- Einleitung
- Die Beamtengesetze von 1933
- Was sind 'Nichtarier'?
- Paul Ehrenfest in Berlin - eine
Einschaetzung der Lage
- Hilfsorganisationen fuer die
Emigranten
- Weitere gesetzliche Massnahmen
- Statistiken ueber die
Vertreibungen
- Probleme fuer die
Stellenbesetzungen der theoretischen Physik
- Schlussbemerkungen
Einleitung
Schon in den ersten Wochen nach der nationalsozialistischen
Machtergreifung vom 30.Januar 1933 wurde offensichtlich, dass hier nicht nur ein normaler
Regierungswechsel stattgefunden hatte. Diese "nationale Revolution" leitete eine
radikale Umgestaltung der Gesellschaft ein, bei der politisch Andersdenkende und
sogenannte Nichtarier systematisch ausgegrenzt, vertrieben oder ausgeschaltet wurden. Die
Folgen des Reichstagsbrands vom 27.Februar, das Ermaechtigungsgesetz vom 24.Maerz sowie
der "Judenboykott" vom 1.April stellten nur die ersten Etappen dar.
Albert Einstein (1879-1955), der zwischen Dezember 1932 und
Ende Maerz Vortraege in den USA hielt, aeusserte sich dort kritisch ueber die neue
deutsche Regierung. Das fuehrte schliesslich am 28.Maerz zu dem Bruch mit dem Land, in dem
er seit 19 Jahren taetig gewesen war: "Die in Deutschland gegenwaertig herrschenden
Zustaende veranlassen mich, meine Stellung bei der Preussischen Akademie der
Wissenschaften hiermit niederzulegen." Es war zunaechst das Verhalten eines
Aussenseiters. Wie auch viele Wissenschaftler anderer Disziplinen verstanden die Physiker
ihre Taetigkeit als unpolitisch und vermieden oeffentliche Stellungnahmen. Selbst Max
v.Laue (1879-1960), der Einstein besonders nahe stand, schrieb ihm noch einige Wochen
spaeter vorwurfsvoll: "Aber warum musstest Du auch politisch hervortreten!"
Im Ausland erschienen die Ereignisse durch die Haeufung der
schlimmen Nachrichten moeglicherweise sogar dramatischer. Heisenbergs Leipziger Assistent
Felix Bloch (1905-1983), der sich im Maerz in seiner Zuericher Heimat aufhielt, berichtete
N.Bohr (1885-1962) am 6.April: "Ich spreche oefters mit Pauli und wir verfolgen die
Entwicklung, die die Verhaeltnisse in Deutschland von Tag zu Tag machen. Es sind in der
letzten Zeit auch viele Fluechtlinge in die Schweiz gekommen und was man von ihnen hoert,
wirkt staerker, als alle 'Greuel- propaganda'". Im weiteren sprach er die
Befuerchtung aus, es koennte bald Verfuegungen "betreffend juedischer Dozenten an
deutschen Hochschulen von seiten der Regierung" geben.
Die Beamtengesetze von 1933
Tatsaechlich kam es schon am naechsten Tag mit dem 'Gesetz
zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums' zu der ersten einer Reihe von Massnahmen, mit
der die Nationalsozialisten das deutsche Beamtenrecht in den folgenden Jahren voellig
veraenderten. Es betraf nicht nur die Hochschulen, hatte dort aber besonders
einschneidende Konsequenzen. Auch die Physik wurde davon in Mitleidenschaft gezogen.
Dieses Gesetz, dessen Geltungsbereich mit der 3.Durchfuehrungsverordnung vom 6.Mai auch
auf nichtbeamtete Professoren und Privatdozenten ausgedehnt wurde, regelte die Beendigung
der Arbeitsverhaeltnisse von politisch und 'rassisch' unliebsamen Beamten. Nach §3 waren
'Nichtarier' in den Ruhestand zu versetzen. Deren Definition zeigt die prinzipielle
Schwierigkeit des Antisemitismus. Die juedische Herkunft sollte unabhaengig von einer
konfessionellen Zugehoerigkeit bestimmt werden. Hier geschah das durch die Verlagerung auf
das religioese Bekenntnis der Grosseltern: "Als nicht arisch gilt, wer von nicht
arischen, insbesondere juedischen Eltern oder Grosseltern abstammt. Es genuegt, wenn ein
Elternteil nicht arisch ist. Dies ist besonders dann anzunehmen, wenn ein Elternteil oder
Grosselternteil der juedischen Religion angehoert hat."
Auf Initiative des Reichspraesidenten Hindenburg waren
Frontkaempfer und Beamte, die ihre Laufbahn schon vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges
begonnen hatten, davon ausgenommen. Nach §4 konnten politisch Unzuverlaessige entlassen
werden, eine willkuerlich auslegbare Bestimmung wie auch §6, der die nicht naeher
begruendete Versetzung in den Ruhestand "zur Vereinfachung der Verwaltung"
ermoeglichte. Alle Universitaetsangehoerigen mussten daraufhin umfangreiche Frageboegen
ausfuellen, in denen naehere Angaben ueber die Abstammung der Eltern und Grosseltern zu
machen waren.
