Über
die Juden (1933 - 1945):
Aus den geheimen NS-Stimmungsberichten
Verweise beziehen sich auf Otto Dov Kulka und Eberhard Jäckel
Dokumente zu einem unfasslichen Kapitel deutscher Geschichte
Band 62, Droste-Verlag, Düsseldorf 2004
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Vorwort der HerausgeberDie Geschichte der Juden in Deutschland unter der NS-Herrschaft muß auf
zweierlei Wegen erschlossen werden: sowohl aus nationalsozialistischen als auch
aus jüdischen Quellen.
Grundlegende Quellen zu beiden Bereichen zu edieren, war
das Ziel eines gemeinschaftlichen Projektes an den Universitäten Jerusalem und
Stuttgart. Die hier vorliegende Edition enthält Berichte der
NS-Überwachungsorgane über Aktivitäten und Organisationen der Juden, sowie über
die Einstellung der nichtjüdischen Bevölkerung zu ihnen und zur Judenpolitik des
Regimes.
Als komplementäres Gegenstück sind die jüdischen Quellen über die
Zentralorganisation der Juden, ihre Aktivitäten und ihr Selbstverständnis
angesichts von Verfolgung und Vernichtung in einer parallel laufenden Edition 1
enthalten. Gerade wegen des unterschiedlichen Entstehungszusammenhanges der
Dokumente ergänzen sich die beiden, zunächst völlig unabhängigen Teile des
Editionsprojektes und ermöglichen so neue Erkenntnisse.
In Verbindung mit der in
der Geschichtsschreibung bereits eingehend erforschten NS-Ideologie und -Politik
zur "Lösung der Judenfrage" eröffnen sie neue Horizonte für die
Gesamtdarstellung dieses trotzdem im Grunde unfaßlichen Kapitels der jüdischen
Geschichte in Deutschland. Auch zur weiterführenden Erforschung der Lokal- und
Regionalgeschichte der Juden im nationalsozialistischen Alltag bieten die
vorliegenden Quellen reichhaltiges Material. Dabei soll das mit Erklärungen,
Anmerkungsapparat und ausführlichen Hilfsmitteln versehene Buch über den Kreis
der Fachhistoriker hinaus einem breiten Lesepublikum dienen.
Aus der zugleich
mit dem Buch erscheinenden CD-ROM-Gesamtausgabe von 3744 Dokumenten haben die
Herausgeber für den Auswahlband 752 Dokumente eigens zusammengestellt, die dem
Leser ein aussagekräftiges Bild dieser Zeit bieten. Während das Gesamtkorpus den
Forschern fast unbegrenzte Möglichkeiten für weitergehende Fragestellungen und
Arbeiten eröffnet, kann anhand der eingehender bearbeiteten Textauswahl die
facettenreiche und zugleich verhängnisvolle Geschichtsentfaltung verfolgt
werden.
Wie in der Forschung seit mehreren Jahren bekannt, verfaßten verschiedene
Staats- und Parteistellen im Dritten Reich regelmäßig geheime Lage- und
Stimmungsberichte. Diese sollten dem Regime ein möglichst zuverläßiges Bild
darüber liefern, inwieweit es von der Bevölkerung unterstützt wurde und was
diese von seiner "Judenpolitik" hielt. Die Berichte enthalten darüber hinaus
eine Bestandsaufnahme von Leben, Stimmung und Aktivitäten der jüdischen
Bevölkerung, so, wie die Überwachungsorgane sie wahrnahmen. Abgefaßt wurden die
Berichte auf lokaler, regionaler und auf Reichsebene; sie liegen heute in
unterschiedlicher Vollständigkeit vor. Dabei sind die unteren Berichtsebenen wie
Bürgermeister, Landräte, Gendarmerien etc. schwerer zugänglich und weniger
erforscht. Die Berichte der höheren Ebenen - von den Regierungsbezirken aufwärts
- konnten von den Herausgebern weitgehend komplett erfaßt werden.
Seit langem liegen verschiedene Editionen von NS-Lage- und Stimmungsberichten
vor. Einige von ihnen enthalten vollständige Berichte, aber alle sind entweder
regional, zeitlich oder auf eine bestimmte berichterstattende Stelle (wie
Gestapo oder SD) begrenzt. Die vorliegende Quellenedition konzentriert sich
erstmals auf das Thema "Juden". In diesem Themenbereich wurden die Dokumente
aller berichterstattenden Stellen aus dem Reichsgebiet in den Grenzen von 1937
für den gesamten Zeitraum 1933-1945 erfaßt. Hinzu kommen einige wenige Berichte
aus Österreich (der damaligen "Ostmark"), dem Sudetenland und Elsaß-Lothringen,
wenn sie auf das gesamte Reichsgebiet übertragbare Aussagen enthalten. Für die
Materialerfassung dienten die Bestände des Bundesarchivs als Ausgangsbasis.
