Wir versuchen auf diesen Seiten alle Dienste kostenlos anzubieten und
sind somit auf Unterstützung angewiesen, denn leider wird haGalil im
Rahmen der Bundesmittel zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und
Antisemitismus, trotz mehrfacher leitlinien-konformer und fristgerechter
Antragstellung, in keiner Weise unterstützt. Wir müssen Sie deshalb
bitten, haGalil auch weiterhin mit Ihrer ganz persönlichen Spende
zu unterstützen. Schon zwanzig Euro helfen, haGalil zu erhalten; wenn's
zweihundert sind, finanzieren Sie die Information für weitere Leser
gleich mit.
haGalil
e.V., Münchner Bank BLZ 701 900 00, Konto Nr. 872 091.
Sie finden
weitere
Angaben zu Überweisungen aus dem Ausland, zu
Lastschriftverfahren, Spendenquittungen etc. auf den Seiten des haGalil
e.V.. |
|
|
..."Niemand zeugt
für den Zeugen"...
Paul Celan
Erinnerungskultur und historische
Verantwortung nach der Schoah
Unmögliche Zeugen:
Zeugen des Unmöglichen
Teil II. (von IV) aus Ulrich Baers
Einleitung
zu "Niemand
zeugt für den Zeugen"
Maurice Blanchot hat den Holocaust als »Ereignis
ohne Zeugen« bezeichnet: als eine Krise der Zeugenschaft, die individuelle und
kollektive Verhaltensweisen bis in die Gegenwart bestimmt, da das geschichtliche
Ereignis die Möglichkeit der Zeugenschaft radikal in Frage stellt.
»Die
Notwendigkeit, Zeugnis abzulegen«, so Blanchot, »ist die Verpflichtung einer
Zeugenschaft, die nur von unmöglichen Zeugen - von Zeugen des Unmöglichen -
abgelegt werden kann, und nur in der Singularität eines jeden einzelnen; manche
haben überlebt, doch ihr Über-Leben ist nicht länger Leben, es ist der Bruch mit
der lebenden Bejahung, die Bezeugung dessen, dass das, was das Leben ist (nicht
das narzisstische Leben, sondern das Leben für den anderen) den entscheidenden
Anschlag erlitten hat, der nun nichts mehr intakt lässt.« 9
Die Autorinnen und Autoren des Bandes "Niemand
zeugt für den Zeugen" stellen sich den Auswirkungen dieser
historischen Krise der Zeugenschaft und diesem Über-Leben, das nicht länger
Leben im herkömmlichen Sinne ist. Statt sich auf die mittlerweile zu Klischees
abgewerteten Begriffe der »Unsagbarkeit« oder »Undarstellbarkeit« von Auschwitz
zu berufen, mit denen direkt nach dem Krieg die weitverbreitete Indifferenz
gegenüber den Zeugnissen von Überlebenden gerechtfertigt wurde und die z. B. von
Jorge Semprun und Georges Perec in ihren Werken bekämpft werden, arbeitet der
vorliegende Band Fragen heraus, die über die historische Spezifizität des
Holocaust hinausgehen. 10
Die nicht nachlassende Beschäftigung mit dem Holocaust
als Ereignis, das unser Begriffs- und Deutungsvermögen übersteigt, wird darauf
zurückgeführt, dass moralische, politische und kulturelle Grundannahmen der
Nachkriegsdemokratien sich nur im Bewusstsein der radikalen Krise der Zeugenschaft verstehen lassen, als die der Holocaust hier
erstmalig konsequent verstanden wird.
Können Personen, die ein traumatisches
Ereignis selbst nicht erlebt haben, für die Zeugen, die ihre eigenen Erfahrungen
aufgrund der aus dem Trauma resultierenden Ohnmacht selbst nicht gänzlich
belegen können, eine Art Mitverantwortung für die Vergangenheit oder sogar eine
Art »stellvertretende Zeugenschaft« übernehmen?