In Goettingen entschloss sich James Franck (1882-1964) zu
einem oeffentlichen Protest gegen diese Massnahmen. Er selbst fiel zwar als Frontkaempfer
nicht unter das neue Gesetz, lehnte aber die Inanspruchnahme einer derartigen
Sonderregelung fuer seine Person ab. In Francks Erklaerung vom 17.April, die er dem Rektor
der Universitaet und auszugsweise auch der Goettinger Zeitung uebermittelte, hiess es
u.a.: "Ich habe meine vorgesetzte Behoerde gebeten, mich von meinem Amte zu
entbinden. Ich werde versuchen, in Deutschland weiter wissenschaftlich zu arbeiten. Wir
Deutsche juedischer Abstammung werden als Fremde und Feinde des Vaterlandes
behandelt." Trotzdem habe er Verstaendnis fuer diejenigen, "die es heute fuer
ihre Pflicht halten, auf ihrem Posten auszuharren." Die internationale Presse
berichtete ausfuehrlich darueber und selbst in deutschen ueberregionalen Zeitungen gab es
positive Kommentare.
Ein weiterer Protest kam aus Stuttgart. Am 20.April legte der Ordinarius fuer theoretische
Physik an der dortigen Technischen Hochschule Peter Paul Ewald (1888-1985) das Rektorat
nieder, weil es ihm nicht moeglich war, "in der Rassenfrage den Standpunkt der
nationalen Regierung zu teilen". Ewald gehoerte eigentlich zum betroffenen
Personenkreis. Ebenso wie seine beiden Grossvaeter war seine Frau juedischer Herkunft. Die
Ausnahmebestimmungen erlaubten ihm ein Verbleiben auf seiner Professur.
Spektakulaer war dann die Ruecktrittserklaerung von Fritz
Haber (1868-1934) vom 30.April. Wie Franck verzichtete er auf einen Ausnahmestatus fuer
sich selbst und verurteilte die diskriminierenden Gesetze: "Meine Tradition verlangt
von mir in einem wissenschaftlichen Amte, dass ich bei der Auswahl von Mitarbeitern nur
die fachlichen und charakterlichen Eigenschaften der Bewerber beruecksichtige, ohne nach
ihrer rassemaessigen Beschaffenheit zu fragen." Diese Ruecktritte waren kein Zeichen
der Resignation, sondern des Protestes, der nicht nur die akademische Oeffentlichkeit
aufruetteln sollte. Noch schien es Hoffnung fuer eine Zukunft in Deutschland zu geben.
Was sind 'Nichtarier'?
Der Kreis der 'Nichtarier' umfasste auch Personen, die weder
von ihrer Konfession noch von ihrem Selbstverstaendnis her eine Verbindung zum Judentum
hatten und so auch von ihrer Umwelt bis dahin damit gar nicht in Verbindung gebracht
wurden.
Hans Bethe (geb. 1906), der zu jener Zeit in Tuebingen vertretungsweise Vorlesungen ueber
theoretische Physik hielt, schrieb seinem Lehrer Arnold Sommerfeld (1868-1951) am
11.April: "Sie werden wahrscheinlich nicht wissen, dass meine Mutter Juedin ist: Ich
bin also nach dem Beamtengesetz 'nicht arischer Abstammung' und folglich nicht wuerdig,
Beamter des Deutschen Reiches zu sein." Der Tuebinger Ordinarius fuer
Experimentalphysik Hans Geiger (1882-1945), der zunaechst recht freundlich mit Bethe
umgegangen war, distanzierte sich in dieser Situation nun auch menschlich von ihm. Bethe
musste erkennen, seine Taetigkeit nicht mehr fortsetzen zu koennen: "Ob ... mein
Geburtsfehler bekannt ist und woher, habe ich keine Ahnung - jedenfalls bekam ich auf
Anfrage, was geschehen wuerde, den inliegenden Brief von Geiger, dessen Kuerze ich
eigentlich als fast beleidigend empfinde, und nach dessen Wortlaut ich nicht mehr glaube,
dass ich in Tuebingen noch viele Worte zu reden habe. Ich hatte eigentlich gedacht, dass
ein so schnelles 'Arbeiten' garnicht moeglich waere aus dem einfachen Grunde, weil es
garnicht so viele arische Theoretiker gibt." Bethe sah jetzt keine Perspektive mehr
in Deutschland: "Ich muss also wohl oder uebel die Konsequenzen ziehen und versuchen
irgendwo im Ausland unterzukommen."
Otto Stern (1888-1969) in Hamburg, selbst juedischer
Herkunft, ueberraschte die Tatsache, dass nicht nur zwei, sondern drei seiner vier
Assistenten aufgrund der Rassengesetze zum 31.Juli entlassen wurden. Bei dem dritten
handelte es sich um Otto Robert Frisch (1904-1979) der ebenso wie seine Tante Lise Meitner
(1878-1868) als Kind evangelisch getauft worden war.
