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..."Niemand zeugt
für den Zeugen"...
Paul Celan
Erinnerungskultur und historische
Verantwortung nach der Schoah
Furchtbare Aussagen:
Die zweite Traumatisierung
Teil III. (von IV) aus Ulrich Baers Einleitung
zu "Niemand
zeugt für den Zeugen"
Zeugnis ablegen zu müssen ist keine Auszeichnung. Für viele Überlebende von
systematischer Gewalt wird der Moment, »wenn die Erinnerung kommt«, um hier Saul
Friedländers Ausdruck aufzugreifen, als weitere Traumatisierung erfahren. Die
Aufgabe, Zeugnis abzulegen, scheint in manchen Fällen kaum vernarbte seelische
Wunden wieder aufzureißen und die ursprüngliche Entwürdigung und das Leid zu
wiederholen.
In ihrer Furchtbarkeit jagen die Zeugenaussagen über die Schrecken
der Schoah nicht nur den Zuhörenden, sondern den Zeuginnen und Zeugen selbst
Angst ein. So kommentiert ein norwegischer Überlebender von Dachau seine eigene
Zeugenaussage mit den Worten, dass ihn die eigene Fähigkeit, unmenschliche
Erfahrungen auszudrücken, nicht entlaste, sondern ihm im Gegenteil Furcht
einflöße und ihn immer weiter von sich selbst entfremde. 17 Die Selbstmorde von
Paul Celan, Jean Amery, Primo Levi, Bruno Bettelheim und Richard Glazar und die
Texte von Jorge Semprun sind ernüchternde Mahnungen daran, dass das Ablegen eines
Zeugnisses oft wie unter Zwang geschieht und als überwältigende Verpflichtung
keinesfalls immer befreit. Leicht verdecken Warnungen, dass Außenstehende als
»sekundäre Zeugen« die Glaubwürdigkeit der Berichtenden und deren
»Schlüsselrolle in der Erinnerung an den Holocaust« in Frage stellen könnten,
den Mangel an Willen, sich der spezifischen Gewalt und der allgemeinen Bedeutung
dieser Vergangenheit bewusst zu werden.18 Diese sekundäre Form der Zeugenschaft,
wenn sie nicht usurpatorisch die Erfahrungen von anderen vereinnahmt, sondern
durch das Ablegen des Zeugnisses Verantwortung mit den Zeuginnen und
Zeugen teilt, wäre eine Antwort auf die Gefahr einer zweiten Traumatisierung
dieser Zeugen.
Die Befürchtungen, daß die ursprünglichen Erfahrungen durch solche Zeugen
zweiten Grades vereinnahmt werden können, entsprechen nicht immer dem Interesse oder dem Bedürfnis der
traumatisierten Opfer. Auch wenn die singulären Erfahrungen ehemaliger
Verfolgter vor der wiederholten Enteignung und Instrumentalisierung durch
diverse Interessengruppen geschützt werden müssen, wird in solchen Argumenten
leicht die radikale Entfremdung und Spaltung im Innern der traumatischen
Erfahrung übersehen, die aufgrund der systematischen Erniedrigung und
Vernichtung dazu führen, dass die Betroffenen sich ihrer extremen Erfahrungen -
der Splitter der Geschichte - nicht einfach durch eine »authentische«
Zeugenaussage entledigen können. Um zum Erinnern und Gedenken beitragen zu
können, benötigen die Zeuginnen und Zeugen oft selbst eine Art Hilfe - ein
Gegenüber, zu dem der vorliegende Band ermutigen soll -, die in einem
Bewusstsein
über unsere sich fortwährend ändernde Aufnahmefähigkeit für die Grauen der
Vergangenheit und Gegenwart gründen muss.
Durch eine Analyse der Möglichkeiten und Einschränkungen der Zeugenschaft
nach der Schoah werden wir schließlich mit der Frage konfrontiert, ob wir
heutzutage nicht außer für die Wahrheit geschichtlicher Ereignisse auch für die
Geschehen in der Gegenwart, hier »bei uns« sowie »jenseits« der selbstgerechten
Grenzen der eigenen Lebenswelt, eine Art Zeugenschaft und Verantwortung
übernehmen können und müssen. Wenn das Bezeugen der Geschichte den Opfern selbst
überlassen wird, versäumen wir eine wichtige Gelegenheit, das von anderen
erlittene Leid im Verhältnis zur eigenen Geschichte zu sehen und uns somit der
eigenen Rolle und Verantwortung in dieser Geschichte und in der Gegenwart
bewusst zu werden.