In der deutschen Forschung sind
theoretisch fundierte Überlegungen zur Zeugenschaft, wie sie hier vorgestellt
werden, noch ein Desiderat. 11
Dafür gibt es mehrere Gründe: Die Berichte der
nichtjüdischen Zeitzeugen und der Täter lassen sich in der Regel in »den Rahmen
kultureller Erinnerungsmuster« der deutschen Nachkriegsgesellschaft einpassen
und machen somit eine theoretisch fundierte Erfassung des Aktes und der
Bedingungen der Zeugenschaft nicht erforderlich.12 Die Rezeption der Berichte
von jüdischen Überlebenden wiederum beschränkt sich weitgehend auf zum Teil in
hohem Maße literarisierte Darstellungen, die tradierten Erzählmustern folgen.
Der Welterfolg von zwei so unterschiedlichen Werken wie Elie Wiesels Nacht
und dem Tagebuch der Anne Frank rührt beispielsweise auch daher, wie
diese beiden Publikationen ganz bewusst - und notwendigerweise - auf ein nicht
ausdrücklich jüdisches, sondern allgemeines europäisch-amerikanisches Publikum
zugeschnitten wurden.13 Die Ehrfurcht im Umgang mit den Zeugenaussagen von
Überlebenden mag selbst der begründeten Furcht entspringen, dass kritische
Ansätze sich allzu leicht als Ausdruck niederer Motive auslegen lassen.
Die theoretische Überlegung, dass es so etwas wie eine
sekundäre oder stellvertretende Zeugenschaft gibt, könnte aber auch das Primat
und die Authentizität des Augenzeugens in Frage stellen. »Authentizität«
der Zeugenschaft bedeutet in diesem Kontext die Beweiskraft und Glaubhaftigkeit
des Zeugnisses für eine von der Zeugin oder dem Zeugen erlebte Wirklichkeit.
Geht man vom Primat der Zeugenschaft aus, so setzt man voraus, dass
Augenzeugenberichte glaubhafter als Nacherzählungen sind, selbst wenn diese noch
so einfühlsam und ausdrucksstark formuliert werden. Wird eine sekundäre
Zeugenschaft jedoch anerkannt, zersetzen wir dann nicht die vielbeschworene
Differenz zwischen den ursprünglichen, authentischen Erfahrungen der Opfer und
dem Nacherleben derjenigen, die später auf deren Aussagen treffen?14 Sobald man
die Mithilfe an und die aktive Aufnahme der Zeugenschaft so versteht, dass jemand
»für die Zeugen zeugt« und für die Wahrheit dessen, was man nicht selbst
erlebte, eine Verantwortung übernimmt, droht der Unterschied zwischen
authentischer Erfahrung und vorgestelltem Leid, zwischen geschichtlicher
Wahrheit und konstruierter Nacherzählung, zwischen Realität und Rhetorik,
zwischen Fakt und Fiktion zu schwinden.
Es wäre jedoch falsch, die sorgfältige Analyse der Unterschiede, der Struktur
und insbesondere die Auseinandersetzung mit der erschütternden Spaltung im
Inneren der Zeugenaussagen abzulehnen, da solche Gedankengänge unweigerlich dazu
führen würden, daß man der extremen Erfahrung, wie sie die Überlebenden
erlitten, ihre singuläre Bedeutung oder Wirklichkeit abspricht. Die Begriffe des
»Authentischen« und der »Erfahrung« sind in diesem Jahrhundert auf das
Furchtbarste durch Ereignisse erschüttert worden, die die Grenzen des
Erfahrbaren überschritten. Die Zeuginnen und Zeugen extremer Katastrophen tragen
die Erinnerung an eine Erfahrung in sich, deren Mitteilung keinesfalls immer
befreiend wirkt, sondern selbst als traumatisch erlebt wird. Die zerstörerische
psychische Gewalt des ursprünglichen Traumas lässt in vielen Fällen eine
Einarbeitung in das Gedächtnis nicht zu. Diese als »Fremdkörper in der Seele« 15 empfundene
Erinnerung drängt auf Mitteilung und muss möglicherweise zugleich vom
Bewusstsein
der Zeugin oder des Zeugen ferngehalten werden, da durch die Zeugenaussage
Affekte mit einer dem ursprünglichen Trauma fast vergleichbaren Gewalt
hervorbrechen können. Indem von dieser Wirklichkeit vor einer anderen Person
Zeugnis abgelegt wird, kann die einzelne Person durch diese Mitteilung vom
psychischen Druck der Erinnerung zumindest teilweise entlastet werden. Um das
Zeugnis überhaupt hervorzubringen und um diese Erleichterung zu ermöglichen,
bedarf es dieser zuhörenden Person, die eine Art der zweiten Zeugenschaft
übernimmt.