Max Born (1882-1970) hatte sich trotz der juedischen
Abstammung seiner Eltern "nie besonders als Jude gefuehlt." Bezueglich seiner
Familie meinte er: "... sie sind Juden nur fuer heutige Gesetze, haben aber vorher
nie daran gedacht. Es fehlt bei ihnen (und auch bei mir) jede, aber auch jede
Gefuehlsbeziehung zum eigentlichen Judentum, seinen Formen und Gesetzen. Ich bin im Wesen
- oder glaube es zu sein - liberaler Westeuropaeer mit starkem deutschen
Kultureinschlag". Einer moeglichen Berufung an die Hebraeische Universitaet in
Jerusalem stand er ablehnend gegenueber: "Nationalist bin ich genau so wenig fuer
Juda wie fuer Germania, oder eigentlich weniger; denn ich kann weder hebraeisch noch kenne
ich die juedische Literatur, waehrend mir deutsche Sprache, Dichtung, Kunst ans Herz
gewachsen sind."
Die Reihe solcher Beispiele liesse sich fortsetzen. Weder die
assimilierten deutschen Juden noch der weitaus groessere Kreis der Betroffenen hatte bis
dahin einer erkennbaren, abgrenzbaren Minderheit angehoert. Erst der Nationalsozialismus
brandmarkte sie nun alle als 'Nichtarier'.
Paul Ehrenfest in Berlin - eine Einschaetzung der Lage
Es ist aufschlussreich wie einige der massgeblichen Physiker
die Situation Anfang Mai angesichts der ersten Beurlaubungen und Entlassungen
einschaetzten. Dabei findet man die Ansicht, dass die Anhaenger der Regierung weitaus
radikaler seien als diese selbst. So ging von den nationalsozialistischen Studenten mit
ihren Aufrufen und den Versuchen zu Vorlesungsboykotts tatsaechlich ein besonders
aggressiver Antisemitismus aus. Aber gerade dieser Extremismus und die vermeintliche
Abschwaechung einzelner Verordnungen in den neuen Schulgesetzen konnten den Eindruck
erwecken, die verantwortliche Politik wuerde bald einen gemaessigteren Kurs einschlagen.
Darauf setzten jedenfalls prominente Physiker wie Laue, Max Planck (18581947) oder Werner
Heisenberg (1901-1976). Sie hofften, dass nach einer Beruhigung der Lage vielleicht auch
einige der beurlaubten Kollegen auf die alten Posten zurueckkehren wuerden. Oeffentliche
Proteste, die ohnehin ausserhalb ihrer ueblichen Ausdrucksformen lagen, erachteten sie in
dieser Situation eher als schaedlich. Sie fuerchteten, damit die Lage der gefaehrdeten
Kollegen zu verschaerfen und meinten, ihren Einfluss auf andere Weise besser nutzen zu
koennen. Planck meldete sich in seiner Eigenschaft als Praesident der
Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zu einem Antrittsbesuch bei Hitler an, der am 16.Mai
zustandekam. Es gibt widerspruechliche Berichte ueber das Gespraech zwischen Planck und
Hitler, aber Aenderungen der Entlassungspolitik bewirkte es nicht. Auch Interventionen in
einzelnen Faellen blieben erfolglos.
Haeufig rissen die Umstaende der Vertreibung in
gefuehlsmaessiger Hinsicht unueberbrueckbare Graeben auf. Born verlor jedes Interesse an
einer Rueckkehr: "Mich ueberlaeuft ein Schauder, wenn ich mir vorstelle, ich muesste
aus irgendwelchen Gruenden noch einmal vor die Studenten treten, die mich herausgeworfen
haben, oder unter den Kollegen leben, die sich damit abgefunden haben." Nicht einmal
die Ausnahmeregelungen wurden strikt angewendet. Beispielsweise verlor der Hamburger
nichtbeamtete ausserordentliche Professor Walter Gordon (1893-1939) die Lehrbefugnis zum
1.September, obwohl er Frontkaempfer war. Sein dortiger Kollege Rudolf Minkowski
(18951976) verblieb deshalb zwar zunaechst im Amt, wurde aber im Maerz 1934 mittels §6
des Berufsbeamtengesetzes entlassen, was keine naehere Begruendung erforderte.
Laue wollte die Probleme fuer die Physik in Deutschland mit
dem in Leiden lehrenden Paul Ehrenfest (1880-1933) diskutieren, der auf seine Einladung
hin am 5.Mai fuer ein Wochenende nach Berlin kam. Ehrenfest fuehrte zahlreiche Gespraeche
mit Kollegen, darunter auch ein sehr sachliches mit dem fuer den Nationalsozialismus
engagierten Johannes Stark. Bei dem ueber drei Stunden dauernden Gespraech bestritt Stark
jede Verantwortung bzw. Mitwirkung an der Entlassungspolitik, betonte aber, seinen
Einfluss zu gebrauchen, "um die 'verderbliche Ueberherrschung der theoretischen ueber
die [sic!] Experimentalphysik' zu vernichten." Nach seiner Rueckkehr verfasste
Ehrenfest einen Bericht ueber die Verhaeltnisse in Deutschland, den er an zahlreiche
Physiker in verschiedenen Laendern verschickte. Er kam zu der Einschaetzung, dass die
juengeren juedischen Forscher, so gross ihre wissenschaftliche Reputation auch sei, in
Deutschland keinerlei berufliche Perspektiven mehr haetten, weder an der Universitaet,
noch an der Schule oder der Industrie.