Es geht also nicht darum, »das authentische Geschehen der Vernichtung im
eigenen Erleben wiederzuentdecken« - was immer dies bedeuten mag -, wie in
Deutschland bisweilen angemahnt wird. 19 Gerade im Land der Nachfahren der
verängstigt oder angewidert Weitereilenden, der missgünstigen Zaungäste und
Schaulustigen und derjenigen, die kurz nach dem Abtransport ihrer jüdischen
Nachbarn und Bekannten »nach Osten« den Inhalt der von diesen zurückgelassenen
Koffer und Taschen offiziell ersteigerten oder auf offiziellen Märkten für
Spottpreise erstanden20, verleitet eine oft lähmende Ehrfurcht vor dem Primat der
»authentischen« Zeugenschaft der Überlebenden dazu, die eigene unverarbeitete
Geschichte auf Distanz zu halten und Auschwitz zu einem entfernten und »nicht
darstellbaren« Ereignis zu erklären, zu etwas Furchtbarem, was »bei uns« nicht
zu finden ist.
Es geht aber auch nicht darum, sich mit den Opfern zu
identifizieren, denn im Versuch der Identifikation wird unweigerlich der brutale
Anschlag auf die Identität der Opfer, welche die traumatische Erfahrung
kennzeichnet, zugunsten der psychologischen Befriedigung der Zuhörer durch die
Projektion des Selbst auf andere übergangen oder verkannt.
Auch wenn der Begriff einer kritischen sekundären Zeugenschaft in der
Absicht abgelehnt wird, die teilweise jahrzehntelang ignorierten
schriftstellerischen und künstlerischen Zeugnisse der Überlebenden als
eigenständige Werke bruchlos der deutschen Nachkriegskultur einzuverleiben, ist
das Risiko, dass diese Werke damit vergessen werden, zu hoch. Die Zeugenaussagen,
die im Namen einer unantastbaren Authentizität somit letztlich sich selbst
überlassen bleiben, werden in der Flut der Dokumente versinken. Geschichte
erzählt sich nicht von selbst, und die Zeugenaussagen, die unsere Auffassung von
Kultur, Sprache und Menschlichkeit radikal in Frage stellen und uns an die
Grenzen des Bekannten und Vertrauten bringen, sind alles andere als
selbstverständlich. Die Berichte von Überlebenden erfordern von uns kritische
und kreative Formen der Antwort, deren theoretische und praktische Dimensionen
im Band "Niemand
zeugt für den Zeugen" analysiert werden. Wenn die Möglichkeit einer Mitverantwortung
von Nichtbeteiligten für die Zeugenschaft der Vergangenheit noch nicht einmal
erwogen wird, werden die Augenzeugen schließlich in eine intellektuelle
Sperrzone der »Authentizität« verbannt, die den radikalen Weltverlust und die
traumatische Isolierung der Betroffenen in der ursprünglichen Erfahrung nun auf
der Rezeptionsebene zu wiederholen scheint. Außerdem entfällt somit der Gedanke,
dass auch unbeteiligte, entfernte und später geborene Zuschauer nicht nur fähig,
sondern verpflichtet sind, eine nachträgliche Form der verantwortungsvollen
Zeugenschaft für die Aussagen der traumatisierten und somit per Definition psychologisch
überforderten Zeuginnen und Zeugen zu übernehmen.
