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..."Niemand zeugt
für den Zeugen"...

Paul Celan

Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Schoah

Unmögliche Zeugen:
Zeugen des Unmöglichen

Teil II. (von IV) aus Ulrich Baers Einleitung
zu "Niemand zeugt für den Zeugen"

Maurice Blanchot hat den Holocaust als »Ereignis ohne Zeugen« bezeichnet: als eine Krise der Zeugenschaft, die individuelle und kollektive Verhaltensweisen bis in die Gegenwart bestimmt, da das geschichtliche Ereignis die Möglichkeit der Zeugenschaft radikal in Frage stellt.

»Die Notwendigkeit, Zeugnis abzulegen«, so Blanchot, »ist die Verpflichtung einer Zeugenschaft, die nur von unmöglichen Zeugen - von Zeugen des Unmöglichen - abgelegt werden kann, und nur in der Singularität eines jeden einzelnen; manche haben überlebt, doch ihr Über-Leben ist nicht länger Leben, es ist der Bruch mit der lebenden Bejahung, die Bezeugung dessen, dass das, was das Leben ist (nicht das narzisstische Leben, sondern das Leben für den anderen) den entscheidenden Anschlag erlitten hat, der nun nichts mehr intakt lässt.«
9

Die Autorinnen und Autoren des Bandes "Niemand zeugt für den Zeugen" stellen sich den Auswirkungen dieser historischen Krise der Zeugenschaft und diesem Über-Leben, das nicht länger Leben im herkömmlichen Sinne ist. Statt sich auf die mittlerweile zu Klischees abgewerteten Begriffe der »Unsagbarkeit« oder »Undarstellbarkeit« von Auschwitz zu berufen, mit denen direkt nach dem Krieg die weitverbreitete Indifferenz gegenüber den Zeugnissen von Überlebenden gerechtfertigt wurde und die z. B. von Jorge Semprun und Georges Perec in ihren Werken bekämpft werden, arbeitet der vorliegende Band Fragen heraus, die über die historische Spezifizität des Holocaust hinausgehen.10

Die nicht nachlassende Beschäftigung mit dem Holocaust als Ereignis, das unser Begriffs- und Deutungsvermögen übersteigt, wird darauf zurückgeführt, dass moralische, politische und kulturelle Grundannahmen der Nachkriegsdemokratien sich nur im Bewusstsein der radikalen Krise der Zeugenschaft verstehen lassen, als die der Holocaust hier erstmalig konsequent verstanden wird.

Können Personen, die ein traumatisches Ereignis selbst nicht erlebt haben, für die Zeugen, die ihre eigenen Erfahrungen aufgrund der aus dem Trauma resultierenden Ohnmacht selbst nicht gänzlich belegen können, eine Art Mitverantwortung für die Vergangenheit oder sogar eine Art »stellvertretende Zeugenschaft« übernehmen?
In der deutschen Forschung sind theoretisch fundierte Überlegungen zur Zeugenschaft, wie sie hier vorgestellt werden, noch ein Desiderat.
11 Dafür gibt es mehrere Gründe: Die Berichte der nichtjüdischen Zeitzeugen und der Täter lassen sich in der Regel in »den Rahmen kultureller Erinnerungsmuster« der deutschen Nachkriegsgesellschaft einpassen und machen somit eine theoretisch fundierte Erfassung des Aktes und der Bedingungen der Zeugenschaft nicht erforderlich.12 Die Rezeption der Berichte von jüdischen Überlebenden wiederum beschränkt sich weitgehend auf zum Teil in hohem Maße literarisierte Darstellungen, die tradierten Erzählmustern folgen. Der Welterfolg von zwei so unterschiedlichen Werken wie Elie Wiesels Nacht und dem Tagebuch der Anne Frank rührt beispielsweise auch daher, wie diese beiden Publikationen ganz bewusst - und notwendigerweise - auf ein nicht ausdrücklich jüdisches, sondern allgemeines europäisch-amerikanisches Publikum zugeschnitten wurden.13 Die Ehrfurcht im Umgang mit den Zeugenaussagen von Überlebenden mag selbst der begründeten Furcht entspringen, dass kritische Ansätze sich allzu leicht als Ausdruck niederer Motive auslegen lassen.
Die theoretische Überlegung, dass es so etwas wie eine sekundäre oder stellvertretende Zeugenschaft gibt, könnte aber auch das Primat und die Authentizität des Augenzeugens in Frage stellen. »Authentizität« der Zeugenschaft bedeutet in diesem Kontext die Beweiskraft und Glaubhaftigkeit des Zeugnisses für eine von der Zeugin oder dem Zeugen erlebte Wirklichkeit. Geht man vom Primat der Zeugenschaft aus, so setzt man voraus, dass Augenzeugenberichte glaubhafter als Nacherzählungen sind, selbst wenn diese noch so einfühlsam und ausdrucksstark formuliert werden. Wird eine sekundäre Zeugenschaft jedoch anerkannt, zersetzen wir dann nicht die vielbeschworene Differenz zwischen den ursprünglichen, authentischen Erfahrungen der Opfer und dem Nacherleben derjenigen, die später auf deren Aussagen treffen?
14 Sobald man die Mithilfe an und die aktive Aufnahme der Zeugenschaft so versteht, dass jemand »für die Zeugen zeugt« und für die Wahrheit dessen, was man nicht selbst erlebte, eine Verantwortung übernimmt, droht der Unterschied zwischen authentischer Erfahrung und vorgestelltem Leid, zwischen geschichtlicher Wahrheit und konstruierter Nacherzählung, zwischen Realität und Rhetorik, zwischen Fakt und Fiktion zu schwinden.

