Ebenso wie der Überlebende Abraham Bomba, der von seiner
Aufgabe, Zeugnis abzulegen, völlig überfordert war, bricht Karski in Claude
Lanzmanns Film Schoah vor der Kamera in Tränen aus und unterbricht das
Interview, als er von seiner Besichtigung des Gettos vor Jahrzehnten berichten
soll. Da wir als Zuschauer solcher Szenen in der Gegenwart der anhaltenden
seelischen Belastung und der lebenslangen zerstörerischen Wirkungen dieser
Geschichte selbst ebenso überfordert werden, brauchen wir Texte und
Darstellungsformen, die unsere übermäßige Belastung durch das Empfangen von
Zeugnissen zugleich auffangen und umsetzen können. Neben der Wichtigkeit der
sekundären Zeugenschaft soll hier deshalb auch die Schwierigkeit unterstrichen
werden, die entsteht, wenn wir versuchen, auf Zeugnisse verantwortungsvoll zu
reagieren.
Wo besteht ein Wort, fragt Celan, »wo flammt ein Wort«, welches diese
zweifache Belastung seitens der Zeugen und seitens der Zuhörer zugleich bezeugen
und mindern könnte? Das Wort, das diese Doppelung der Überforderung des Zeugen
durch die Aufgabe des Publikums ausdrücken könnte, wäre ein »flammendes Wort«:
ein Wort, das auflodert, bevor es der Vernichtung durchs Feuer anheimfällt. Was
zu lesen bleibt, sind Spuren, Asche, Abdrücke, sprich die Umrisse dessen, was
aus der deutschen Sprache und Kultur für immer verloren ist und nun als
unwiederbringliche Abwesenheit dieser Sprache und Kultur von innen ihre Form,
und möglicherweise ihre Bestimmung für die Zukunft, gibt.
Was für ein Gewinn lässt sich aus der Auseinandersetzung mit Zeugenaussagen
über eine so erschreckende Wirklichkeit wie die Schoah ziehen? In seinem Beitrag
"Intellektuelle Zeugenschaft und die Schoah" (Abschnitt I. "Zugänge zur Zeugenschaft"
von "Niemand
zeugt für den Zeugen") entwickelt Geoffrey Hartman das
Konzept der »intellektuellen Zeugenschaft«, die die Zeugenschaft der
Überlebenden nicht verdrängt, sondern deren Anspruch auf Zuhörerschaft gerecht
wird. In seiner provokanten Verteidigung des kritischen Denkens und Lehrens und
des reflektierenden Innehaltens untersucht Hartman, ob nach der Schoah die Rolle
des Intellektuellen, wie vielerorts behauptet, wirklich einem notwendigen
Pragmatismus weichen muss.
Auf Hartmans passionierte Rechtfertigung des Denkers im Umgang mit der Schoah
folgt Lawrence Langers Aufsatz zur Zeiterfahrung in den Zeugenaussagen
von Holocaust-Überlebenden. Als Verfasser der wichtigsten Studien zu
Videozeugnissen über den Holocaust zeigt Langer, wie der Holocaust nicht nur
traditionelle Formen des Erinnerns, sondern auch das allgemeine Verständnis
einer durch die Zeit sich entwickelnden Erfahrung zum Erliegen bringt. Durch
eine genaue Analyse des Paradoxes der »fortwährenden Dauer« führt Langer vor,
wie vorhandene zwangsläufig abstrahierende und teleologische Diskurse nach der
Schoah umzudenken sind.
In ihrem Artikel legt Cathy Caruth dar, daß das Bezeugen des Traumas
zwangsläufig die starre Zeitlosigkeit des Traumas durchbrechen muss und somit
auch ein Sakrileg an seiner Integrität bedeuten kann. Wie auch Langer betont
Caruth, dass der Appell an einen Zeugen schon immer in die traumatische Erfahrung
eingeschrieben ist. Caruth erkennt die absolute Genauigkeit der traumatischen
Erfahrung als ein Symptom des Leidens und weist darauf hin, dass diese
Genauigkeit keinesfalls fetischisiert werden darf und nicht nur in Psychiatrie
und Therapie, sondern für uns alle neue Formen der Darstellung, des Denkens und
des Handelns erforderlich macht.