Ehrenfest ging es um praktische Solidaritaet, wobei er seine
internationalen Verbindungen nuetzen konnte. Er regte Vortragseinladungen an, erkundigte
sich nach Beschaeftigungsmoeglichkeiten und wollte auf seinem Arbeitsgebiet wirksam
werden: "Unterbringung der besten theoretischen Physiker, meist Leute von etwa 30-35
Jahren. Wir bilden in der ganzen Welt eine ziemlich gut ueberblickbare, persoenlich stark
zusammenhaengende Gruppe und besonders in England, Frankreich und Belgien kommt nun die
Hilfsaktion rasch ins Rollen. Von Tag zu Tag sieht diese Teilaufgabe ermutigender aus.
Allerdings laesst sie alle schwaecheren Leute und allen wesentlich juengeren Nachwuchs
noch total unberuecksichtigt."
Hierfuer war es wichtig, eine Uebersicht der Entlassungen und
Beurlaubungen zu erhalten. Laue verschickte in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der
Deutschen Physikalischen Gesellschaft am 10.Mai, im uebrigen dem Tag der
Buecherverbrennungen, ein Schreiben an alle Hochschulen, in dem er um Mitteilung der
"Namen und Adressen aller wissenschaftlich taetigen Physiker bis zu aelteren
Studenten hinunter" bat, die "unter der Wirkung des Beamtengesetzes vom April
dieses Jahres ihre Stellungen verlieren oder in ihrem Fortkommen wesentlich behindert
werden."
Im Ausland wurde die Entwicklung aufmerksam registriert. Der
Manchester Guardian druckte in der Ausgabe vom 19.Mai auf einer ganzen Seite die
sicherlich nicht vollstaendige Liste von 196 zwischen dem 13.April und 4.Mai entlassenen
Hochschullehrern aller Fakultaeten ab.
Hilfsorganisationen fuer die Emigranten
Die Hilfsbemuehungen begannen konkreter zu werden. In der
Londoner Times erschien am 24.Mai der Gruendungsaufruf des "Academic Assistance
Council", der sich das Ziel gesetzt hatte, Forscher bzw. Universitaetslehrer zu
unterstuetzen, die "on grounds of religion, political opinion, or race are unable to
carry on their work in their own country." Man wollte den Eindruck vermeiden, es
handle sich um eine gegen die deutsche Regierung gerichtete Aktion. Deshalb wurde
ausdruecklich betont, dass die Hilfe nicht auf Deutschland beschraenkt sei und allein
"the relief of suffering and the defence of learning" diene. Zu den
Unterzeichnern gehoerten u.a. auch die Physiker W.H.Bragg und E.Rutherford.
Aehnliche Initiativen gab es noch in vielen anderen Laendern.
Besonders zwei Vereinigungen erlangten groessere Bedeutung. In New York entstand das
"Emergency Committee in Aid of Displaced German Scholars", das am 27.Mai ein
erstes Rundschreiben an die Praesidenten der amerikanischen Colleges und Universitaeten
verschickte. Emigrierte deutsche Hochschullehrer gruendeten in Zuerich die
"Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland". Im Sommer 1933 gelang
ihnen mit der Unterbringung von etwa 30 Wissenschaftlern in Istanbul ein
aufsehenerregender Erfolg. Born engagierte sich hier als Vorstandsmitglied. Seit dem
12.Mai existierte auch bei der Rockefellerstiftung, die hauptsaechlich Spitzenforschung
foerderte, ein spezieller Fonds fuer vertriebene Gelehrte aus Deutschland.
Neben der Vermittlung von Kontakten zwischen den Vertriebenen
und interessierten wissenschaftlichen Institutionen bemuehten sich alle
Hilfsorganisationen um die Beschaffung zusaetzlicher Gelder. Damit sollten
ausserplanmaessige Stellen speziell fuer Emigranten eingerichtet werden. Vor dem
Hintergrund der Weltwirtschaftskrise versuchte man so den Eindruck zu vermeiden,
einheimische Wissenschaftler wuerden zugunsten von Emigranten benachteiligt. Einige
Universitaeten bekamen auf diese Weise hervorragende Fachleute, deren Gehaelter sie
wenigstens zeitweise nicht selbst zu bezahlen brauchten. Bald kursierten Wunschlisten mit
prominenten Namen. Fuer beruehmte Physiker wie Born oder Franck gab es genuegend Angebote,
aber schwierig wurde es mitunter fuer die aelteren, wozu schon die ueber 40jaehrigen
rechneten, und die jungen, die noch nicht genuegend Gelegenheit gehabt hatten, sich zu
profilieren.
Weitere gesetzliche Massnahmen
In den wenigen Wochen des April und Mai 1933 hatte sich die
Wissenschaftslandschaft in Deutschland radikal veraendert. Durch die zahlreichen Verluste
waren unuebersehbare Schaeden entstanden. Die grossen Persoenlichkeiten der Physik in
Deutschland wie Planck fuerchteten vor allem den Qualitaetsverlust fuer ihr Fach. Gute
Physik betrachteten sie als ein Stueck Kultur, das es unabhaengig von den politischen
Randbedingungen zu verteidigen galt. Aber die Strategie der stillen Proteste und des
Abwartens blieb erfolglos. Als dann sogar der weder politisch noch 'rassisch' betroffene
Erwin Schroedinger (1887-1961) im Herbst seinen Lehrstuhl in Berlin verliess, sprach
Planck von einer neuen schweren Stunde der Berliner Physik.