Der Begriff der sekundären Zeugenschaft betrifft nicht die »deutsche
Schuldphantasie« einer Kollektivschuld, welche die Debatten der ersten
Nachkriegsjahrzehnte, durch Karl Jaspers ursprünglich 1946 veröffentlichten Text
Die Schuldfrage angeregt, bestimmte. 21 Wie Lawrence Douglas im
III. Abschnitt "Zeugenschaft und Medien" des Bands "Niemand
zeugt für den Zeugen" belegt, vermieden die Alliierten den Begriff der Kollektivschuld schon in
den Nürnberger Prozessen aus juristischen und politisch-strategischen Gründen;
die Überlebenden selbst hätten einen solchen Vorwurf nur erheben können, wenn in
Deutschland ein entsprechender »kollektiver« Wille existiert hätte, ihnen
zuzuhören und auf diesen Vorwurf einzugehen. Die Deutschen waren nach dem Krieg
für eine Weile damit beschäftigt, sich als Volk der vom »Führer« Verführten zu
begreifen. Doch durch die Arbeiten von Walter Laqueur, Raul Hilberg, lan
Kershaw und anderen Historikern ist deutlich geworden, dass die Frage nach der
Kollektivschuld vielleicht von Beginn an falsch gewichtet war.22 Auch wenn
jüngere Beiträge zur Erinnerungskultur mit dem erhobenen Zeigefinger der
Nachgeborenen selbstgerecht darauf beharren, bestand und besteht die
überwältigende Mehrheit der deutschen Nachkriegsbevölkerung nicht aus den
»Angehörigen und Nachkommen der Täter«, willigen Vollstreckern oder einem
politisch immer noch existierenden »Täterkollektiv«,23 sondern aus Millionen von Zeuginnen und Zeugen.
Sicherlich läßt sich seit dem
Medienwirbel um Daniel Goldhagens Bestseller und der vom Hamburger Institut für
Sozialforschung vielerorts gezeigten Ausstellung über die »Verbrechen der
Wehrmacht« die bestürzend hohe Anzahl von Tätern (und Zeugen) der fanatisch
betriebenen Ausrottung der jüdischen und nichtjüdischen Bevölkerung in Osteuropa
unter den deutschen Soldaten nicht mehr abstreiten. Doch die deutsche
Zivilbevölkerung bildete in ihrer Mehrheit eine Gemeinschaft von Zeuginnen und
Zeugen, die der systematischen Ausgrenzung, Entwürdigung, Beraubung,
Diskriminierung, Misshandlung, Verfolgung und Vertreibung der Juden und
»Zigeuner«24 aus ihrer Heimat beiwohnten, ein
Prozess, der der systematischen
Vernichtung »im Osten« neun lange Jahre vorausging.
Mit dem Begriff der
sekundären Zeugenschaft wird das Problem der unzureichenden Strafverfolgung der
Täter und die letztlich unergiebige Frage nach der Kollektivschuld, die den
Diskurs bis in den Historikerstreit und die Denkmaldebatte hinein polarisierte
und schließlich oftmals zum Erliegen brachte, durch die Fragestellung über die
Verantwortung der Zuschauer, der Dabeistehenden, der Zeugen
ergänzt. Die vorliegenden Beiträge widmen sich dieser Problematik der
Zeugenschaft, da in der gedanklichen Annäherung an den Holocaust offen blieb, wo
die Grenzen zwischen Passivität, Billigung, Zustimmung, Beifallsbezeugung,
Mitverantwortung und Beihilfe zu ziehen sind. Alle Aufsätze in diesem Band gehen
von der Frage aus, wie die Erfahrung, durch die man zum Zeugen von etwas wird
- ohne notwendigerweise zu verstehen, was erlebt oder gesehen wird -, in den
Akt umgesetzt werden kann, durch den von dieser Erfahrung Zeugnis abgelegt wird.
Es geht um das Verhältnis zwischen dem nicht immer voll bewussten und oft
passiven Zum-Zeuge-Werden und dem Ablegen eines Zeugnisses. Es
geht darum, wie Einzelpersonen und ganze Teile der Gesellschaft zufällig oder
gewollt ein Geschehen mitansehen, aber diesen Teil der Wirklichkeit - auf noch
unzureichend verstandene Weise - dann ausblenden, d.h. nicht in ihr Bild der
Realität einlassen können. Es geht darum, wann und wie der Akt der
Wahrnehmung zum Akt des Bezeugens und schließlich zum Bewußtsein der
Verantwortung für die mitangesehene Realität werden kann.