Es wäre jedoch falsch, die sorgfältige Analyse der Unterschiede, der Struktur und insbesondere die Auseinandersetzung mit der erschütternden Spaltung im Inneren der Zeugenaussagen abzulehnen, da solche Gedankengänge unweigerlich dazu führen würden, daß man der extremen Erfahrung, wie sie die Überlebenden erlitten, ihre singuläre Bedeutung oder Wirklichkeit abspricht. Die Begriffe des »Authentischen« und der »Erfahrung« sind in diesem Jahrhundert auf das Furchtbarste durch Ereignisse erschüttert worden, die die Grenzen des Erfahrbaren überschritten. Die Zeuginnen und Zeugen extremer Katastrophen tragen die Erinnerung an eine Erfahrung in sich, deren Mitteilung keinesfalls immer befreiend wirkt, sondern selbst als traumatisch erlebt wird. Die zerstörerische psychische Gewalt des ursprünglichen Traumas lässt in vielen Fällen eine Einarbeitung in das Gedächtnis nicht zu. Diese als »Fremdkörper in der Seele«15 empfundene Erinnerung drängt auf Mitteilung und muss möglicherweise zugleich vom Bewusstsein der Zeugin oder des Zeugen ferngehalten werden, da durch die Zeugenaussage Affekte mit einer dem ursprünglichen Trauma fast vergleichbaren Gewalt hervorbrechen können. Indem von dieser Wirklichkeit vor einer anderen Person Zeugnis abgelegt wird, kann die einzelne Person durch diese Mitteilung vom psychischen Druck der Erinnerung zumindest teilweise entlastet werden. Um das Zeugnis überhaupt hervorzubringen und um diese Erleichterung zu ermöglichen, bedarf es dieser zuhörenden Person, die eine Art der zweiten Zeugenschaft übernimmt.

Doch sollte man die antithetischen Begriffe der »authentischen Erfahrung« und der »sekundären Zeugenschaft« oder des »Nacherlebten« nicht einfach verwerfen. Sie lassen sich vielmehr unter Berücksichtigung eines nuancierten Verständnisses der wesentlichen und paradoxen Nichterfahrbarkeit von traumatischer Erfahrung dekonstruieren. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes stellen die Frage in den Vordergrund, inwieweit unser eigenes Denken und Verhalten in der Gegenwart einem nicht immer eingestandenen oder bewussten Verständnis dieser historisch belasteten Begriffe verschrieben ist. Beispielsweise wird uns der verdeckte Zusammenhang zwischen dem Alltagsbegriff der »Authentizität« und den belasteten Begriffen der »Echtheit« und »Reinheit«, in deren Namen Millionen von Menschen für lebensunwürdig befunden und vernichtet wurden, erst langsam bewusst. Jacques Derrida hat die Ergründung dieser Verstrickung des eigenen Denkens und Sprechens in die Katastrophe als die unumgängliche Aufgabe unseres Denkens nach Auschwitz bezeichnet:

»Gäbe es aber eine solche Lehre, eine einzigartige Lehre unter den stets einzigartigen Lehren, die man aus einem besonderen Mord, aus allen kollektiven Vernichtungen der Geschichte ziehen könnte (jeder individuelle Mord, jeder Kollektivmord ist ein Singuläres, ist also unendlich und unvergleichlich), so wäre die Lehre, die wir heute daraus ziehen können (und wenn wir sie ziehen können, müssen wir es auch tun), die, dass wir die mögliche Mitschuld all dieser Diskurse am Schlimmsten (hier geht es um die Endlösung), die mögliche komplizenhafte Verbindung, die zwischen diesen Diskursen und dem Schlimmsten besteht, denken, erkennen, vorstellen, formatieren, beurteilen müssen16

