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..."Niemand zeugt
für den Zeugen"...

Paul Celan

Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Schoah

Furchtbare Aussagen:
Die zweite Traumatisierung

Teil III. (von IV) aus Ulrich Baers Einleitung
zu "Niemand zeugt für den Zeugen"

Zeugnis ablegen zu müssen ist keine Auszeichnung. Für viele Überlebende von systematischer Gewalt wird der Moment, »wenn die Erinnerung kommt«, um hier Saul Friedländers Ausdruck aufzugreifen, als weitere Traumatisierung erfahren. Die Aufgabe, Zeugnis abzulegen, scheint in manchen Fällen kaum vernarbte seelische Wunden wieder aufzureißen und die ursprüngliche Entwürdigung und das Leid zu wiederholen.

In ihrer Furchtbarkeit jagen die Zeugenaussagen über die Schrecken der Schoah nicht nur den Zuhörenden, sondern den Zeuginnen und Zeugen selbst Angst ein. So kommentiert ein norwegischer Überlebender von Dachau seine eigene Zeugenaussage mit den Worten, dass ihn die eigene Fähigkeit, unmenschliche Erfahrungen auszudrücken, nicht entlaste, sondern ihm im Gegenteil Furcht einflöße und ihn immer weiter von sich selbst entfremde.
17 Die Selbstmorde von Paul Celan, Jean Amery, Primo Levi, Bruno Bettelheim und Richard Glazar und die Texte von Jorge Semprun sind ernüchternde Mahnungen daran, dass das Ablegen eines Zeugnisses oft wie unter Zwang geschieht und als überwältigende Verpflichtung keinesfalls immer befreit. Leicht verdecken Warnungen, dass Außenstehende als »sekundäre Zeugen« die Glaubwürdigkeit der Berichtenden und deren »Schlüsselrolle in der Erinnerung an den Holocaust« in Frage stellen könnten, den Mangel an Willen, sich der spezifischen Gewalt und der allgemeinen Bedeutung dieser Vergangenheit bewusst zu werden.18 Diese sekundäre Form der Zeugenschaft, wenn sie nicht usurpatorisch die Erfahrungen von anderen vereinnahmt, sondern durch das Ablegen des Zeugnisses Verantwortung mit den Zeuginnen und Zeugen teilt, wäre eine Antwort auf die Gefahr einer zweiten Traumatisierung dieser Zeugen.

Die Befürchtungen, daß die ursprünglichen Erfahrungen durch solche Zeugen zweiten Grades vereinnahmt werden können, entsprechen nicht immer dem Interesse oder dem Bedürfnis der traumatisierten Opfer. Auch wenn die singulären Erfahrungen ehemaliger Verfolgter vor der wiederholten Enteignung und Instrumentalisierung durch diverse Interessengruppen geschützt werden müssen, wird in solchen Argumenten leicht die radikale Entfremdung und Spaltung im Innern der traumatischen Erfahrung übersehen, die aufgrund der systematischen Erniedrigung und Vernichtung dazu führen, dass die Betroffenen sich ihrer extremen Erfahrungen - der Splitter der Geschichte - nicht einfach durch eine »authentische« Zeugenaussage entledigen können. Um zum Erinnern und Gedenken beitragen zu können, benötigen die Zeuginnen und Zeugen oft selbst eine Art Hilfe - ein Gegenüber, zu dem der vorliegende Band ermutigen soll -, die in einem Bewusstsein über unsere sich fortwährend ändernde Aufnahmefähigkeit für die Grauen der Vergangenheit und Gegenwart gründen muss.