Daß diese Fragestellung heute von zunehmender Bedeutung ist und über die
spezifische Situation des Holocaust hinausgeht, zeigen zwei eigenständige
Positionen, die unabhängig vom medialen oder akademischen Diskurs über den
Holocaust entwickelt wurden und zentrale Punkte der gegenwärtigen Debatte über
Verantwortung umreißen. So argumentiert Hans Magnus Enzensberger 1993 in
seinen provokanten Aussichten auf den Bürgerkrieg, worin er sich auch auf
die deutsche Passivität während der Nazizeit bezieht, dass Verantwortung heute zu
einer permanenten Überforderung geworden ist. »Jede Ethik der Verantwortung«,
schreibt Enzensberger in seinen Betrachtungen zu gewalttätigen Konflikten, die
sich sowohl fern als auch in unserer Nähe ereignen, hat es mit der »quälenden
Ausweglosigkeit zu tun, die sich am Extremfall zeigt«. 25 Diese Ausweglosigkeit
resultiert aus folgender Lage: Da wir mittlerweile mit minimaler Verzögerung in
Bild und Text Berichte von Grausamkeiten empfangen, die vor einem halben
Jahrhundert erst Tage, Wochen oder Monate nach ihrem Geschehen an die
Weltöffentlichkeit drangen, befinden wir uns pausenlos in einem Zustand der
leichten moralischen Benommenheit oder, mit Enzensbergers Worten, in einer Lage
der »psychischen und kognitiven Überforderung«.26 Wie soll man auf das uns
täglich ins Haus gelieferte Leiden in der Ferne angemessen reagieren?27 Wenn wir
durch die Medien ein Geschehen live mitverfolgen können, das unser
Gerechtigkeitsgefühl zutiefst verletzt, steht es uns dann noch frei, nur die am
Ort Anwesenden und direkt Betroffenen für das Bezeugen dieses Vorfalls verantwortlich zu
machen?
In seinen Überlegungen zu dieser ständigen moralischen Überforderung
kritisiert Enzensberger die universalistische Ethik, da wir uns, wenn wir uns
nach ihr richten, angesichts der medialen Überflutung mit schockierenden und
unüberschaubaren Konflikten zwangsläufig einigeln und schließlich unsere
moralische Entrüstung und unsere Reaktions- und Handlungsfähigkeit ganz
abschalten. Enzensberger folgert daraus, dass wir die Nächstenliebe höher setzen
sollten als die Fremdenliebe und uns »insgeheim« eingestehen müssen, dass wir uns
zuerst, auch auf Kosten anderer, um unsere unmittelbare Umgebung und unsere
eigene Zukunft - sprich »unsere Kinder« - kümmern sollten. 28
Im Gegensatz zu dieser scheinbar »pragmatisch« orientierten Antwort auf die
Krise der Zeugenschaft, in die uns die täglich übertragene Gewalt bringt,
insistiert Derrida in Politiques de l'amitie, worin er die belasteten
Begriffe der Freundschaft und Brüderlichkeit dekonstruiert, darauf, dass die
Verantwortung nicht auf diese Weise dem berechnenden Denken preiszugeben sei. 29
Im Kontext einer Lektüre der Texte zur Ethik von Emmanuel Levinas entwickelt
Derrida Verantwortung als etwas, das per Definition unsere Fähigkeiten
übersteigt und sich so »der Vorherrschaft der Interessen des Ichs entzieht«.30
Wenn man Verantwortung im Rahmen des Machbaren und Möglichen und der Vor- und
Nachteile einer Handlung kalkuliert, handelt man nicht verantwortlich, sondern
berechnend. Derrida definiert den Begriff der Verantwortung als den Aufruf zur
Anerkennung des Anderen, der uns vor jeglicher gesetzlichen oder
empirischen Verpflichtung und vor der Möglichkeit erreicht, diesen Aufruf
abzulehnen oder anzuerkennen. Derrida schlägt vor, den Begriff der absolut
unberechenbaren Verantwortung nicht als Verwässerung und Nivellierung der Ethik,
sondern als Vermittlung zwischen den partikularen Anforderungen der politisch-gesellschaftlichen
Wirklichkeit und dem universalistischen Anspruch der Verantwortung zu denken.