Die Hoffnung, die Politik der Nationalsozialisten wuerde bald
auf einen gemaessigteren Kurs umschwenken, hatte sich als Illusion erwiesen. Planck hielt
das Ausharren in Deutschland dennoch fuer eine Pflicht und schrieb an Laue, dass "wir
mit aller verfuegbaren Energie Stand halten muessen." In den folgenden Jahren kam es
jedoch zu weiteren Verschaerfungen der Beamtengesetzgebung. Das Reichsbuergergesetz vom
15.September 1935 unterschied zwischen Reichsbuergern, welche die vollen Rechte besassen,
und Staatsbuergern. Personen mit drei bis vier juedischen Grosseltern konnten nur
Staatsbuerger sein und verloren zum 31.Dezember 1935 ihre Beamtenstellen.
Ausnahmeregelungen hatte man nicht mehr vorgesehen. Einen gewissen Abschluss der
Massnahmen bildete das Deutsche Beamtengesetz vom 21.Januar 1937, das nur diejenigen zum
Staatsdienst zuliess, die "deutschen oder artsverwandten Blutes" waren und deren
Ehegatten diesem Kriterium ebenfalls genuegten. Der diskriminierte Personenkreis wurde
damit auf die sogenannten 'juedisch versippten' ausgeweitet. Darueber hinaus durften
'Nichtarier' bald auch keine wissenschaftlichen Einrichtungen mehr benutzen. So war Laue
beispielsweise gezwungen, dem nach Berlin uebersiedelten Richard Gans (1880-1954), der
durch das Reichsbuergergesetz das Ordinariat fuer theoretische Physik in Koenigsberg
verloren hatte, den Ausschluss vom physikalischen Kolloquium mitzuteilen.
Max Plancks Reaktion zeigt, wie weit er sich mit derartigen
Anordnungen mittlerweile abgefunden hatte. Seine Sorge galt hauptsaechlich einem
moeglichen oeffentlichen Aufsehen, zu dem es in diesem Fall aber nicht gekommen war:
"Das Ausscheiden der Nichtarier aus dem Kolloquium bedauere ich aufrichtig, aber ich
sehe ein, dass sich dies auf die Dauer nicht vermeiden liess, und freue mich, dass es
dabei ohne Skandal abgegangen ist."
Statistiken ueber die Vertreibungen
Statistische Betrachtungen geben fuer den gesamten
akademischen Bereich folgendes Bild: 1145 von 7979 aktiven Personen des Lehrkoerpers an
deutschen Universitaeten wurden bis April 1936 entlassen. Das sind 14,3%. Schliesst man
die Assistentenschaft ein, so sinkt dieser Satz mit 1377 von 10737 auf 12,8%.
Wie stellte sich nun die Lage in der Physik dar? Ihre
Abgrenzung als Hochschulfach ist prinzipiell schwierig. Physiker arbeiten auch in den
benachbarten Gebieten der Mathematik, Chemie und der Technik. Die Beschraenkung auf die
physikalischen Institute uud eine auf die Physik bezogene Lehrtaetigkeit laesst ebenfalls
noch Spielraum. Neben lokalen Besonderheiten wie beispielsweise der Anstalt fuer
Mikroskopie und angewandte Optik in Jena, dem Frankfurter Institut fuer physikalische
Grundlagen der Medizin oder der Leipziger Abteilung fuer angewandte Elektrizitaetslehre
bleibt ausserdem die Frage, ob die physikalische Chemie, Photographie, Geophysik,
Meteorologie und Astronomie eingeschlossen werden sollen. Insoweit kann keine statistische
Aussage ueber die Entlassungen in der akademischen Physik ganz frei von Willkuer sein. Da
selbst die meisten Vorlesungsverzeichnisse die nichthabilitierten Mitarbeiter nur
unvollstaendig auffuehren, beschraenkt man sich auf Professoren und Privatdozenten. Eine
Schaetzung unter Beruecksichtigung der meisten der obengenannten angrenzenden Faecher
erfasste fuer die Teilmenge der Emigranten 50 Personen bei einer Gesamtheit von 322. Das
entspricht etwa 15%. Es laesst sich auch eine engere Definition der Physik ohne die fuenf
erwaehnten Randgebiete rechtfertigen. Das fuehrt auf 50 Entlassungen und Ruecktritte
bezogen auf eine Gesamtheit von ungefaehr 200, was 25% ergibt. Von diesem Personenkreis
emigrierten 80%. In absoluten Zahlen sind die drei Gruppen der Ordinarien, beamteten und
nichtbeamteten Extraordinarien sowie Privatdozenten in fast gleicher Weise betroffen. Ganz
unterschiedlich ist die Verteilung auf die 22 Universitaeten, 11 Technischen und drei
uebrigen Hochschulen, an denen die Physik vertreten war. Die zumeist sehr kleinen
Lehrkoerper von 16 der 36 Universitaeten oder Hochschulen waren gar nicht betroffen,
wohingegen allein von den drei Universitaeten Berlin, Goettingen und Hamburg schon die
Haelfte der Vertriebenen stammte. Dort beliefen sich die Verluste auf jeweils ueber 40%.