Durch eine Analyse der Möglichkeiten und Einschränkungen der Zeugenschaft nach der Schoah werden wir schließlich mit der Frage konfrontiert, ob wir heutzutage nicht außer für die Wahrheit geschichtlicher Ereignisse auch für die Geschehen in der Gegenwart, hier »bei uns« sowie »jenseits« der selbstgerechten Grenzen der eigenen Lebenswelt, eine Art Zeugenschaft und Verantwortung übernehmen können und müssen. Wenn das Bezeugen der Geschichte den Opfern selbst überlassen wird, versäumen wir eine wichtige Gelegenheit, das von anderen erlittene Leid im Verhältnis zur eigenen Geschichte zu sehen und uns somit der eigenen Rolle und Verantwortung in dieser Geschichte und in der Gegenwart bewusst zu werden.

Es geht also nicht darum, »das authentische Geschehen der Vernichtung im eigenen Erleben wiederzuentdecken« - was immer dies bedeuten mag -, wie in Deutschland bisweilen angemahnt wird.19 Gerade im Land der Nachfahren der verängstigt oder angewidert Weitereilenden, der missgünstigen Zaungäste und Schaulustigen und derjenigen, die kurz nach dem Abtransport ihrer jüdischen Nachbarn und Bekannten »nach Osten« den Inhalt der von diesen zurückgelassenen Koffer und Taschen offiziell ersteigerten oder auf offiziellen Märkten für Spottpreise erstanden20, verleitet eine oft lähmende Ehrfurcht vor dem Primat der »authentischen« Zeugenschaft der Überlebenden dazu, die eigene unverarbeitete Geschichte auf Distanz zu halten und Auschwitz zu einem entfernten und »nicht darstellbaren« Ereignis zu erklären, zu etwas Furchtbarem, was »bei uns« nicht zu finden ist.

Es geht aber auch nicht darum, sich mit den Opfern zu identifizieren, denn im Versuch der Identifikation wird unweigerlich der brutale Anschlag auf die Identität der Opfer, welche die traumatische Erfahrung kennzeichnet, zugunsten der psychologischen Befriedigung der Zuhörer durch die Projektion des Selbst auf andere übergangen oder verkannt.

Auch wenn der Begriff einer kritischen sekundären Zeugenschaft in der Absicht abgelehnt wird, die teilweise jahrzehntelang ignorierten schriftstellerischen und künstlerischen Zeugnisse der Überlebenden als eigenständige Werke bruchlos der deutschen Nachkriegskultur einzuverleiben, ist das Risiko, dass diese Werke damit vergessen werden, zu hoch. Die Zeugenaussagen, die im Namen einer unantastbaren Authentizität somit letztlich sich selbst überlassen bleiben, werden in der Flut der Dokumente versinken. Geschichte erzählt sich nicht von selbst, und die Zeugenaussagen, die unsere Auffassung von Kultur, Sprache und Menschlichkeit radikal in Frage stellen und uns an die Grenzen des Bekannten und Vertrauten bringen, sind alles andere als selbstverständlich. Die Berichte von Überlebenden erfordern von uns kritische und kreative Formen der Antwort, deren theoretische und praktische Dimensionen im Band "Niemand zeugt für den Zeugen" analysiert werden. Wenn die Möglichkeit einer Mitverantwortung von Nichtbeteiligten für die Zeugenschaft der Vergangenheit noch nicht einmal erwogen wird, werden die Augenzeugen schließlich in eine intellektuelle Sperrzone der »Authentizität« verbannt, die den radikalen Weltverlust und die traumatische Isolierung der Betroffenen in der ursprünglichen Erfahrung nun auf der Rezeptionsebene zu wiederholen scheint. Außerdem entfällt somit der Gedanke, dass auch unbeteiligte, entfernte und später geborene Zuschauer nicht nur fähig, sondern verpflichtet sind, eine nachträgliche Form der verantwortungsvollen Zeugenschaft für die Aussagen der traumatisierten und somit per Definition psychologisch überforderten Zeuginnen und Zeugen zu übernehmen.

