Das schwindende
Schweigen
Die Schoah in der hebräischen Literatur
Von Savyon Liebrecht
Mein Thema ist das lang anhaltende Schweigen von Holocaust-
Überlebenden, die nach dem Krieg nach Israel kamen, um dort zu
leben. Viele von ihnen haben jahrzehntelang nicht über ihre Erfahrungen während des Krieges gesprochen. Die Gründe für dieses
Schweigen sind soziologischer und psychologischer Natur.
Das Interesse, das ich diesem besonderen Schweigen entgegenbringe,
ist »wissenschaftlich « und persönlich begründet, da ich in einer Familie aufgewachsen
bin, in der die Eltern niemals über den Krieg sprachen. Das Schweigen war so
extrem, dass ich bis heute nicht genau
weiß, wie viele Geschwister meine Eltern hatten. Ich kenne ihre
Namen nicht, ich kenne die Namen der Konzentrationslager und der
Orte nicht, wo meine Eltern während des Krieges waren. Dennoch
ist der Holocaust das vorrangige Thema meiner Erzählungen. Und ich
weiß, daß meine Eltern sie gelesen und einen Spielfilm gesehen haben,
zu dem ich das Drehbuch verfasst habe, in dem es genau um dieses
spezielle Schweigen geht meine Eltern erwähnen den Holocaust bis
heute nicht.
Mein Gefühl sagt mir ich betone: es ist ein Gefühl und keine Statistik , daß in den meisten Familien von Holocaust-Überlebenden das
Schweigen vorherrschte. Das andere Extrem waren Familien, in denen
obsessiv über dieses Thema gesprochen wurde, wo zweijährige Kinder
detailgenau wußten, was in den europäischen Konzentrationslagern
geschehen war. Oft frage ich mich, welche dieser beiden Haltungen
schädlicher für ein Kind sein mag. Zwischen diesen beiden Extremen
steht eine kleine Minderheit von Eltern, denen es gelungen ist, das
Thema weder zu einem Geheimnis zu machen noch ihren Kindern
Geschichten des Grauens aufzubürden.
Beginnen wir mit den soziologischen und psychologischen Gründen.
Das ist zum einen das Unvermögen, gleichzeitig mit traumatischen
Erinnerungen und einer fordernden Gegenwart umzugehen. Die
Überlebenden, die nach dem Krieg nach Israel kamen, waren physisch
schwach, emotional gebrochen, und sie mussten all ihre Kraft aufwenden, ihr Leben wieder aufzubauen, an einem neuen Ort, der
so anders war als alles, was sie vorher kannten, mussten eine neue
Sprache lernen, manchmal auch einen neuen Beruf, mussten neue
Codes verinnerlichen, sich an eine neue Mentalität gewöhnen, an ein
neues Klima. Es blieb keine Kraft übrig, um mit den Erinnerungen
umzugehen. Die Vergangenheit musste unterdrückt werden, und das
Schweigen war ein Mittel dazu.
Ein weiterer Grund für dieses Schweigen ist die Art und Weise,
wie die Überlebenden von den jüdischen Bewohnern Palästinas empfangen wurden. Die eingesessene Gemeinschaft hatte große wirtschaftliche Sorgen, stand unter dem Druck des drohenden Krieges, des
Unabhängigkeitskrieges, der dann kurz nach der Staatsgründung Israels ausbrach, und sie befand sich mitten im
Prozess, das Idealbild
»eines neuen Menschen «, »eines neuen Juden « zu schaffen, das junge
Juden aus Osteuropa entworfen hatten, die lange vor dem Krieg nach
Palästina gekommen waren, um eine neue Gesellschaft aufzubauen.
Eine Gesellschaft, die in erster Linie säkular und landwirtschaftlich
ausgerichtet war. Kurz die Antithese zu den Überlebenden,
von denen die meisten einen religiösen Hintergrund hatten und
Städter waren. Als die Überlebenden ins Land kamen, wusste dieser
»neue Mensch« nicht, wie er mit dem »alten Juden«, der all das repräsentierte, dem er zu entrinnen versuchte, zurecht kommen sollte.
Interessant ist die Analogie dessen, was der Überlebende in seinem
privaten Leben tat, mit dem, was der »neue Mensch« im Kollektiv umsetzte: Beide unterdrückten die Vergangenheit, und größtenteils
aus demselben Grund. Der »neue Mensch« war vollauf damit
beschäftigt, seine Gegenwart aufzubauen. Da blieb keine Energie für
die Vergangenheit übrig. Und seine Vergangenheit war dieser historische Jude der Holocaust-Überlebende.
Der dritte Grund für das Schweigen liegt in der besonderen Bindung
zwischen den Überlebenden und ihren Kindern. Die Geburt von
Kindern galt als ein Wunder. Und dieses Wunder brauchte Schutz, und Teil dieses Schutzes gegen die Übel der Welt war das Schweigen.