Doch sollte man die antithetischen Begriffe der »authentischen Erfahrung« und
der »sekundären Zeugenschaft« oder des »Nacherlebten« nicht einfach verwerfen.
Sie lassen sich vielmehr unter Berücksichtigung eines nuancierten Verständnisses
der wesentlichen und paradoxen Nichterfahrbarkeit von traumatischer Erfahrung
dekonstruieren. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes stellen die Frage in
den Vordergrund, inwieweit unser eigenes Denken und Verhalten in der
Gegenwart einem nicht immer eingestandenen oder bewussten Verständnis dieser
historisch belasteten Begriffe verschrieben ist. Beispielsweise wird uns der
verdeckte Zusammenhang zwischen dem Alltagsbegriff der »Authentizität« und den
belasteten Begriffen der »Echtheit« und »Reinheit«, in deren Namen Millionen von
Menschen für lebensunwürdig befunden und vernichtet wurden, erst langsam bewusst.
Jacques Derrida hat die Ergründung dieser Verstrickung des eigenen Denkens und
Sprechens in die Katastrophe als die unumgängliche Aufgabe unseres Denkens nach
Auschwitz bezeichnet:
»Gäbe es aber eine solche Lehre, eine einzigartige Lehre unter den stets
einzigartigen Lehren, die man aus einem besonderen Mord, aus allen kollektiven
Vernichtungen der Geschichte ziehen könnte (jeder individuelle Mord, jeder
Kollektivmord ist ein Singuläres, ist also unendlich und unvergleichlich), so
wäre die Lehre, die wir heute daraus ziehen können (und wenn wir sie ziehen
können, müssen wir es auch tun), die, dass wir die mögliche Mitschuld all dieser
Diskurse am Schlimmsten (hier geht es um die Endlösung), die mögliche
komplizenhafte Verbindung, die zwischen diesen Diskursen und dem Schlimmsten besteht,
denken, erkennen, vorstellen, formatieren, beurteilen müssen.« 16
Statt den Begriff der Authentizität abzulehnen und damit die Singularität und
nicht zuletzt auch Unentschiedenheit der Augenzeugenberichte in Frage zu
stellen, zeigen die Beiträge dieses Bandes anhand der verschiedenen Formen und
Dimensionen der Zeugenschaft, dass sich die Bedeutung von Authentizität in der
Auseinandersetzung mit dem Wesen der Zeugenschaft verändert. Die Frage, wer das
Recht auf die Echtheit und Glaubwürdigkeit einer Aussage beanspruchen kann - wer
beispielsweise die extremen Erlebnisse von Opfern darstellen oder wiedergeben
darf, die sich der Erfahrung selbst entziehen -, findet ihre Antwort darin, dass
Authentizität sich nicht in der Zeugenaussage lokalisieren lässt. Die Wahrheit
der Zeugenaussage, so zeigen diese Beiträge, entsteht und existiert vielmehr nur
in und durch ihre Mitteilung; ohne ein Gegenüber, ohne eine zuhörende Person,
kann eine Aussage nicht zum Zeugnis werden. Alle Aufsätze widmen sich dieser
schwierigen Einsicht im Bewusstsein der abgründigen und undurchdringlichen
Stille, die sowohl hinter den leisesten wie auch ausdrucksvollsten
Zeugenaussagen und selbst noch hinter dem Metapherngestöber der Kommentare
herrscht; die Autorinnen und Autoren schreiben im Bewusstsein des Schweigens, das
heute, aus dem Ereignis der Schoah heraus, von uns eine angemessene Antwort
verlangt. Alle Beiträge verstehen das Wesen der Zeugenschaft als dialogischen
Aufruf und Appell an die Verantwortung. Authentizität kann folglich nicht mehr
so verstanden werden, als »gehöre« sie den Augenzeugen oder kennzeichne diese
wie das unsichtbare Wasserzeichen in einem von der Geschichte selbst
abgestempelten imaginären Pass. Authentizität ereignet sich vielmehr erst durch
die Mitteilung des Zeugnisses an andere. Die diffizile Frage nach der
Möglichkeit einer sekundären Zeugenschaft späterer Generationen wird somit nicht
als Enteignung der Zeugnisse erster Hand aufgefasst, sondern als ein notwendiger
und verantwortungsvoller und schließlich kritischer Vorgang der Rezeption
und Aufnahme der Zeugnisse, durch welchen die Last der Überlieferung von Erfahrungen
jenseits des Erfahrbaren mit den Zeuginnen und Zeugen geteilt wird.