Gerade diese Orte stellten wissenschaftliche Zentren mit
internationaler Ausstrahlungskraft dar. In Hamburg zog Stern durch seine Arbeiten zur
Molekularstrahlmethode Besucher aus aller Welt an. In Goettingen waren unter Born und
Franck viele wichtige Beitraege zur Quantenmechanik entstanden. Ein Charakteristikum der
Goettinger Physik bestand in Kooperationen, die nicht von den klassischen
Institutsstrukturen begrenzt wurden. Das fuehrte Experimentatoren, Theoretiker und
Mathematiker zusammen. Eine besondere Vielfalt bot die Berliner Forschungslandschaft, wo
es neben der Universitaet und der Technischen Hochschule mehrere Kaiser-Wilhelm-Institute,
die Physikalisch-Technische Reichsanstalt und Forschungslaboratorien der Industrie gab.
Die Person von Leo Szilard (1898-1964) bietet in dieser
Hinsicht ein interessantes Beispiel. Er kam von der Theorie, arbeitete zeitweise fuer die
AEG und wirkte seit 1928 als Privatdozent an der Universitaet. Szilard wandte sich dann
kernphysikalischen Themen zu. Er wollte auch selbst experimentieren und hatte schon bei
Meitner, mit der er gemeinsam Seminare veranstaltete, nach entsprechenden
Arbeitsmoeglichkeiten am KWI fuer Chemie gefragt. Die Ereignisse von 1933 haben es nicht
mehr dazu kommen lassen. Szilard sollte spaeter eine wichtige Rolle im Kernwaffenprojekt
der USA spielen.
Neben der geographischen Konzentration laesst sich ein
inhaltlicher Schwerpunkt ausmachen. Der personell relativ kleine Bereich der theoretischen
Physik erlitt ueberproportionale Verluste. Mag die Zuordnung in einzelnen Faellen auch
nicht immer eindeutig sein, so kann man die Theorie insgesamt doch gut abgrenzen. Sie war
fast ausschliesslich im akademischen Bereich angesiedelt. An mehr als der Haelfte der
Universitaeten und Technischen Hochschulen wurde sie durch eine einzige Person, meist
einen Ordinarius, vertreten. Vier Universitaeten ragten qualitativ heraus.
Sommerfeld hatte in Muenchen eine der grossen Schulen der
theoretischen Physik begruendet. Sein ehemaliger Student Heisenberg machte gemeinsam mit
F.Hund (geb. 1896) Leipzig zu einem neuen Zentrum der Theorie. Berlin und Goettingen
wurden bereits erwaehnt. Nur noch selten deckten Experimentalphysiker die Lehrbeduerfnisse
der theoretischen Physik ab. Insbesondere nach der Entwicklung der Quantentheorie
erforderte diese Fachrichtung ein Spezialwissen, ueber das der durchschnittliche Physiker
nicht mehr verfuegte. Angesichts der sich neu entwickelnden Gebiete der Kern- und
Festkoerperphysik benoetigte auch die experimentelle Forschung immer haeufiger
Hilfestellung seitens der Theorie, deren Gewicht damit weit ueber ihren personellen Anteil
hinausging. Von den im Jahr 1933 an deutschen Universitaeten aktiven 60 Theoretikern
verloren im Verlauf der geschilderten Massnahmen 26 ihre Stellen. Das verteilte sich ganz
unterschiedlich auf die drei Hochschullehrergruppen. Es waren 7 von 26 Ordinarien, 8 von
15 Extraordinarien sowie 11 von 19 Privatdozenten. Die genauen Zahlen sind dabei nicht so
entscheidend, deutlich werden aber die erheblichen Einschnitte im Unterbau, was fuer die
Theorie in Deutschland nach 1933 zu grossen Schwierigkeiten fuehren musste.
Probleme fuer die Stellenbesetzungen der theoretischen
Physik
In Tuebingen hatte Bethe die Theorievorlesungen aushilfsweise
gehalten. Nach seinem Hinauswurf draengte die Fakultaet auf eine rasche Neubesetzung. Sie
befuerchtete, die Ausbildungsanforderungen der Lehramtskandidaten und zukuenftigen
Industriephysiker nicht erfuellen zu koennen. Ausserdem sprach sie in ihrem Antrag die in
der obigen Statistik zum Ausdruck kommende Problematik an: "... es wird ihr (der
Fakultaet) unmoeglich gemacht, einen wissenschaftlichen Nachwuchs fuer dieses Fach
heranzuziehen, der um so dringender benoetigt wird, als ein grosser Teil der juengeren
theoretischen Physiker nicht arischer Abstammung ist und also fuer die Besetzung der
Lehrstellen ausscheidet. Soll das Niveau der deutschen Wissenschaft auf diesem Gebiete
nicht erheblich herabsinken, so tut schleunige Abhilfe not."
Nach einigen Problemen bei der Suche eines geeigneten Kandidaten bekam Tuebingen
schliesslich den Experimentalphysiker W.Braunbek von der TH Stuttgart.
Die Situation, dass Experimentatoren wie in frueheren Zeiten
den Ruf auf Theoriestellen erhielten, war im nationalsozialistischen Deutschland
keineswegs ungewoehnlich. So in den folgenden Jahren u.a. geschehen an den Technischen
Hochschulen Hannover und Stuttgart sowie den Universitaeten Jena und Freiburg.