Außerdem recherchierten die Herausgeber und ihre MitarbeiterInnen in allen
Hauptstaats- und Staatsarchiven bzw. Generallandes-, Landeshaupt- und
Landesarchiven Deutschlands, sowie in den Wojewodschaftsarchiven der ehemals
deutschen Gebiete in Polen. So wurden in mehr als 30 Archiven größere Bestände
gesichtet; von 15 weiteren Archiven konnten einzelne Dokumente brieflich
bestellt werden. Schließlich wurden Anfragen an eine Reihe von Stadtarchiven
gerichtet. Leider liegen jedoch selbst in einigen Archiven von Städten mit
einstmals bedeutenden jüdischen Gemeinden nur wenige einschlägige Berichte vor.
Wichtige weitere Dokumente von den Judenreferaten des SD und der Gestapo, die
das Material aus dem Bundesarchiv ergänzen, wurden Anfang der 90er Jahre im
Moskauer Sonderarchiv (Osobyi Archiv Moskva) entdeckt. Einige Kopien davon
wurden den Herausgebern freundlicherweise von Michael Wildt (aus den Beständen
der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg) zur Verfügung gestellt, die
übrigen von der Moskauer Forscherin Elena Levina für uns recherchiert. Für die
wissenschaftliche Bearbeitung der SD-Berichte sind zudem die vom Judenreferat im
SD-Hauptamt verfaßten Anweisungen und kritischen Bemerkungen zur
Berichterstattung der untergeordneten Ebenen von besonderer Bedeutung. Kopien
dieser ebenfalls im Moskauer Sonderarchiv erhaltenen Dokumente überließ uns das
Archiv von Yad Vashem. Darüber hinaus erhielten wir wertvolle Gestapo-Berichte
über Juden im kommunistischen Widerstand vom Centre de Documentation Juive
Contémporaine in Paris und regionale SD-Berichte aus den ersten Kriegsjahren vom
Imperial War Museum in London. Die systematische Recherche in den Archiven wurde
Anfang 1999 abgeschlossen.
Nur ein geringer Teil der Berichte handelt ausschließlich von Juden. Der
Großteil behandelt jeweils mehrere Themen. Aus diesen Berichten wurden sämtliche
Textteile wiedergegeben, die Aufschluß geben über die Juden selbst sowie über
die Haltung der deutschen Bevölkerung zu antijüdischen Maßnahmen des Regimes und
über das Wissen um die Massenvernichtung der Juden. In der CD-ROM-Ausgabe wurden
all diese Textstücke grundsätzlich in voller Länge aufgenommen, ohne Rücksicht
auf ihren Umfang oder ihren Wahrheitsgehalt. Die umfassende Bestandaufnahme
sollte durch keinerlei einschränkende Auswahlkriterien eingeengt werden.
Beim Vergleich der Berichte verschiedener Ebenen läßt sich häufig folgendes
Phänomen feststellen: Die Berichte der untersten (lokalen) Ebene vermitteln die
unmittelbarste Version der Ereignisse, bieten aber vielfach ein nur punktuelles
Bild. Die dort geschilderten Vorfälle und Stimmungen wurden in die
umfassenderen, eher abstrakten Berichte der höheren Ebenen oft nicht übernommen.
Der besondere Wert der reichsweiten Berichte liegt vielmehr in der Darstellung
des Gesamtbildes bei einschneidenden, das ganze Reich betreffenden Maßnahmen,
etwa die Reaktionen der Bevölkerung auf die sogenannte Reichskristallnacht, die
Kennzeichnung der Juden mit dem gelben Stern im Jahre 1941, oder die Rezeption
der erneuten öffentlichen "Prophezeiung" Hitlers am 30. Januar 1942, in der eine
unmißverständliche Erklärung zu der schon im Gange befindlichen "Endlösung"
gegeben wurde. 2 Hier unterstreichen die Berichte auf der Reichsebene
stellenweise die unterschiedliche Haltung der Bevölkerung je nach regionaler,
sozialer oder religiöser Zugehörigkeit.