Der Begriff der sekundären Zeugenschaft betrifft nicht die »deutsche Schuldphantasie« einer Kollektivschuld, welche die Debatten der ersten Nachkriegsjahrzehnte, durch Karl Jaspers ursprünglich 1946 veröffentlichten Text Die Schuldfrage angeregt, bestimmte.21 Wie Lawrence Douglas im III. Abschnitt "Zeugenschaft und Medien" des Bands "Niemand zeugt für den Zeugen" belegt, vermieden die Alliierten den Begriff der Kollektivschuld schon in den Nürnberger Prozessen aus juristischen und politisch-strategischen Gründen; die Überlebenden selbst hätten einen solchen Vorwurf nur erheben können, wenn in Deutschland ein entsprechender »kollektiver« Wille existiert hätte, ihnen zuzuhören und auf diesen Vorwurf einzugehen. Die Deutschen waren nach dem Krieg für eine Weile damit beschäftigt, sich als Volk der vom »Führer« Verführten zu begreifen. Doch durch die Arbeiten von Walter Laqueur, Raul Hilberg, lan Kershaw und anderen Historikern ist deutlich geworden, dass die Frage nach der Kollektivschuld vielleicht von Beginn an falsch gewichtet war.22 Auch wenn jüngere Beiträge zur Erinnerungskultur mit dem erhobenen Zeigefinger der Nachgeborenen selbstgerecht darauf beharren, bestand und besteht die überwältigende Mehrheit der deutschen Nachkriegsbevölkerung nicht aus den »Angehörigen und Nachkommen der Täter«, willigen Vollstreckern oder einem politisch immer noch existierenden »Täterkollektiv«,23 sondern aus Millionen von Zeuginnen und Zeugen.
Sicherlich läßt sich seit dem Medienwirbel um Daniel Goldhagens Bestseller und der vom Hamburger Institut für Sozialforschung vielerorts gezeigten Ausstellung über die »Verbrechen der Wehrmacht« die bestürzend hohe Anzahl von Tätern (und Zeugen) der fanatisch betriebenen Ausrottung der jüdischen und nichtjüdischen Bevölkerung in Osteuropa unter den deutschen Soldaten nicht mehr abstreiten. Doch die deutsche Zivilbevölkerung bildete in ihrer Mehrheit eine Gemeinschaft von Zeuginnen und Zeugen, die der systematischen Ausgrenzung, Entwürdigung, Beraubung, Diskriminierung, Misshandlung, Verfolgung und Vertreibung der Juden und »Zigeuner«
24 aus ihrer Heimat beiwohnten, ein Prozess, der der systematischen Vernichtung »im Osten« neun lange Jahre vorausging.

Mit dem Begriff der sekundären Zeugenschaft wird das Problem der unzureichenden Strafverfolgung der Täter und die letztlich unergiebige Frage nach der Kollektivschuld, die den Diskurs bis in den Historikerstreit und die Denkmaldebatte hinein polarisierte und schließlich oftmals zum Erliegen brachte, durch die Fragestellung über die Verantwortung der Zuschauer, der Dabeistehenden, der Zeugen ergänzt. Die vorliegenden Beiträge widmen sich dieser Problematik der Zeugenschaft, da in der gedanklichen Annäherung an den Holocaust offen blieb, wo die Grenzen zwischen Passivität, Billigung, Zustimmung, Beifallsbezeugung, Mitverantwortung und Beihilfe zu ziehen sind. Alle Aufsätze in diesem Band gehen von der Frage aus, wie die Erfahrung, durch die man zum Zeugen von etwas wird - ohne notwendigerweise zu verstehen, was erlebt oder gesehen wird -, in den Akt umgesetzt werden kann, durch den von dieser Erfahrung Zeugnis abgelegt wird. Es geht um das Verhältnis zwischen dem nicht immer voll bewussten und oft passiven Zum-Zeuge-Werden und dem Ablegen eines Zeugnisses. Es geht darum, wie Einzelpersonen und ganze Teile der Gesellschaft zufällig oder gewollt ein Geschehen mitansehen, aber diesen Teil der Wirklichkeit - auf noch unzureichend verstandene Weise - dann ausblenden, d.h. nicht in ihr Bild der Realität einlassen können. Es geht darum, wann und wie der Akt der Wahrnehmung zum Akt des Bezeugens und schließlich zum Bewußtsein der Verantwortung für die mitangesehene Realität werden kann.