Die Frage, wie Überlebenden des Holocaust eine Art Hilfestellung für ihre
Zeugenschaft gegeben werden kann, wird von Dori Laub in seinem Beitrag
behandelt. Laub analysiert, inwieweit einzelne Zeugen in ihrem Versuch der
Darstellung der traumatischen Vergangenheit von der Hilfe und notwendigerweise
begrenzten Aufnahmefähigkeit anderer abhängen. Der Rahmen eines rein historisch
orientierten Verständnisses der Wirklichkeit kann, so Laub, durch das Konzept
einer dialogischen Zeugenschaft gesprengt werden. Die Beiträge von Hartman,
Langer, Caruth und Laub erschweren es, den Holocaust weiterhin als eine eindeutige historische »Erfahrung« zu definieren. Sie bieten neue
Möglichkeiten, die scheinbar unüberwindbare Diskrepanz zwischen den furchtbaren
persönlichen Erfahrungen der Opfer und unserem Verständnis der Geschichte, ohne
eine Nivellierung dieser Erfahrungen, zu etwas Nachvollziehbarem in unser Denken
einzulassen.
Die fortdauernde Gegenwart der Schoah und die Unmöglichkeit, das Ereignis
einem Verständnis von chronologischer Zeit und Kausalität einzupassen, wird von
Claude Lanzmann hervorgehoben. Als Autor des richtungweisenden Films
Schoah erklärt Lanzmann, wie seine unerschütterliche Weigerung, das
Geschehene zu erklären oder zu verstehen, die einzig mögliche
Grundhaltung war, das Ereignis darzustellen. In der Beschreibung seines Films
als einer Dokumentation nicht der geschichtlichen Vergangenheit, sondern der
Gegenwart, in der die Zeugen ihre geschichtliche Bedeutung als handelnde Figuren
heute nachspielen müssen, zeigt Lanzmann, dass seine eigene Rolle als Zeuge der
Zeugen - und damit unsere Rolle als Zuschauer seines Films - noch nicht
abgeschlossen ist.
In Shoshana Felmans Aufsatz zu Lanzmanns Film werden die verschiedenen
Positionen ausgeleuchtet, die den Holocaust als Krise der Zeugenschaft
kennzeichnen. Felman zufolge könne Lanzmanns Film eine Wahrheit bezeugen, die
den auf sich selbst gestellten Zeugen nicht zur Verfügung steht. Die Wahrheit,
die in der Geschichte unbezeugbar bleibt, wird hier als das erkennbar, was uns
alle heute, ganz gleich wie wir uns selber definieren, im Hinblick auf die
Zeugenaussage über die Belange der Geschichtswissenschaft hinaus zur
Verantwortung ruft. Felmans Aufsatz versteht sich als Antwort auf Lanzmanns
Werk, welches uns zum Hören und zur Auseinandersetzung mit den Zeugen - zur
Aufnahme des Grauens und zu verantwortlichem Handeln - sowohl befähigt als auch
verdammt.
Jared Stark erwägt die widersprüchlichen Forderungen, die durch jede
Zeugenaussage von traumatischen Erfahrungen an uns gerichtet werden. Sollen die
Erinnerungen einer Überlebenden des Holocaust genau so dargestellt werden, wie
die Zeugin sie heute verstehen will, oder sollen die heutigen psychologischen
Bedürfnisse der Zeugin den Maßstäben der historischen Genauigkeit, Faktizität
und Verständlichkeit untergeordnet werden? Was für eine Verantwortung erwächst
aus unserer angestrebten oder zufällig entstandenen Berührung mit einer Erfahrung, zu der die
erzählende Person selbst nur eine fragile Verbindung hat? Wie können wir uns
dieses Wissens wieder entledigen, ohne die ursprüngliche traumatische Isolierung
und Ausgrenzung der Überlebenden und die weltweite Weigerung, die Realität der
Verfolgung und des Leidens wahrzunehmen, ungewollt zu wiederholen?
Ähnlichen Fragen geht auch Robert Cohen in seiner Analyse der
Rezeption von Peter Weiss' Die Ermittlung nach. Das Stück entfachte eine
heftige Debatte über die Authentizität der Zeugenschaft und die Berechtigung,
wer für die Opfer sprechen darf. In seiner Untersuchung der Identitätspolitik,
die diese Debatte von Anfang an bestimmte, zeigt Cohen, inwieweit der
gesellschaftliche Kontext Möglichkeit und Inhalt von Zeugenaussagen bedingt. Er
umreißt damit auch das Dilemma, wie Auschwitz als Ereignis von universaler
Bedeutung verstanden werden soll, das Grundannahmen unserer Gesellschaft in
Frage stellt, wenn es zugleich als spezifisch jüdische Katastrophe definiert
wird.