Schroedingers Berliner Position wurde ebenfalls nicht mehr mit einem vollwertigen
Theoretiker besetzt. In Goettingen versuchte man offenbar vergeblich, prominente
auslaendische Theoretiker als Ersatz fuer Born zu gewinnen. Nach verschiedenen
Vertretungen gab es eine politische Entscheidung, die eine Aufloesung der Theorie an der
Technischen Hochschule Berlin verfuegte und deren Ordinarius Richard Becker (1887-1955)
1936 praktisch zwangsweise nach Goettingen beorderte. In Hamburg konnte die Luecke, die
durch die Entlassung von Gordon entstanden war, erst Jahre spaeter mit Hans Jensen aus dem
eigenen Nachwuchs geschlossen werden.
Daneben kam es zwar auch zu Berufungen von qualifizierten
Theoretikern, etwa wenn zwei Schueler Sommerfelds die durch die Vertreibungen von 1933
vakant gewordenen Professuren in Darmstadt und Giessen uebernahmen. Charakteristisch fuer
die damalige personelle Lage der theoretischen Physik in Deutschland ist jedoch die
Bemerkung der Marburger Ordinarien im Jahr 1937 angesichts der dort altersbedingt
freigewordenen Theorieprofessur: "... haben versucht, uns die Liste der Dozenten fuer
theoretische Physik aufzustellen, fanden aber, dass die Zahl derjenigen, die in Betracht
kommen koennten, sehr gering war." Selbst in Leipzig, einer der wenigen verbliebenen
Hochburgen der Theorie, klagte Heisenberg schon 1933: "Durch das Ausscheiden Blochs
aus meinem Institut ist ein Bau z.T. zerstoert, der mir viel Zeit und Muehe gekostet
hatte."
Die theoretische Physik, die durch die geschilderten
Auswirkungen der Rassenpolitik schon betraechtliche Substanzverluste erlitten hatte, sah
sich ausserdem noch den Angriffen der sogenannten "arischen" bzw.
"Deutschen Physik" ausgesetzt. Die Nobelpreistraeger Philipp Lenard (1862-1947)
und Stark waren die Wortfuehrer dieser ansonsten wissenschaftlich unbedeutenden und
kleinen Gruppe. Aufgrund des grossen Einflusses, den sie zeitweise besass, gelang es ihr
u.a., einen hinsichtlich der Theorie voellig inkompetenten Anhaenger ihrer Ideologie 1939
zum Nachfolger Sommerfelds in Muenchen zu machen. Derartige Beeintraechtigungen der
Ausbildung mussten Befuerchtungen fuer die Zukunft aufkommen lassen.
Die Mehrzahl der Physiker beobachtete die Entwicklung mit
Besorgnis. Unabhaengig von ihrer Haltung zum Nationalsozialismus ging es ihnen um die
Aufrechterhaltung der Qualitaet in Forschung und Lehre. Das bildete den Hintergrund einer
Reihe von Memoranden und Eingaben, die eine zeitgenoessische Einschaetzung der Lage
vermitteln. Nach dem Krieg wurde dann teilweise der Versuch gemacht, den darin enthaltenen
Widerstand gegen die "Deutsche Physik" in einen Widerstand gegen das Regime
schlechthin umzudeuten.
Max Wien, Ordinarius fuer Experimentalphysik an der
Universitaet Jena, wies in seiner Denkschrift vom November 1934 noch ganz allgemein auf
unbesetzte und fehlende Stellen in allen Be- reichen der Universitaetsphysik hin. In einem
gemeinsam von Wien, Heisenberg und Geiger verfassten Memorandum vom Fruehjahr 1936, das
von den meisten ihrer Kollegen unterschrieben worden war, trat man der "Deutschen
Physik" entgegen und betonte insbesondere den hohen Wert der theoretischen Forschung.
Ein namentlich nicht gezeichneter Bericht aus dem Umfeld der Physikalischen Gesellschaft
in Berlin vom Sommer 1938 behandelte detailliert die bislang entstandenen Schaeden fuer
die theoretische Physik. Demnach waren nur 24 von den 35 Professuren adaequat besetzt.
Abschliessend wurde die Meinung vertreten, dass neun zur Verfuegung stehende junge
Privatdozenten die Luecken eigentlich haetten fuellen koennen. Der neue Vorsitzende der
Physikalischen Gesellschaft Carl Ramsauer (1879-1955), Hochschullehrer und Direktor der
AEG, arbeitete im Herbst 1941 eine mit ausfuehrlichen Anlagen versehene Eingabe aus, die
er am 20.1.1942 an das zustaendige Ministerium sandte. Darin erlaeuterte er, inwieweit die
Physik in Deutschland ihre fruehere Vormachtstellung an die USA verloren habe und Gefahr
laufe, weiter zurueckzufallen. Die Ursache lag nach seiner Ansicht im wesentlichen an
einer unzureichenden finanziellen Unterstuetzung der Universitaetslaboratorien sowie an
der Behinderung der Theorie, die eine entscheidende Bedeutung fuer die gesamte Physik
habe. Ramsauer vergass auch nicht, hier einen Zusammenhang zu der, wie er meinte,
militaerisch interessanten Kernphysik herzustellen. Direkte Konsequenzen hatte all dies
allerdings kaum.