Daß diese Fragestellung heute von zunehmender Bedeutung ist und über die spezifische Situation des Holocaust hinausgeht, zeigen zwei eigenständige Positionen, die unabhängig vom medialen oder akademischen Diskurs über den Holocaust entwickelt wurden und zentrale Punkte der gegenwärtigen Debatte über Verantwortung umreißen. So argumentiert Hans Magnus Enzensberger 1993 in seinen provokanten Aussichten auf den Bürgerkrieg, worin er sich auch auf die deutsche Passivität während der Nazizeit bezieht, dass Verantwortung heute zu einer permanenten Überforderung geworden ist. »Jede Ethik der Verantwortung«, schreibt Enzensberger in seinen Betrachtungen zu gewalttätigen Konflikten, die sich sowohl fern als auch in unserer Nähe ereignen, hat es mit der »quälenden Ausweglosigkeit zu tun, die sich am Extremfall zeigt«.25 Diese Ausweglosigkeit resultiert aus folgender Lage: Da wir mittlerweile mit minimaler Verzögerung in Bild und Text Berichte von Grausamkeiten empfangen, die vor einem halben Jahrhundert erst Tage, Wochen oder Monate nach ihrem Geschehen an die Weltöffentlichkeit drangen, befinden wir uns pausenlos in einem Zustand der leichten moralischen Benommenheit oder, mit Enzensbergers Worten, in einer Lage der »psychischen und kognitiven Überforderung«.26 Wie soll man auf das uns täglich ins Haus gelieferte Leiden in der Ferne angemessen reagieren?27 Wenn wir durch die Medien ein Geschehen live mitverfolgen können, das unser Gerechtigkeitsgefühl zutiefst verletzt, steht es uns dann noch frei, nur die am Ort Anwesenden und direkt Betroffenen für das Bezeugen dieses Vorfalls verantwortlich zu machen?

In seinen Überlegungen zu dieser ständigen moralischen Überforderung kritisiert Enzensberger die universalistische Ethik, da wir uns, wenn wir uns nach ihr richten, angesichts der medialen Überflutung mit schockierenden und unüberschaubaren Konflikten zwangsläufig einigeln und schließlich unsere moralische Entrüstung und unsere Reaktions- und Handlungsfähigkeit ganz abschalten. Enzensberger folgert daraus, dass wir die Nächstenliebe höher setzen sollten als die Fremdenliebe und uns »insgeheim« eingestehen müssen, dass wir uns zuerst, auch auf Kosten anderer, um unsere unmittelbare Umgebung und unsere eigene Zukunft - sprich »unsere Kinder« - kümmern sollten.28

Im Gegensatz zu dieser scheinbar »pragmatisch« orientierten Antwort auf die Krise der Zeugenschaft, in die uns die täglich übertragene Gewalt bringt, insistiert Derrida in Politiques de l'amitie, worin er die belasteten Begriffe der Freundschaft und Brüderlichkeit dekonstruiert, darauf, dass die Verantwortung nicht auf diese Weise dem berechnenden Denken preiszugeben sei.29
Im Kontext einer Lektüre der Texte zur Ethik von Emmanuel Levinas entwickelt Derrida Verantwortung als etwas, das per Definition unsere Fähigkeiten übersteigt und sich so »der Vorherrschaft der Interessen des Ichs entzieht«.
30
Wenn man Verantwortung im Rahmen des Machbaren und Möglichen und der Vor- und Nachteile einer Handlung kalkuliert, handelt man nicht verantwortlich, sondern berechnend. Derrida definiert den Begriff der Verantwortung als den Aufruf zur Anerkennung des Anderen, der uns vor jeglicher gesetzlichen oder empirischen Verpflichtung und vor der Möglichkeit erreicht, diesen Aufruf abzulehnen oder anzuerkennen. Derrida schlägt vor, den Begriff der absolut unberechenbaren Verantwortung nicht als Verwässerung und Nivellierung der Ethik, sondern als Vermittlung zwischen den partikularen Anforderungen der politisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit und dem universalistischen Anspruch der Verantwortung zu denken.

