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..."Niemand zeugt
für den Zeugen"...

Paul Celan

Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Schoah

Ort und Zeit:
Nicht zu erklären und nicht zu verstehen

IV. und damit letzter Teil aus Ulrich Baers Einleitung
zu "Niemand zeugt für den Zeugen"

»Wo flammt ein Wort, das für uns beide zeugte«, fragt Celan in dem 1965 verfassten Gedicht »Ich kenne dich«. Celan lenkt unsere Aufmerksamkeit darauf, dass auch sekundäre Zeugenschaft eine Überforderung sein kann; dass die Zeuginnen und Zeugen zwar von einem Gegenüber entlastet werden können, doch dass diese schmerzliche Aufgabe für dieses Gegenüber dann ebenso unerträglich ist.

Jan Karski, der als Kurier der polnischen Exilregierung 1942 ins Warschauer Getto und ein Lager eingeschleust wurde und dann den Alliierten, dem amerikanischen Präsidenten und der Welt von der Massenvernichtung der polnischen Juden Bericht erstattete, bezeichnete seine gesamte Nachkriegsexistenz nach dem Erfüllen dieser offiziellen, aber auch persönlichen Aufgabe als emotional »leer« und ausgebrannt.31 Ebenso wie der Überlebende Abraham Bomba, der von seiner Aufgabe, Zeugnis abzulegen, völlig überfordert war, bricht Karski in Claude Lanzmanns Film Schoah vor der Kamera in Tränen aus und unterbricht das Interview, als er von seiner Besichtigung des Gettos vor Jahrzehnten berichten soll. Da wir als Zuschauer solcher Szenen in der Gegenwart der anhaltenden seelischen Belastung und der lebenslangen zerstörerischen Wirkungen dieser Geschichte selbst ebenso überfordert werden, brauchen wir Texte und Darstellungsformen, die unsere übermäßige Belastung durch das Empfangen von Zeugnissen zugleich auffangen und umsetzen können. Neben der Wichtigkeit der sekundären Zeugenschaft soll hier deshalb auch die Schwierigkeit unterstrichen werden, die entsteht, wenn wir versuchen, auf Zeugnisse verantwortungsvoll zu reagieren.

Wo besteht ein Wort, fragt Celan, »wo flammt ein Wort«, welches diese zweifache Belastung seitens der Zeugen und seitens der Zuhörer zugleich bezeugen und mindern könnte? Das Wort, das diese Doppelung der Überforderung des Zeugen durch die Aufgabe des Publikums ausdrücken könnte, wäre ein »flammendes Wort«: ein Wort, das auflodert, bevor es der Vernichtung durchs Feuer anheimfällt. Was zu lesen bleibt, sind Spuren, Asche, Abdrücke, sprich die Umrisse dessen, was aus der deutschen Sprache und Kultur für immer verloren ist und nun als unwiederbringliche Abwesenheit dieser Sprache und Kultur von innen ihre Form, und möglicherweise ihre Bestimmung für die Zukunft, gibt.

Was für ein Gewinn lässt sich aus der Auseinandersetzung mit Zeugenaussagen über eine so erschreckende Wirklichkeit wie die Schoah ziehen? In seinem Beitrag "Intellektuelle Zeugenschaft und die Schoah" (Abschnitt I. "Zugänge zur Zeugenschaft" von "Niemand zeugt für den Zeugen") entwickelt Geoffrey Hartman das Konzept der »intellektuellen Zeugenschaft«, die die Zeugenschaft der Überlebenden nicht verdrängt, sondern deren Anspruch auf Zuhörerschaft gerecht wird. In seiner provokanten Verteidigung des kritischen Denkens und Lehrens und des reflektierenden Innehaltens untersucht Hartman, ob nach der Schoah die Rolle des Intellektuellen, wie vielerorts behauptet, wirklich einem notwendigen Pragmatismus weichen muss.

Auf Hartmans passionierte Rechtfertigung des Denkers im Umgang mit der Schoah folgt Lawrence Langers Aufsatz zur Zeiterfahrung in den Zeugenaussagen von Holocaust-Überlebenden. Als Verfasser der wichtigsten Studien zu Videozeugnissen über den Holocaust zeigt Langer, wie der Holocaust nicht nur traditionelle Formen des Erinnerns, sondern auch das allgemeine Verständnis einer durch die Zeit sich entwickelnden Erfahrung zum Erliegen bringt. Durch eine genaue Analyse des Paradoxes der »fortwährenden Dauer« führt Langer vor, wie vorhandene zwangsläufig abstrahierende und teleologische Diskurse nach der Schoah umzudenken sind.