Der französische Historiker Pierre Vidal-Naquet untersucht, wie sich
eine Zeugenaussage dem sich ändernden ideologischen und geschichtlichen Kontext
anpaßt. Er widmet sich der Zeugenaussage von Germaine Tillion über ihre
Erfahrungen in Ravensbrück, die 1946, 1973 und 1988 veröffentlicht wurde. Wie
ändert sich die Rezeption dieser Aufzeichnungen, wenn Tillion dieselben Vorfälle
im Kontext der jeweiligen politischen und historischen Situation anders erklärt?
Zusätzlich überdenkt Vidal-Naquet das Verhältnis zwischen den zutiefst
persönlichen Zeugenaussagen Überlebender und der sich immer noch weitgehend auf
Täterdokumente stützenden Geschichtsschreibung des Nationalsozialismus.
Lanzmann, Felman, Stark, Cohen und Vidal-Naquet erforschen die Bedingungen,
unter denen auf uns, als Zeugen der Zeugen, heute Verantwortung entfällt. Statt
Schuld und Scham werden hier Möglichkeiten besprochen, sich in der aktiven
Auseinandersetzung mit den geschichtlichen Ereignissen der eigenen Position in
der Gegenwart bewusst zu werden.
Das Verhältnis der Medien zur Problematik der Zeugenschaft wird im letzten
Teil des Bandes thematisiert. Um die scheinbare »Zeitlosigkeit« der technischen
Medien zu betonen, die von der anhaltenden psychischen »Dauer« der traumatischen
Erfahrungen nicht zu trennen ist, wird hier bewusst auf eine strikt chronologische Folge der behandelten Themen verzichtet. Lawrence Douglas
geht der Frage nach, was im Holocaust überhaupt gesehen und somit bezeugt
werden konnte. Er analysiert den Einsatz eines von den Alliierten produzierten
Dokumentarfilms bei den Nürnberger Prozessen, um nachzuweisen, dass der Holocaust
gerade in dem Augenblick aus dem juristischen und historischen Kontext
ausgeblendet wurde, als er erstmalig der Welt bekannt gemacht werden sollte. Die
Frage, wie Einzelpersonen oder eine ganze Gesellschaft vollkommen
offensichtliche Geschehnisse »übersehen« können - wie und warum Zeugenschaft oft
erst nachträglich einsetzt und warum eine Situation oft erst zu spät
in ihrem Grauen erkannt wird -, wird hier im Kontext der institutionellen
Wahrheitsfindung gestellt.
Bernd Hüppauf untersucht, was wir heute in den Bildern des
Vernichtungskriegs sehen können und was die fotografierenden Täter damals sahen.
Hüppauf stellt die Selbstverständlichkeit der primären Zeugenschaft in Frage
und zeigt, dass die Fotos des Vernichtungskriegs sich nicht als bildliches
Äquivalent oder Ausdruck der NS-Ideologie verstehen lassen. So wird ersichtlich,
wie die Debatte über die Schuld der beteiligten Fotografen bisher den Blick auf
die schwierigere Einsicht verstellt hat, dass die Täter selbst nicht sahen, was
sie dennoch dokumentierten.
In meinem Aufsatz zu einer Fotografie von Dirk Reinartz gehe ich der Frage
nach, wie ein Gefühl der Verantwortung für diejenigen entstehen kann, die den
Holocaust nur aus dem Abstand von über einem halben Jahrhundert durch
Darstellungen kennen. Der Rückgriff auf die ideologisch hochbelastete
romantische Tradition der Landschaftsdarstellung im Werk eines deutschen
Fotografen, der heute ehemalige Mordstätten fotografiert, belegt, dass
Darstellungen des Holocaust sich nicht auf bestimmte Medien oder Konventionen
beschränken lassen oder Schockeffekte einsetzen müssen. Ohne den Holocaust zu
verkitschen, kann die aller Merkmale entleerte Landschaftsfotografie eines
ehemaligen Vernichtungslagers zur Allegorie davon werden, dass die Position des
Bezeugens der eigenen Geschichte für uns alle unausweichlich ist.
Dieser Unausweichlichkeit widmet sich auch Avital Ronell in ihrer
Analyse des Fernsehereignisses, durch das die Welt Zeuge der rassistischen
Brutalität der amerikanischen Polizei gegen den Afroamerikaner Rodney King
wurde. Ronell macht deutlich, dass die Zeugenschaft, in der erst nachträglich erkannt wird, was man gesehen hat,
für unsere allgemeine Verfassung in der Gegenwart maßgeblich ist. Adorno hatte
auf die Eigenart des Faschismus hingewiesen, »äußerste technische Perfektion mit
vollkommener Blindheit« zu vereinen.