Die "Deutsche Physik" galt zwar mittlerweile als
diskreditiert und die polemischen Angriffe gegen die Theoretiker hoerten auf, aber von dem
Einschnitt des Jahres 1933 erholte sich die Physik in Deutschland nicht mehr. Das heisst
keineswegs, dass es nicht auch viel Kontinuitaet ueber 1933 hinaus gegeben haette.
Bemerkenswerte, sogar herausragende Leistungen kamen immer noch zustande. Die neuen
Entwicklungen in der Kern- und Festkoerperphysik erforderten jedoch relativ enge
Kooperationen zwischen Experiment und Theorie, fuer die Deutschland durch die Ereignisse
von 1933 personell und strukturell keine guenstigen Bedingungen mehr bot.
Schlussbemerkungen
In den USA, dem wichtigsten Einwanderungsland, zeigte sich
ein gegenlaeufiges Bild. Dort expandierten viele der physikalischen Institute. Teilweise
vollzogen sie auch gerade erst in den 30er Jahren die Umwandlung von reinen Ausbildungs-
zu Forschungsinstitutionen. Fuer die angehenden US-amerikanischen Physiker entfiel
allmaehlich die Notwendigkeit einen Ausbildungsabschnitt in Europa zu durchlaufen.
J.R.Oppenheimers Promotion 1927 in Goettingen war ein prominentes Beispiel fuer die
fruehere Situation.
Durch neue Entdeckungen wie die des Neutrons im Jahr 1932 gab
es parallel dazu wichtige inhaltliche Veraenderungen der Physik. Waehrend jener Phase
gelangen einigen Theoretikern, die Deutschland hatten verlassen muessen, herausragende
Karrieren in den USA. Es handelte sich vornehmlich um profilierte juengere
Wissenschaftler, die bereit und in der Lage waren, mit den Experimentatoren
zusammenzuarbeiten. Die spaeteren Nobelpreistraeger Bethe und Bloch gehoeren zu den
bekanntesten Vertretern dieser Gruppe.
Ihre grosse Wirkung mag den falschen Eindruck erwecken, die
Emigration der Physiker, insbesondere diejenige in die USA, sei im wesentlichen eine reine
Erfolgsgeschichte. Die Lage gestaltete sich fuer die meisten eher schwierig, selbst wenn
sie mit dem Geld einer Hilfsorganisation zunaechst an einer Universitaet untergekommen
waren. Nach zwei Jahren gab es eigentlich nur dann eine Fortsetzung der finanziellen
Unterstuetzung, wenn die jeweilige Universitaet eine feste Position in Aussicht stellen
konnte und wollte. Oekonomische Zwaenge, Ruecksicht auf den eigenen Nachwuchs sowie auch
Fremdenfeindlichkeit bzw. Antisemitismus engten die Chancen nicht unerheblich ein.
Allgemeine Aufforderungen zur Rueckkehr nach Deutschland sind
an die Emigranten nach dem Krieg nicht ergangen, und auch in der Physik gab es keine
Initiativen dieser Art. Einen Einzelfall stellt Sommerfelds Angebot an Bethe aus dem Jahr
1947 dar, seine Nachfolge in Muenchen zu uebernehmen. Die Vorgaenge von 1933 hatten ihre
Spuren hinterlassen. Auch nach 14 Jahren waren die Erinnerungen noch lebendig: "Fuer
uns, die wir in Deutschland von unseren Stellungen vertrieben wurden, ist es nicht
moeglich, zu vergessen. Die Studenten von 1933 wollten nicht theoretische Physik von mir
hoeren ... und selbst wenn die Studenten von 1947 anders denken, ich kann ihnen nicht
trauen. Und was ich hoere ueber die wieder erwachende nationalistische Einstellung der
Studenten an vielen Universitaeten, und vieler anderer Deutschen auch, ist nicht
ermutigend." Dem standen in Bethes Fall eine problemlose Integration und
ausgezeichnete Arbeitsbedingungen in den USA gegenueber.
Man kann keine einfache Bilanz fuer diejenigen Verluste
aufstellen, die allein auf die nationalsozialistischen Vertreibungen zurueckgingen.
Mehrere andere Faktoren behinderten die Forschung zusaetzlich. Hierzu gehoerten der
politisch gewollte generelle Rueckgang der Studentenzahlen, eine unzureichende finanzielle
Foerderung sowie eine theoriefeindliche Ideologie. Aufgrund der unterschiedlichen
Rahmenbedingungen lassen die Lebenslaeufe der Emigranten auch keine direkten
Rueckschluesse auf die Leistungen zu, die bei einem Verbleiben in Deutschland haetten
zustandekommen koennen. Aber selbst ohne solche Bilanzen ist erkennbar, dass der Vorgang
unzureichend erfasst wird, wenn man ihn lediglich auf die Vertreibung eines gewissen
Prozentsatzes der Physiker und die Fortsetzung der Arbeit durch die weiter in Deutschland
taetige Mehrheit reduziert. Es wurden Kommunikationsstrukturen sowie ganze
Forschungslandschaften des Faches ab 1933 nachhaltig und langfristig geschaedigt.
Mit Quellenangaben publiziert in: Physik in unserer Zeit
24 (1993), Nr.6, S.267-273.
Anschrift des Verfassers:
Stefan Wolff
Institut fuer Geschichte der Naturwissenschaften
Universitaet Muenchen
D-80306 Muenchen