Auch wenn Enzensberger und Derrida daraus andere Schlüsse ziehen, bestehen
sie auf der grundsätzlichen Überforderung, die aus der Verantwortung entsteht,
für die Erfahrung und die Aussagen von anderen zu zeugen. Zwischen den
Partikularinteressen des einzelnen und den unerfüllbaren Anforderungen einer
universellen Verantwortung lässt sich nun genau das Problem der Zeugenschaft als
eine Handlung situieren, die sich nur im und als Austausch zwischen Personen
oder Gruppen ereignen kann. Es geht im vorliegenden Band um die Gegenseitigkeit
dieser Beziehung - um ebendiese vermittelnde Funktion zwischen dem universellen
Anspruch der Verantwortung für andere und der singulären Bedürfnisse des
einzelnen, die durch die Zeugin oder den Zeugen eingenommen wird. Es geht um die
von Enzensberger und Derrida besprochene ethische Verpflichtung, für
geographisch, kulturell oder zeitlich entfernte Geschehen - ob 50 Jahre zurück
oder fünf Meter entfernt - Zeugnis abzulegen. Die Verfasserinnen und Verfasser
des vorliegenden Bandes schreiben in dem Bewusstsein, daß die nach Auschwitz
aufgeworfenen beunruhigenden Fragen nach der Authentizität und dem Primat der
Zeugenschaft für niemanden vermeidbar sind. Da sie die Ehrfurcht vor einer
sakrosankten authentischen Erfahrung durch eine Neudefinition des Begriffs der
Verantwortung abbauen, wird deutlich, dass sich niemand für geschichtlich und
geographisch ferne Geschehnisse unzuständig erklären kann. Ganz gleich, auf
welche Identität oder Gruppenzugehörigkeit wir uns berufen, hat die Vernetzung
der Medien uns alle zu Nachfolgern eben jener »Zuschauer« in Deutschland, in
Europa und in der ganzen Welt gemacht, die vor einem halben Jahrhundert die von
Deutschen ausgeführte Vernichtung der europäischen Juden geschehen ließen.
Unser eigenes Alltagsverhalten muss dieser Einsicht folgen und das Gefühl der
moralischen Benommenheit, das eher zu- als abnimmt, in politisches Bewusstsein
und Handlungen auflösen, durch welche die Rechte von Minderheiten untrennbar mit
den Interessen der Mehrheit - in politischen, gesellschaftlichen und privaten
Einrichtungen - verknüpft werden.
Die Auseinandersetzung mit den Leiden der Vergangenheit und den Leiden anderer
kann in verantwortlichem Handeln münden, statt in der unmöglichen Einfühlung und Identifikation mit den Toten, in Verdrängung, in
politisch lähmendem Mitleid, in melancholischer Fixierung oder im stummen
Entsetzen über die schockierende Fremdheit der traumatischen Erfahrung zu enden.
Für den Zeugen zu zeugen, um auf Celan zurückzukommen, ist letztlich eine
Aufgabe für uns selbst und bedeutet, um dies mit einer Formulierung von Cathy
Caruth in diesem Band auszudrücken, »nicht das einfache Verstehen der
[traumatischen] Vergangenheit von anderen, sondern vielmehr unsere Fähigkeit,
innerhalb der Traumata der zeitgenössischen Geschichte die Bewegungen zu
vernehmen, die uns alle von uns selbst weggeführt haben«. Die
Auseinandersetzung mit den Traumata der Geschichte führt zu einer zentralen
Frage dieses Bandes, wie sich eine ethische Position in der Gegenwart einnehmen
lässt.
Die Tatsache, dass in den mittlerweile mit symptomatischer Regelmäßigkeit in
den deutschen Medien inszenierten öffentlichen Debatten über das Nachwirken des
Holocaust einige der hier aufgeworfenen Fragen bisher nicht ausreichend
berücksichtigt wurden, kann als kulturspezifisches Phänomen erklärt werden. Das
Denken über die »Erfahrung« der Schoah wird oft »Betroffenen« zugeteilt, als
ginge dieses Ereignis nicht alle Deutschen so direkt an, daß auch wohlmeinende
Distanz - die durch ein reges Interesse an jüdischem Leben und philosemitische
Bekundungen keineswegs verringert wird - leicht zu Verleugnung und Selbstschutz
auf Kosten anderer wird. An vielen Zeugenaussagen ist zu erkennen, dass diese
selbst ihre Autorität in Zweifel ziehen - deshalb fragen die hier versammelten
Autorinnen und Autoren nach der Bedeutung von Zeugenaussagen, die über ein
Verständnis der Geschichte als Wissensbildung hinausgeht. Die vorliegenden
Beiträge präsentieren theoretisch fundierte und pädagogisch umsetzbare
Überlegungen dazu, wie die jetzt aufwachsenden Generationen die
Geschichtserfahrungen ihrer Vorfahren bezeugen und Verantwortung für Geschehen
in der Gegenwart übernehmen können.
... Fortsetzung Teil IV...
- Zeugenaussage von Arne K., im Fortunoff Video Archive for Holocaust
Testimonies, Yale Universität, HVT-1123.
