen noch immer die tiefschwarzen Brandspuren aus den letzten Kriegstagen zu sehen. Ein
Hausmeister des inzwischen staatlich-bayerischen Eigentums erzählte vor kurzem auf
Anfrage, die vielen Brandspuren würden von Brandbomben des Zweiten Weltkriegs stammen.
Augenzeugen aus der Zeit 1945 erzählten aber, daß tagelang aus Straßenschächten und
Gebäuden an der Briennerstraße Rauchwolken aufgestiegen seien. Auch die Pläne zum
Pogrom vom 9./10. November 1938 müssen dieser Archiv-Vernichtungsaktion zum Opfer
gefallen sein.
Bekanntermaßen wurden SA- und SS-Trupps in
Zivil, zum Teil maskiert, von einem Stadtteil in den anderen oder in entfernte Orte
dirigiert, um dort ihr verbrecherisches Handwerk auszuüben. Am Morgen überließ man die
zertrümmerten jüdischen Geschäfte und Synagogen dem Zugriff ganz gewöhnlicher Räuber.
Zum Beispiel wurde in München-Pasing (einer gerade eingemeindeten Stadt im Westen
Münchens) die Auslage eines kleinen jüdischen Geschäftes am Morgen auf die Straße
geworfen. Augenzeugen können heute noch berichten, daß zu diesem Zeitpunkt Hunderte von
Schülern der bekannten Pasinger Gymnasien (bzw. Oberschulen) vom Bahnhof her zu ihren
Schulen strömten. Wer kann es den Kindern verdenken, daß sie aufhoben, was als
vermeintlich herrenloses Gut auf der Straße lag. Die Dreisteren gingen auch in das Innere
des Ladens, um sich aus dem wüsten Durcheinander Brauchbares herauszusuchen und
mitzunehmen. Gelegentlich griff Polizei gegen Räubereien ein und nahm den Dieben das
Diebesgut ab.
Auch das Anzünden von Häusern, vor allem von Synagogen,
wurde mancherorts durch die Ortspolizeibehörden unterbunden, wobei sich zuständige
Bürgermeister und Polizei auf die Gefahr für benachbarte Häuser hinausredeten.
Besonders bekannt wurde der Fall Bayreuth. Der Oberbürgermeister wies entschieden auf die
Gefahr für die ganze Altstadt hin. Als die SS-Leute nun den Versuch machten, die
altehrwürdige Synagoge einfach einzureißen, verhinderte der OB Dr. Kempfler auch dies,
mit der Begründung, daß durch unsachgemäße Abbrucharbeiten sich Unfälle ereignen
könnten. Schließlich wollten die Rechtsbrecher Einrichtungsgegenstände demolieren oder
verschleppen. Auch dies konnte er durch einen verstärkten Polizeieinsatz verhindern.*)
Frau S., die Besitzerin des kleinen Papierwarengeschäfts in
Pasing, sah ich zum letzten Mal, als sie aus Anlaß ihrer Deportation von der SS abgeholt
wurde. Es war am Morgen des Karfreitags 1942. Vor dem Hause Bürkleinstraße 16 stand ein
mit einer Plane bedeckter Lastwagen, auf dem sich eine größere Anzahl von Zivilisten
drängte. Zwei SS-Männer standen auf dem Bürgersteig, während zwei andere, die
Stahlhelme trugen und Maschinenpistolen in Händen hielten, die Insassen des Wagens
bewachten. Ich stand im Hause auf der Treppe und wollte gerade in ein oberes Stockwerk
gehen, als ein SS-Mann von der Straße hereinkam. Mit einem häßlichen Geschrei trommelte
er mit den Fäusten auf die Wohnungstüre der Frau Silber. Sie öffnete und rief
begütigend: ,,Was ist denn, was ist denn. Ich will mir ja doch nur noch einen Kuchen für
die Reise backen."
Der SS-Scherge brüllte: "Sie hatten Befehl, um 8 Uhr
reisefertig zu sein." Dabei schlug er der alten Frau eine Emailschüssel mit
Kuchenteig brutal aus der Hand. Sie kullerte durch das breite Treppenhaus auf das
Pflaster. Der schreiende Polterer packte die Frau, die an den Füßen nur Pantoffeln trug
und über ihr Kleid eine Küchenschürze gebunden hatte, an der Schulter und stieß sie
brutal zu dem Lastauto. Dabei schrie er: ,,Kuchen backen, Kuchen backen, Saumensch,
dreckiges." Ich sah noch, wie der Mann in die Wohnung hineinging und mit einem
verschnürten Paket und einer Schlafdecke herauskam. Den tragischen Zweck meines damaligen
Besuches in der Bürkleinstraße möchte ich in einem anderen Abschnitt dieses Bandes
schildern.
Nach Karl Wieninger: In München erlebte Geschichte
1985 - Verlag E. Strumberger, München - ISBN 3-921193-21-4
Hierzu folgende Anmerkungen (Ekkehard Hübschmann, im Rahmen der
Geschichtswerkstatt Bayreuth mit Forschungen zum Thema 'Juden in Bayreuth von 1759 bis
1942' befasst): Die aus in dem Buch von Karl Wieninger "In
München erlebte Geschichte" (München 1985) zitierte Passage, in der es um die
Ereignisse in der "Reichskristallnacht" in Bayreuth geht, ist in fast keinem
Punkt richtig. Ende Oktober 1998 hat die Geschichtswerkstatt Bayreuth eine Veröffentlichung
herausgegeben, in der Helmut Paulus, ein Jusitzhistoriker und pensionierter Rechtspleger,
die Geschehnisse anhand der Prozeßakten darstellt. Bei diesen handelt es sich vorallem um
die Akten vom Pogromstrafverfahren am
Landgericht Bayreuth 1947-49 sowie um solche von Spruchkammerverfahren.
09./10.November
1938
Am 8.November 1997:
Nazi-Aufmarsch in
München
Schoa / Shoa / Holocaust / Massenmord |