Statt den Begriff der Authentizität abzulehnen und damit die Singularität und nicht zuletzt auch Unentschiedenheit der Augenzeugenberichte in Frage zu stellen, zeigen die Beiträge dieses Bandes anhand der verschiedenen Formen und Dimensionen der Zeugenschaft, dass sich die Bedeutung von Authentizität in der Auseinandersetzung mit dem Wesen der Zeugenschaft verändert. Die Frage, wer das Recht auf die Echtheit und Glaubwürdigkeit einer Aussage beanspruchen kann - wer beispielsweise die extremen Erlebnisse von Opfern darstellen oder wiedergeben darf, die sich der Erfahrung selbst entziehen -, findet ihre Antwort darin, dass Authentizität sich nicht in der Zeugenaussage lokalisieren lässt. Die Wahrheit der Zeugenaussage, so zeigen diese Beiträge, entsteht und existiert vielmehr nur in und durch ihre Mitteilung; ohne ein Gegenüber, ohne eine zuhörende Person, kann eine Aussage nicht zum Zeugnis werden. Alle Aufsätze widmen sich dieser schwierigen Einsicht im Bewusstsein der abgründigen und undurchdringlichen Stille, die sowohl hinter den leisesten wie auch ausdrucksvollsten Zeugenaussagen und selbst noch hinter dem Metapherngestöber der Kommentare herrscht; die Autorinnen und Autoren schreiben im Bewusstsein des Schweigens, das heute, aus dem Ereignis der Schoah heraus, von uns eine angemessene Antwort verlangt. Alle Beiträge verstehen das Wesen der Zeugenschaft als dialogischen Aufruf und Appell an die Verantwortung. Authentizität kann folglich nicht mehr so verstanden werden, als »gehöre« sie den Augenzeugen oder kennzeichne diese wie das unsichtbare Wasserzeichen in einem von der Geschichte selbst abgestempelten imaginären Pass. Authentizität ereignet sich vielmehr erst durch die Mitteilung des Zeugnisses an andere. Die diffizile Frage nach der Möglichkeit einer sekundären Zeugenschaft späterer Generationen wird somit nicht als Enteignung der Zeugnisse erster Hand aufgefasst, sondern als ein notwendiger und verantwortungsvoller und schließlich kritischer Vorgang der Rezeption und Aufnahme der Zeugnisse, durch welchen die Last der Überlieferung von Erfahrungen jenseits des Erfahrbaren mit den Zeuginnen und Zeugen geteilt wird.
... Fortsetzung Teil III...

  1. Maurice Blanchot, Apres coup, precede par Le ressassement e'ternel, Paris 1983,8.98.
  2. Zum Begriff des »Unsagbaren« und der Rezeption der Zeugenaussagen nach dem Krieg vgl. Annette Wieviorka, Deportation et genocide: entre la memoire et l'oubli, Paris 1992, S. 159-191. Vgl. auch Jorge Semprun, Schreiben oder Leben, Frankfurt/M. 1995, und Georges Perec, der in W oder die Kindheitserinnerungen (Frankfurt/M. 1982) schreibt, daß »das Unsagbare sich nicht im Geschriebenen [verkriecht], es ist das, was das Schreiben lange zuvor ausgelöst hat« (S. 54).
  3. Auf einer Tagung betonte Elisabeth Domansky, daß »der Beitrag, den wir leisten könnten, darin besteht, [...] zu diesen informierten Zeugen zu werden, [indem] wir den Opfern zuzuhören beginnen und die Geschichte der Opfer als die Geschichte des Nationalsozialismus begreifen lernen«. Wie Manuel Koppen in einer Zusammenfassung hervorhebt, »richtete sich heftiger Widerstand« der anderen Konferenzteilnehmer (mit Ausnahme von Micha Brumlik) gegen Domanskys Vorschlag. Vgl. »Zur Zukunft des Er-innerns: Eine Diskussion mit Jurek Becker, Micha Brumlik, Elisabeth Domansky, Gerhard Schönberner, Horst Denkler«, in: Manuel Koppen (Hg.), Kunst und Literatur nach Auschwitz, Berlin 1993, S. 204.
  4. Vgl. auch Harald Welzer, Verweilen beim Grauen: Essays zum wissenschaftlichen Umgang mit dem Holocaust, Tübingen 1997, S. 128 und 142.
  5. Zu Wiesels Un di Velt hot geshvign und der Übersetzungs- und Rezeptionsgeschichte dieses jiddischen Textes vgl. Naomi Seidman, »Elie Wiesel and the Scandal of Jewish Rage«, in: Jewish Social Studies 3:1 (Herbst 1996), S. 1-20.
  6. Siehe Klaus Scherpe, »Von Bildnissen zu Erlebnissen: Wandlungen der Kultur 'nach Auschwitz'«, in: Hartmut Böhme/Klaus Scherpe (Hg.), Literatur und Kulturwissenschaften, Hamburg 1996, S. 254-282; hier S. 265; Manuel Koppen, »Auschwitz im Blick der zweiten Generation«, in: Koppen (Hg.), Kunst und Literatur nach Auschwitz, a. a. O., S. 68.
  7. Dieser Ausdruck findet sich bei Ruth Klüger, weiter leben: Eine Jugend, Göttingen 1992, S. 138.
  8. Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der "mystische Grund der Autorität", Frankfurt/M. 1991, S. 124f. Übersetzung leicht modifiziert.

hagalil.com 18-04-2004

 

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