- Zum Status der Augenzeugen siehe auch Jonathan Webber, »Erinnern,
Vergessen und Rekonstruktion der Vergangenheit«, in:
Fritz-Bauer-Institut (Hg.),
Auschwitz. Geschichte, Rezeption und Wirkung, Frankfurt/M. 1996, S. 28 f.
- Vgl. Scherpe, »Von Bildnissen zu Erlebnissen«, in: Scherpe/Böhme (Hg.),
Literatur- und Kulturwissenschaften, a. a. O., S. 24 j.
- Raul Hilberg berichtet über einen solchen Vorfall in Leipzig in Täter,
Opfer, Zuschauer: Die Vernichtung der Juden 1933-1945, Frankfurt/M. 1992,
S.216.
- Karl Jaspers, Die Schuldfrage, Heidelberg 1946. Vgl. hierzu:
Wolfgang Benz, »Die Verfolgung und Vernichtung der Juden im Bewusstsein der
Deutschen«, in: Peter Freimark / Alice Jankowski / Ina S. Lorenz (Hg.), Juden
in Deutschland. Emanzipation, Integration, Verfolgung und Vernichtung,
Hamburg 1991, S. 438; Jürgen Habermas, Eine Art Schadensabwicklung,
Frankfurt/M. 1987, S. 137-148; und Anson Rabinbach, "Der Deutsche als Paria:
Deutsche und Juden in Karl Jaspers' Die Schuldfrage", in: Bernhard
Moltmann u. a. (Hg.), Erinnerung: Zur Gegenwart des Holocaust in
Deutschland-West und Deutschland-Ost, Frankfurt/M. 1993, S. 169-189.
- Vgl. Walter Laqueur, Was niemand wissen wollte, Berlin 1982;
Hilberg, Täter, Opfer, Zuschauer, a.a.O.; lan Kershaw, »German Public
Opinion During the Final Solution: Information, Comprehension, Reactions«, in:
Comprehending the Holocaust: History and Literary Research, a. a. O., S.
145-159.
- Vgl. Micha Brumliks sonst überzeugende Überlegungen zur angemessenen
Auseinandersetzung mit der Schoah im heutigen Deutschland: »Im Niemandsland des Verstehens«, in: Wieland Eschenhagen (Hg.), Die neue
deutsche Ideologie: Einsprüche gegen die Entsorgung der Vergangenheit,
Darmstadt 1988, S. 97.
- Ich verwende hier den Begriff »Zigeuner«, statt mir die für Außenstehende
wahrscheinlich nicht zu erlangende Vertrautheit mit den ehemals Verfolgten
anzumaßen, die zur Unterscheidung verschiedener Gruppen erforderlich wäre. Ich
berufe mich auf die Zeugenaussage von Lilly L., einer überlebenden deutschen
Zigeunerin: »Wir sind als "Zigeuner" verfolgt worden [...], und wir werden uns
als "Zigeuner" erinnern« (Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies,
Yale-Universität, HVT-2767). In diesem Zusammenhang sei auch auf Gershom
Scholems scharfe Kritik der nachträglichen Umdefinierung der Opfer verwiesen.
Scholem empfahl, daß wir »gar nicht nachdrücklich genug von den Juden sprechen
[können], wenn wir von ihrem Schicksal unter den Deutschen reden«. Vgl. Scholem:
Deutsche und Juden, Frankfurt/M. 1967, S. 23.
- Hans Magnus Enzensberger, Aussichten auf den Bürgerkrieg,
Frankfurt/ M. 1993,5.89.
- 26 Ebd., S. 79.
- Vgl. hierzu Luc Boltanski, La Souffrance ä distance, Paris 1993.
Enzensberger, Aussichten, a. a. O., S. 84.
Vgl. Jacques Derrida, Politiques de l'amitie, Paris 1994, S. 25 5
f.
Ich entlehne diese Formulierung Elisabeth Webers Einleitung »Die jüngsten
Kinder der Republik«, in: Weber (Hg.), Jüdisches Denken in Frankreich,
Frankfurt/M. 1994, S.27. Vgl. auch E. Weber, Trauma und Verfolgung, Wien
1990, und Helmut Peukert, »Unbedingte Verantwortung für den Anderen«, in: Helmut
Schreier / Matthias Heyl (Hg.), »Daß Auschwitz nicht noch einmal sei. .«
Zur Erziehung nach Auschwitz, Hamburg 1995. S. 234-246.
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18-04-2004 |
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