Obwohl alle diese Quellen als solche nicht unproblematisch bleiben, erlauben sie
doch, die Umrisse der deutschen Gesellschaft und der in ihrer Mitte lebenden
Juden in den Vorkriegsjahren zumindest in groben Zügen nachzuzeichnen: Unter der
monolithisch wirkenden Oberfläche des totalitären Regimes tritt ein
differenziertes Bild der Beziehungen zwischen den Juden und ihrer weitgehend
heterogen gebliebenen, nichtjüdischen Umgebung zutage. Das innerjüdische Leben
präsentiert sich unter den Bedingungen von Verfolgung und fortschreitender
Ausgrenzung aus der deutschen Gesellschaft in erstaunlicher Vielfalt.
Während der Kriegsjahre jedoch liefern die Berichte ein eher eindimensionales
Bild: Nicht zuletzt aufgrund der veränderten Richtlinien für die
Berichterstattung beschreiben sie nun hauptsächlich die Reaktionen der
Bevölkerung auf die Radikalisierung der Verfolgungsmaßnahmen gegen Juden, bis
hin zu Deportation und Vernichtung, und selbst diese Reaktionen finden sich nur
mehr in beschränktem Ausmaß.
Zu den schwierigsten Problemen der Geschichtsschreibung zählt zweifellos die
kritische Auswertung der Quellen aus der Zeit der Endlösung. So wurde etwa das
scheinbare Schweigen der Quellen auf der obersten Berichtsebene angesichts der
Judendeportationen und -vernichtung vielfach als Gleichgültigkeit gegenüber dem
Schicksal der Juden, als Verdrängung oder als Beweis für das Nichtwissen der
Bevölkerung gedeutet. Dieses Schweigen wurde aber andererseits als durch die
Ausnahmesituation des Krieges legitimierter und unvermeidlicher Ausdruck der
Politik des Krieges und der Eroberung insgesamt, oder auch als Zeichen eines
weitgehenden Konsenses über die "Entfernung der Juden überhaupt" ausgelegt, der
jede Diskussion über dieses Thema überflüssig machte. Ebenso findet sich die
sowohl in der Geschichtsforschung als auch im kollektiven Gedächtnis der
Deutschen immer noch vertretene, apologetische Behauptung, daß unter dem
totalitären, nationalsozialistischen Regime jegliche Äußerung zu diesem Thema
lebensgefährlich gewesen sei. Aufgrund der hier erfolgten, systematischen
Zusammenstellung der Quellen - vor allem der unteren Ebenen -zusammen mit
anderen, bereits zugänglichen zeitgenössischen Dokumenten wird eine Neubewertung
dieser sensiblen Fragen in der Historiographie möglich. Das Material erlaubt nun
präzisere Fragestellungen und fundierte Antworten.
Der wissenschaftliche Apparat zu dieser Quellenedition fußt auf drei - eigens
für dieses Projekt entwickelten - Hilfsmitteln: dem Historischen Glossar, der
Zeittafel und einer Spezialbibliographie. Technische Hinweise zur Benutzung
finden sich im dem Kapitel "Zu Textauswahl und Aufbau".
Das Historische Glossar (Beispiel: Kristallnacht) bietet in knapper, lexikalischer Form
Hintergrundinformationen zu in den Dokumenten wiederkehrenden Personen,
Organisationen und Begriffen, vorwiegend aus dem jüdischen Bereich. Es
konzentriert sich auf die für das Thema und seinen Zeitraum spezifischen
Aspekte, welche in bereits bestehenden Nachschlagewerken häufig fehlen. Die
Zeittafel (Beispiel: November 1938) enthält zusätzlich zur chronologischen Auflistung der Ereignisse kurze
Darstellungen des historischen Kontexts, um die Bedeutung des Ereignisses für
die weitere Entwicklung zu erklären. Auf der CD-ROM befindet sich darüber hinaus
eine ebenfalls im Rahmen dieses Projekts von Silvia Noll zusammengestellte
Bibliographie zur Lokal- und Regionalgeschichte der Juden in Deutschland unter
dem Nationalsozialismus, die den wissenschaftlichen Apparat dieser Edition
ergänzt.