Diese Eltern konnten sich nicht vorstellen, wie schwer der Schaden
war, den sie ihren Kindern zufügten. Weil ein Kind, das mit dem
Wissen um ein Geheimnis, das man vor ihm verbirgt, aufwächst, von
seiner Fantasie zu grauenhaften Orten geführt wird. Und dieses Kind
braucht lange Zeit, um zu verstehen, dass nicht eine private, sondern
ein kollektive Erfahrung dahintersteht. Dass dieses Schweigen so lange überdauert, liegt daran,
dass nicht nur
die Eltern ihre Kinder schützen, sondern auch die Kinder ihre Eltern.
Das Gefühl, gewisse Fragen nicht stellen zu dürfen, weil sie einen
schmerzhaften Punkt berühren.
Der israelische Psychologe Dan Bar-on hat das Schweigen in den
Familien von Holocaust-Überlebenden mit dem in Täterfamilien verglichen. Das Schweigen in den deutschen Familien ist anders, es hat
einen anderen Ursprung und andere Auswirkungen auf das Kinder-Eltern-Verhältnis. Doch ich glaube,
dass es eine Art Verbindung gibt,
die die Kinder der Menschen, die in diesen Krieg, unabhängig auf
welcher Seite, verwickelt waren, aneinander bindet, denn sie teilen die
Erfahrung, in Familien aufgewachsen zu sein, in denen ein Geheimnis
sie durch ihre Kindheit begleitet hat.
1960 wurde das Schweigen für einen kurzen Moment gebrochen,
und im Verhalten den Holocaust-Überlebenden gegenüber setzte
eine Veränderung ein. Auslöser war der Eichmann-Prozess. Es gab
kein Fernsehen damals, und der gesamte Prozess wurde im Radio
übertragen. Zum ersten Mal hörten Israelis, die wenig über den Holocaust wussten, Zeugenberichte, und sie waren entsetzt. Als Kind verstand ich durch die große Aufmerksamkeit, mit der meine Eltern dem
Radio lauschten, dass die Schilderungen der Grausamkeiten irgendwie
mit dem Geheimnis zusammenhingen und dass die immer wieder
erwähnten sechs Millionen mit der Tatsache, dass meine Familie so
klein war, in Verbindung standen.
Die bewegendste Zeugenaussage machte ein Schriftsteller, ein
Auschwitz-Überlebender, der sich selbst »Kazetnik « nannte. Sein richtiger Name ist Yehiel De-Nur. Er sprach von Auschwitz als einem
Ort, an dem Gesetze eines anderen Planeten herrschten, wo jede
menschliche Spur sich auflöste, wo Zeit eine ganz eigene Bedeutung
hatte. Mitten in seiner Aussage brach er zusammen. Das Bild dieses
groß gewachsenen Mannes in einem hellen Anzug, der im Gang des
Gerichtssaals kollabierte, hat sich tief in das kollektive Gedächtnis
Israels eingeprägt.
Kazetnik war der erste Überlebende, der direkt nach dem Krieg
über dieses Thema schrieb. Seine Namenswahl war eine öffentliche
Demonstration: Er entledigte sich seiner persönlichen Identität und
machte sich zu einem Symbol der Jedermann des Holocaust. Seine
Erzählungen und Romane beschreiben nur eins: die Realität des Konzentrationslagers. Es sind Berichte eines Augenzeugen.
Für mich steht Kazetnik für die Stimme, die meine Eltern verloren
haben. Seine Bücher waren meine ersten Einführungen in dieses
Thema.
Ein anderer Name ist Aharon Appelfeld. Er war ein Kind, als der
Krieg ausbrach, und nicht im Konzentrationslager. Seine Einzigartigkeit liegt in der zurückgenommenen Sprache und im Stoff, welcher
das jüdische Leben vor, während und nach dem Krieg behandelt, doch
niemals den Krieg selbst.
Wenige, nur sehr wenige Autoren, unter ihnen Yoram Kaniuk, schrieben über das Thema, und sie standen außerhalb der Hauptströmung
der hebräischen Literatur. Mitte der achtziger Jahre zog das Holocaust-Thema in die Künste, auch in die Literatur ein. Die meisten Künstler
waren Kinder von Holocaust-Überlebenden.
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S.Liebrecht:
Das schwindende Schweigen
© Savyon Liebrecht
Aus dem Englischen von Sabine Hertig
Vortrag im Rahmen des Symposions Manifold Voices and Memory
zur 9.Internationalen Frühjahrsbuchwoche 1998 in München
»Literatur aus Israel«
Savyon Liebrecht:
Ein Mann und eine Frau
und ein Mann
Roman
Aus dem Hebräischen
von Stefan Siebers
320 Seiten Englische Broschur
dtv premium 24200
Deutscher Taschenbuch Verlag Abteilung Presse- und Öffentlichkeitsarbeit,
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