In ihrem Artikel legt Cathy Caruth dar, daß das Bezeugen des Traumas zwangsläufig die starre Zeitlosigkeit des Traumas durchbrechen muss und somit auch ein Sakrileg an seiner Integrität bedeuten kann. Wie auch Langer betont Caruth, dass der Appell an einen Zeugen schon immer in die traumatische Erfahrung eingeschrieben ist. Caruth erkennt die absolute Genauigkeit der traumatischen Erfahrung als ein Symptom des Leidens und weist darauf hin, dass diese Genauigkeit keinesfalls fetischisiert werden darf und nicht nur in Psychiatrie und Therapie, sondern für uns alle neue Formen der Darstellung, des Denkens und des Handelns erforderlich macht.

Die Frage, wie Überlebenden des Holocaust eine Art Hilfestellung für ihre Zeugenschaft gegeben werden kann, wird von Dori Laub in seinem Beitrag behandelt. Laub analysiert, inwieweit einzelne Zeugen in ihrem Versuch der Darstellung der traumatischen Vergangenheit von der Hilfe und notwendigerweise begrenzten Aufnahmefähigkeit anderer abhängen. Der Rahmen eines rein historisch orientierten Verständnisses der Wirklichkeit kann, so Laub, durch das Konzept einer dialogischen Zeugenschaft gesprengt werden. Die Beiträge von Hartman, Langer, Caruth und Laub erschweren es, den Holocaust weiterhin als eine eindeutige historische »Erfahrung« zu definieren. Sie bieten neue Möglichkeiten, die scheinbar unüberwindbare Diskrepanz zwischen den furchtbaren persönlichen Erfahrungen der Opfer und unserem Verständnis der Geschichte, ohne eine Nivellierung dieser Erfahrungen, zu etwas Nachvollziehbarem in unser Denken einzulassen.

Die fortdauernde Gegenwart der Schoah und die Unmöglichkeit, das Ereignis einem Verständnis von chronologischer Zeit und Kausalität einzupassen, wird von Claude Lanzmann hervorgehoben. Als Autor des richtungweisenden Films Schoah erklärt Lanzmann, wie seine unerschütterliche Weigerung, das Geschehene zu erklären oder zu verstehen, die einzig mögliche Grundhaltung war, das Ereignis darzustellen. In der Beschreibung seines Films als einer Dokumentation nicht der geschichtlichen Vergangenheit, sondern der Gegenwart, in der die Zeugen ihre geschichtliche Bedeutung als handelnde Figuren heute nachspielen müssen, zeigt Lanzmann, dass seine eigene Rolle als Zeuge der Zeugen - und damit unsere Rolle als Zuschauer seines Films - noch nicht abgeschlossen ist.

In Shoshana Felmans Aufsatz zu Lanzmanns Film werden die verschiedenen Positionen ausgeleuchtet, die den Holocaust als Krise der Zeugenschaft kennzeichnen. Felman zufolge könne Lanzmanns Film eine Wahrheit bezeugen, die den auf sich selbst gestellten Zeugen nicht zur Verfügung steht. Die Wahrheit, die in der Geschichte unbezeugbar bleibt, wird hier als das erkennbar, was uns alle heute, ganz gleich wie wir uns selber definieren, im Hinblick auf die Zeugenaussage über die Belange der Geschichtswissenschaft hinaus zur Verantwortung ruft. Felmans Aufsatz versteht sich als Antwort auf Lanzmanns Werk, welches uns zum Hören und zur Auseinandersetzung mit den Zeugen - zur Aufnahme des Grauens und zu verantwortlichem Handeln - sowohl befähigt als auch verdammt.