Auch wenn Enzensberger und Derrida daraus andere Schlüsse ziehen, bestehen sie auf der grundsätzlichen Überforderung, die aus der Verantwortung entsteht, für die Erfahrung und die Aussagen von anderen zu zeugen. Zwischen den Partikularinteressen des einzelnen und den unerfüllbaren Anforderungen einer universellen Verantwortung lässt sich nun genau das Problem der Zeugenschaft als eine Handlung situieren, die sich nur im und als Austausch zwischen Personen oder Gruppen ereignen kann. Es geht im vorliegenden Band um die Gegenseitigkeit dieser Beziehung - um ebendiese vermittelnde Funktion zwischen dem universellen Anspruch der Verantwortung für andere und der singulären Bedürfnisse des einzelnen, die durch die Zeugin oder den Zeugen eingenommen wird. Es geht um die von Enzensberger und Derrida besprochene ethische Verpflichtung, für geographisch, kulturell oder zeitlich entfernte Geschehen - ob 50 Jahre zurück oder fünf Meter entfernt - Zeugnis abzulegen. Die Verfasserinnen und Verfasser des vorliegenden Bandes schreiben in dem Bewusstsein, daß die nach Auschwitz aufgeworfenen beunruhigenden Fragen nach der Authentizität und dem Primat der Zeugenschaft für niemanden vermeidbar sind. Da sie die Ehrfurcht vor einer sakrosankten authentischen Erfahrung durch eine Neudefinition des Begriffs der Verantwortung abbauen, wird deutlich, dass sich niemand für geschichtlich und geographisch ferne Geschehnisse unzuständig erklären kann. Ganz gleich, auf welche Identität oder Gruppenzugehörigkeit wir uns berufen, hat die Vernetzung der Medien uns alle zu Nachfolgern eben jener »Zuschauer« in Deutschland, in Europa und in der ganzen Welt gemacht, die vor einem halben Jahrhundert die von Deutschen ausgeführte Vernichtung der europäischen Juden geschehen ließen.

Unser eigenes Alltagsverhalten muss dieser Einsicht folgen und das Gefühl der moralischen Benommenheit, das eher zu- als abnimmt, in politisches Bewusstsein und Handlungen auflösen, durch welche die Rechte von Minderheiten untrennbar mit den Interessen der Mehrheit - in politischen, gesellschaftlichen und privaten Einrichtungen - verknüpft werden.

Die Auseinandersetzung mit den Leiden der Vergangenheit und den Leiden anderer kann in verantwortlichem Handeln münden, statt in der unmöglichen Einfühlung und Identifikation mit den Toten, in Verdrängung, in politisch lähmendem Mitleid, in melancholischer Fixierung oder im stummen Entsetzen über die schockierende Fremdheit der traumatischen Erfahrung zu enden.

Für den Zeugen zu zeugen, um auf Celan zurückzukommen, ist letztlich eine Aufgabe für uns selbst und bedeutet, um dies mit einer Formulierung von Cathy Caruth in diesem Band auszudrücken, »nicht das einfache Verstehen der [traumatischen] Vergangenheit von anderen, sondern vielmehr unsere Fähigkeit, innerhalb der Traumata der zeitgenössischen Geschichte die Bewegungen zu vernehmen, die uns alle von uns selbst weggeführt haben«. Die Auseinandersetzung mit den Traumata der Geschichte führt zu einer zentralen Frage dieses Bandes, wie sich eine ethische Position in der Gegenwart einnehmen lässt.