... Fortsetzung Teil III...
- Maurice Blanchot, Apres coup, precede par Le ressassement e'ternel,
Paris 1983,8.98.
- Zum Begriff des »Unsagbaren« und der Rezeption der Zeugenaussagen nach dem
Krieg vgl. Annette Wieviorka, Deportation et genocide: entre la memoire et
l'oubli, Paris 1992, S. 159-191. Vgl. auch Jorge Semprun, Schreiben oder
Leben, Frankfurt/M. 1995, und Georges Perec, der in W oder die
Kindheitserinnerungen (Frankfurt/M. 1982) schreibt, daß »das Unsagbare sich
nicht im Geschriebenen [verkriecht], es ist das, was das Schreiben lange zuvor
ausgelöst hat« (S. 54).
- Auf einer Tagung betonte Elisabeth Domansky, daß »der Beitrag, den wir
leisten könnten, darin besteht, [...] zu diesen informierten Zeugen zu werden,
[indem] wir den Opfern zuzuhören beginnen und die Geschichte der Opfer als die
Geschichte des Nationalsozialismus begreifen lernen«. Wie Manuel Koppen in einer
Zusammenfassung hervorhebt, »richtete sich heftiger Widerstand« der anderen
Konferenzteilnehmer (mit Ausnahme von Micha Brumlik) gegen Domanskys Vorschlag.
Vgl. »Zur Zukunft des Er-innerns: Eine Diskussion mit Jurek Becker, Micha
Brumlik, Elisabeth Domansky, Gerhard Schönberner, Horst Denkler«, in: Manuel
Koppen (Hg.), Kunst und Literatur nach Auschwitz, Berlin 1993, S. 204.
- Vgl. auch Harald Welzer, Verweilen beim Grauen: Essays zum
wissenschaftlichen Umgang mit dem Holocaust, Tübingen 1997, S. 128 und 142.
- Zu Wiesels Un di Velt hot geshvign und der Übersetzungs- und
Rezeptionsgeschichte dieses jiddischen Textes vgl. Naomi Seidman, »Elie Wiesel
and the Scandal of Jewish Rage«, in: Jewish Social Studies 3:1 (Herbst
1996), S. 1-20.
- Siehe Klaus Scherpe, »Von Bildnissen zu Erlebnissen: Wandlungen der Kultur
'nach Auschwitz'«, in: Hartmut Böhme/Klaus Scherpe (Hg.), Literatur und
Kulturwissenschaften, Hamburg 1996, S. 254-282; hier S. 265; Manuel Koppen,
»Auschwitz im Blick der zweiten Generation«, in: Koppen (Hg.), Kunst und
Literatur nach Auschwitz, a. a. O., S. 68.
- Dieser Ausdruck findet sich bei Ruth Klüger, weiter leben: Eine Jugend,
Göttingen 1992, S. 138.
- Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der "mystische Grund der Autorität",
Frankfurt/M. 1991, S. 124f. Übersetzung leicht modifiziert.
hagalil.com
18-04-2004 |
|
|
|
Die bei haGalil
onLine und den angeschlossenen Domains veröffentlichten
Texte spiegeln Meinungen und Kenntnisstand der jeweiligen
Autoren.
Sie geben nicht unbedingt die Meinung der Herausgeber bzw.
der Gesamtredaktion wieder. [Impressum]
Kontakt:
hagalil@hagalil.com
haGalil -
Postfach 900504 - D-81505 München
1995-2006 ©
haGalil onLine® bzw. den angeg.
Rechteinhabern
Munich - Tel Aviv - All Rights Reserved
 |
|
|