Jared Stark erwägt die widersprüchlichen Forderungen, die durch jede Zeugenaussage von traumatischen Erfahrungen an uns gerichtet werden. Sollen die Erinnerungen einer Überlebenden des Holocaust genau so dargestellt werden, wie die Zeugin sie heute verstehen will, oder sollen die heutigen psychologischen Bedürfnisse der Zeugin den Maßstäben der historischen Genauigkeit, Faktizität und Verständlichkeit untergeordnet werden? Was für eine Verantwortung erwächst aus unserer angestrebten oder zufällig entstandenen Berührung mit einer Erfahrung, zu der die erzählende Person selbst nur eine fragile Verbindung hat? Wie können wir uns dieses Wissens wieder entledigen, ohne die ursprüngliche traumatische Isolierung und Ausgrenzung der Überlebenden und die weltweite Weigerung, die Realität der Verfolgung und des Leidens wahrzunehmen, ungewollt zu wiederholen?

Ähnlichen Fragen geht auch Robert Cohen in seiner Analyse der Rezeption von Peter Weiss' Die Ermittlung nach. Das Stück entfachte eine heftige Debatte über die Authentizität der Zeugenschaft und die Berechtigung, wer für die Opfer sprechen darf. In seiner Untersuchung der Identitätspolitik, die diese Debatte von Anfang an bestimmte, zeigt Cohen, inwieweit der gesellschaftliche Kontext Möglichkeit und Inhalt von Zeugenaussagen bedingt. Er umreißt damit auch das Dilemma, wie Auschwitz als Ereignis von universaler Bedeutung verstanden werden soll, das Grundannahmen unserer Gesellschaft in Frage stellt, wenn es zugleich als spezifisch jüdische Katastrophe definiert wird.

Der französische Historiker Pierre Vidal-Naquet untersucht, wie sich eine Zeugenaussage dem sich ändernden ideologischen und geschichtlichen Kontext anpaßt. Er widmet sich der Zeugenaussage von Germaine Tillion über ihre Erfahrungen in Ravensbrück, die 1946, 1973 und 1988 veröffentlicht wurde. Wie ändert sich die Rezeption dieser Aufzeichnungen, wenn Tillion dieselben Vorfälle im Kontext der jeweiligen politischen und historischen Situation anders erklärt? Zusätzlich überdenkt Vidal-Naquet das Verhältnis zwischen den zutiefst persönlichen Zeugenaussagen Überlebender und der sich immer noch weitgehend auf Täterdokumente stützenden Geschichtsschreibung des Nationalsozialismus. Lanzmann, Felman, Stark, Cohen und Vidal-Naquet erforschen die Bedingungen, unter denen auf uns, als Zeugen der Zeugen, heute Verantwortung entfällt. Statt Schuld und Scham werden hier Möglichkeiten besprochen, sich in der aktiven Auseinandersetzung mit den geschichtlichen Ereignissen der eigenen Position in der Gegenwart bewusst zu werden.

Das Verhältnis der Medien zur Problematik der Zeugenschaft wird im letzten Teil des Bandes thematisiert. Um die scheinbare »Zeitlosigkeit« der technischen Medien zu betonen, die von der anhaltenden psychischen »Dauer« der traumatischen Erfahrungen nicht zu trennen ist, wird hier bewusst auf eine strikt chronologische Folge der behandelten Themen verzichtet. Lawrence Douglas geht der Frage nach, was im Holocaust überhaupt gesehen und somit bezeugt werden konnte. Er analysiert den Einsatz eines von den Alliierten produzierten Dokumentarfilms bei den Nürnberger Prozessen, um nachzuweisen, dass der Holocaust gerade in dem Augenblick aus dem juristischen und historischen Kontext ausgeblendet wurde, als er erstmalig der Welt bekannt gemacht werden sollte. Die Frage, wie Einzelpersonen oder eine ganze Gesellschaft vollkommen offensichtliche Geschehnisse »übersehen« können - wie und warum Zeugenschaft oft erst nachträglich einsetzt und warum eine Situation oft erst zu spät in ihrem Grauen erkannt wird -, wird hier im Kontext der institutionellen Wahrheitsfindung gestellt.

Bernd Hüppauf untersucht, was wir heute in den Bildern des Vernichtungskriegs sehen können und was die fotografierenden Täter damals sahen. Hüppauf stellt die Selbstverständlichkeit der primären Zeugenschaft in Frage und zeigt, dass die Fotos des Vernichtungskriegs sich nicht als bildliches Äquivalent oder Ausdruck der NS-Ideologie verstehen lassen. So wird ersichtlich, wie die Debatte über die Schuld der beteiligten Fotografen bisher den Blick auf die schwierigere Einsicht verstellt hat, dass die Täter selbst nicht sahen, was sie dennoch dokumentierten.