Unser umfangreiches Projekt konnte nur mit der kontinuierlichen Unterstützung
wissenschaftlicher Institutionen und Stiftungen in Israel, Deutschland und den
Vereinigten Staaten durchgeführt werden. Den Anfang ermöglichte uns die
Förderung der Israelischen Akademie der Wissenschaften und der Memorial
Foundation for Jewish Culture. Die nachfolgende großzügige Unterstützung durch
die German-Israeli Foundation for Scientific Research and Development (G.I.F.)
war entscheidend für die Realisierung des Projekts in dem nun vorliegenden
breiten Umfang. Ein finanzieller Beitrag der Thyssen-Stiftung ermöglichte
zusätzliche Archivrecherchen. Im Laufe der Forschungsarbeiten an der Edition
stellten sowohl die Hebräische Universität in Jerusalem als auch die Universität
Stuttgart dem Projekt und seinen Mitarbeitern die notwendigen wissenschaftlichen
Einrichtungen zur Verfügung. Darüber hinaus förderte das Institute for Jewish
Studies der Hebräischen Universität maßgeblich die kostspielige Programmierung
der digitalen Gesamtausgabe auf CD ROM durch eine Zuwendung aus dem Charles
Wolfson Research Fund. Unser besonderer Dank gilt weiterhin den zahlreichen
Archiven und Bibliotheken in Deutschland, Polen, Rußland, Frankreich, England
und Israel. Ohne ihre freundliche Unterstützung wäre die Erfassung der
relevanten Quellen nicht möglich gewesen. Die wichtigste Rolle spielte dabei das
Bundesarchiv, dessen Bestände den Kern unserer Sammlung bilden. Dank seiner
Initiative und der ständigen Unterstützung seiner Leitung wurde die Herausgabe
des Werkes im Rahmen seiner Schriftenreihe ermöglicht. Großen Dank schulden wir
Dr. Tilman Koops für seine sorgfältige und unermüdliche Betreuung des Projekts
im Bundesarchiv.
Besondere Anerkennung gebührt unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an
beiden Universitäten, Anne Birkenhauer, Georgia Hauber, Louise Hecht, Stefan
Kley, Silvia Noll und Dorthe Seifert. Ohne ihre systematischen Recherchen in den
zahlreichen Archiven, sowie die Hilfe bei der Bearbeitung der Texte und der
Ausarbeitung des wissenschaftlichen Apparates wäre unsere Quellenedition
undenkbar. Andrea Fiedermutz beteiligte sich an der Bearbeitung und
Druckvorbereitung sämtlicher Texte und wissenschaftlicher Hilfsmittel und
übernahm das anspruchsvolle Korrekturlesen. In der letzten Arbeitsphase bei der
Gestaltung des Auswahlbandes und der Programmierung der Gesamtausgabe auf CD-ROM
leistete uns Noa Nussbaum äußerst wertvolle Hilfe. Ebenso waren uns die
Ratschläge von Dan Benovici, Leiter des Universitätsverlages Magnes Press an der
Hebräischen Universität in Jerusalem, sehr hilfreich.
Dem Programmierer der CD-ROM, Aryeh Segal, sind wir zu großem Dank verpflichtet
für seine einfallsreiche und geduldige Bearbeitung aller Texte und Hilfsmittel
der in vielerlei Hinsicht komplizierten, anspruchsvollen Gesamtausgabe. Der
Abschluss dieser Arbeit wäre ohne die engagierte Hilfe unserer Mitarbeiterinnen
Alice Krück und Barbara Obele unvorstellbar gewesen.
Besonderen Dank schulden wir David Bankier und Avraham Palmon, die das Werk
durch ihre wissenschaftliche Mitarbeit in den ersten Stadien des Projekts
gefördert haben, sowie Heinz Boberach, der die Idee der Gesamtausgabe entworfen
und unterstützt hat.
Unsere Kollegen und ständigen Gesprächspartner Saul Friedländer, Israel Gutman,
Ulrich Herbert, Ian Kershaw, Alf Lüdtke, Hans Mommsen, Wolfgang Schieder und
Michael Wildt haben durch wertvolle Anregungen den wissenschaftlichen Charakter
des ganzen Forschungsvorhabens mitgeprägt.
Otto Dov Kulka und Eberhard Jäckel
Hebräische Universität Jerusalem und Universität Stuttgart
Juni 2003
1. Kulka, Otto D. (Hrsg.), Deutsches Judentum unter dem Nationalsozialismus,
Bd. I, Dokumente zur Geschichte der Reichsvertretung der deutschen Juden 1933
1939, Tübingen 1997; Bd. II (1939-1943) in Vorbereitung. 2. Vgl. <3417> , sowie
<2825> und Anm. 2.
Bilder aus der Dokumentation
Spuren und
Fragmente: Jüdische Bücher, jüdische Schicksale in Nürnberg und aus
Die
Juden in den geheimen NS-Stimmungsberichten 1933-1945.
hagalil.com 08-11-2002
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