Zwangsarbeit im Nazi-Staat
Seit 50 Jahren bekannt: 2500
Firmen - Sklavenhalter im NS-Lagersystem. Für die Kriegswirtschaft im
Nazi-Reich nur eine Nummer: Zwangsarbeiter aus den eroberten Gebieten der Sowjetunion in
einem süddeutschen Rüstungsbetrieb (1943)
Kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges legte der
International Tracing Service (ITS) - ein auf Initiative alliierter Behör- den
eingerichteter Suchdienst mit Sitz in Arolsen bei Kassel - ein Verzeichnis
nationalsozialistischer Lager und Haftstätten in Deutschland und deutschbesetzten
Gebieten vor. Die dreibändige, insgesamt über 700 Seiten starke
Dokumentation, wurde
in den Jahren 1949 bis 1951 erarbeitet. Sie stellt bis heute das umfassendste
veröffentlichte Lagerverzeichnis des Nazi-Regimes dar.
Nachfolgeverzeichnisse mit neu gewonnenen
Erkenntnissen wurden zwar 1964 und 1969 erstellt, sie erfassten aber nicht mehr sämtliche
»Lagertypen«, die die Nazi-Herrschaft hervor- gebracht hat. Insbesondere fehlen in ihnen
Kriegsgefangenenlager und Lager für so genannte »Zivilarbeiter«, die eigens zur
Zwangsarbeit deportiert wurden. Der Grund ist leicht erklärbar: Diese
Nachfolgeverzeichnisse wurden vom Bundesfinanzministerium veranlasst und sollten den
Rahmen für die »Entschädigungsgesetzgebung« abstecken. Mit den überarbeiteten -
genauer: eingeschränkten - Listen blieben in den folgenden Debatten nicht nur eine
Vielzahl von Orten des Nazi-Terrors unbe- achtet, sondern mit ihnen zahlreiche Einträge,
die zu diesen Orten notiert waren: vor allem die Namen der Firmen, die sich aus den Lagern
und Haftanstalten mit Arbeitskräften bedient hatten.
Dass das ursprüngliche Verzeichnis nicht völlig in
Vergessenheit geriet, ist einer Arbeits- gruppe um den Publizisten Martin Weinmann aus
Wiesbaden, der Historikerin Ursula Krause- Schmitt vom Studienkreis Deutscher
Widerstand
und der Diplom-Psychologin Anne Kaiser zu verdanken, die das Dokument 1990 im
englischen
Original in dem Buch »Das nationalsozialistische Lagersystem« nachdruckten (erschienen im Verlag Zweitausendeins) und mit Erläuterungen und eigenen Recherchebeiträgen
ergänzten. Aus dieser Publikation haben wir die Namen der Firmen herausgefiltert, die
nach den mittlerweile fast 50 Jahre alten ITS-Erkenntnissen Zwangsarbeiterinnen und
Zwangs- arbeiter ausgebeutet haben - es ist eine Liste von 2498 Firmen geworden.
Dabei ist diese Liste alles andere als vollständig:
Erstens hat ITS sich seinerzeit zu einem großen Teil auf Befragungen gestützt, die
regional mit sehr unterschiedlicher Intensität geführt wurden. Zweitens gibt es zu
vielen Firmen, die nicht im US-Dokument enthalten sind, inzwischen neuere, aber nicht
ähnlich lexika- lisch erfasste, jedenfalls nicht veröffentlichte Erkenntnisse, die sie
ebenfalls als Sklavenhalter im NS-Staat ausweisen. Drittens lagern sehr wesentliche
Dokumente noch in firmeneigenen Panzerschränken. Und viertens haben wir in unserer
Zusammenstellung bei größeren und häufig verschachtelten Firmen teilweise nur ei- nen
Namenseintrag aufgenommen, wo ITS auf mehrere »Filialen« verweist.
ITS hat bei der Vorlage seines Verzeichnisses einen
generellen Irrtumsvorbehalt geniacht. Die Schreibweisen von Firmennamen und Ortsna- men
(teilweise Orte von Lagern, teilweise von Betriebsstätten) wurden zudem vielfach aus
mündlichen Berichten übernommen. Wo uns ein Irrtum eindeutig schien, haben wir diesen
bei der Abschrift korrigiert. Abweichend gegenüber ' dem ITS-Dokument und dem
Weinmann-Buch haben wir für unsere Liste einige Firmen- und Ortseinträge verkürzt. Eine
Zuarbeit erhielten wir aus der »Coordination gegen BAYER-Gefahren«.
Mit der Veröffentlichung dieser extrahierten Liste
wollen wir deutlich ausdrücken: Es ist ein unbeschreiblicher, aber offenbar nicht unbeab-
sichtigter Skandal, dass es fünf Jahrzehnte dauerte, bis die Frage der »Entschädigung«
(welch glimpflicher Ausdruck!) an die Überlebenden der NS-Zwangsarbeit überhaupt in
eine breitere öffentliche Debatte drang - und ein weiterer, dass bislang lediglich 16
Firmen bereit sind, sich an einem entsprechenden Fonds zu beteiligen.
Zur Dimension dieses Skandals sei auf die Zahlen
verwiesen, die die Arbeitsgruppe von Martin Weinmann in dem erwähnten Buch nennt: Es gab
mehr als 20.000 »Zivilarbeiter-Lager« im Nazi-Staat und etwa zehn bis zwölf Millionen
Menschen, die aus ihrer von SS und Wehrmacht besetzten Heimat in diese Lager verschleppt
wurden. Mit der von uns nachfolgend - unseres Wissens zum ersten Mal in dieser
Form - abgedruckten Firmenliste zeigen sich zugleich konkrete Konturen, in denen
deutsche Firmen am NS-Lagersystem aktiv Beteiligte waren. Um die ganze Dimension
sichtbar zu machen, kann eine solche Liste aber nur Ausgangspunkt für weitere Recherchen sein.
Jürgen Reents
Neues Deutschland vom 16.11.99
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