In meinem Aufsatz zu einer Fotografie von Dirk Reinartz gehe ich der Frage nach, wie ein Gefühl der Verantwortung für diejenigen entstehen kann, die den Holocaust nur aus dem Abstand von über einem halben Jahrhundert durch Darstellungen kennen. Der Rückgriff auf die ideologisch hochbelastete romantische Tradition der Landschaftsdarstellung im Werk eines deutschen Fotografen, der heute ehemalige Mordstätten fotografiert, belegt, dass Darstellungen des Holocaust sich nicht auf bestimmte Medien oder Konventionen beschränken lassen oder Schockeffekte einsetzen müssen. Ohne den Holocaust zu verkitschen, kann die aller Merkmale entleerte Landschaftsfotografie eines ehemaligen Vernichtungslagers zur Allegorie davon werden, dass die Position des Bezeugens der eigenen Geschichte für uns alle unausweichlich ist.

Dieser Unausweichlichkeit widmet sich auch Avital Ronell in ihrer Analyse des Fernsehereignisses, durch das die Welt Zeuge der rassistischen Brutalität der amerikanischen Polizei gegen den Afroamerikaner Rodney King wurde. Ronell macht deutlich, dass die Zeugenschaft, in der erst nachträglich erkannt wird, was man gesehen hat, für unsere allgemeine Verfassung in der Gegenwart maßgeblich ist. Adorno hatte auf die Eigenart des Faschismus hingewiesen, »äußerste technische Perfektion mit vollkommener Blindheit« zu vereinen.32 In ihren Überlegungen weist Ronell nachdrücklich darauf hin, daß die oft verteufelten Massenmedien die Kopplung von Staatsgewalt und Medientechnologien auf eine von Adorno nicht erkannte Art unterbrechen können, um uns zum Bezeugen der Gewalt in den heutigen Demokratien zu verpflichten. Die Auswirkungen der Schoah sind keineswegs vorbei, so Ronell, sondern manifestieren sich auf unvorhergesehene Weise an unerwarteten Orten. Gerade wenn wir annehmen, daß unsere Verantwortung für die Wirkungen der unverarbeiteten »Demozide« des 20. Jahrhunderts sich auf das passive Studium der Geschichte oder das Vertrauen auf den Einsatz von Streitkräften in strategisch oder politisch wichtigen »Krisengebieten« beschränkt, betont Ronell, daß auf uns sogar »zu Hause« vor dem Fernseher die unausweichliche Verantwortung entfällt, Zeugnis für die Gegenwart abzulegen.

Die abschließenden vier Beiträge des Bandes kehren damit zur ursprünglichen Frage zurück, ob die Auseinandersetzung mit dem Holocaust nicht auch dazu verpflichtet, uns unserer eigenen Rolle als indirekte Zeugen der in der Gegenwart alltäglich durch die Medien vermittelten Gewalt bewusst zu werden. Statt das Wegschauen zu empfehlen, was einem moralischen und intellektuellen - d. h. kritischen - Abschalten gleichkommt, arbeitet Ronell Möglichkeiten heraus, wie das Mitwissen am Leiden anderer nicht instrumentalisiert, sondern zum Maßstab für das eigene Denken und Handeln werden kann.

  1. Vgl. Jan Karski, The Story of a Secret State, Boston 1944, und Karskis Kommentar zu seinem Leben in: Brewster Chamberlin / Marcia Feldman (Hg.), The Liberation of the Nazi Concentration Camps 1945, Washington/D. C. 1987, S. 191.
  2. Theodor W. Adorno, Minima Moralia: Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt/M. 1993, S. 64.

Der Herausgeber dankt dem Dean of the Faculty der New York University und der Lucius N. Littauer Foundation in New York für finanzielle Hilfe für die Übersetzungen, Professor Eva Geulen, Eyal Peretz, Barbara Baer und Dr. Susanne Baer für Kommentare zur Einleitung und Professor Erk Grimm, Gabi Schlick und Andrea Dortmann für ihre Hilfe bei der Erstellung des Manuskripts.

hagalil.com 18-04-2004

 

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