Die Tatsache, dass in den mittlerweile mit symptomatischer Regelmäßigkeit in den deutschen Medien inszenierten öffentlichen Debatten über das Nachwirken des Holocaust einige der hier aufgeworfenen Fragen bisher nicht ausreichend berücksichtigt wurden, kann als kulturspezifisches Phänomen erklärt werden. Das Denken über die »Erfahrung« der Schoah wird oft »Betroffenen« zugeteilt, als ginge dieses Ereignis nicht alle Deutschen so direkt an, daß auch wohlmeinende Distanz - die durch ein reges Interesse an jüdischem Leben und philosemitische Bekundungen keineswegs verringert wird - leicht zu Verleugnung und Selbstschutz auf Kosten anderer wird. An vielen Zeugenaussagen ist zu erkennen, dass diese selbst ihre Autorität in Zweifel ziehen - deshalb fragen die hier versammelten Autorinnen und Autoren nach der Bedeutung von Zeugenaussagen, die über ein Verständnis der Geschichte als Wissensbildung hinausgeht. Die vorliegenden Beiträge präsentieren theoretisch fundierte und pädagogisch umsetzbare Überlegungen dazu, wie die jetzt aufwachsenden Generationen die Geschichtserfahrungen ihrer Vorfahren bezeugen und Verantwortung für Geschehen in der Gegenwart übernehmen können.
... Fortsetzung Teil IV...

  1. Zeugenaussage von Arne K., im Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies, Yale Universität, HVT-1123.
  2. Zum Status der Augenzeugen siehe auch Jonathan Webber, »Erinnern, Vergessen und Rekonstruktion der Vergangenheit«, in: Fritz-Bauer-Institut (Hg.), Auschwitz. Geschichte, Rezeption und Wirkung, Frankfurt/M. 1996, S. 28 f.
  3. Vgl. Scherpe, »Von Bildnissen zu Erlebnissen«, in: Scherpe/Böhme (Hg.), Literatur- und Kulturwissenschaften, a. a. O., S. 24 j.
  4. Raul Hilberg berichtet über einen solchen Vorfall in Leipzig in Täter, Opfer, Zuschauer: Die Vernichtung der Juden 1933-1945, Frankfurt/M. 1992, S.216.
  5. Karl Jaspers, Die Schuldfrage, Heidelberg 1946. Vgl. hierzu: Wolfgang Benz, »Die Verfolgung und Vernichtung der Juden im Bewusstsein der Deutschen«, in: Peter Freimark / Alice Jankowski / Ina S. Lorenz (Hg.), Juden in Deutschland. Emanzipation, Integration, Verfolgung und Vernichtung, Hamburg 1991, S. 438; Jürgen Habermas, Eine Art Schadensabwicklung, Frankfurt/M. 1987, S. 137-148; und Anson Rabinbach, "Der Deutsche als Paria: Deutsche und Juden in Karl Jaspers' Die Schuldfrage", in: Bernhard Moltmann u. a. (Hg.), Erinnerung: Zur Gegenwart des Holocaust in Deutschland-West und Deutschland-Ost, Frankfurt/M. 1993, S. 169-189.
  6. Vgl. Walter Laqueur, Was niemand wissen wollte, Berlin 1982; Hilberg, Täter, Opfer, Zuschauer, a.a.O.; lan Kershaw, »German Public Opinion During the Final Solution: Information, Comprehension, Reactions«, in: Comprehending the Holocaust: History and Literary Research, a. a. O., S. 145-159.
  7. Vgl. Micha Brumliks sonst überzeugende Überlegungen zur angemessenen Auseinandersetzung mit der Schoah im heutigen Deutschland: »Im Niemandsland des Verstehens«, in: Wieland Eschenhagen (Hg.), Die neue deutsche Ideologie: Einsprüche gegen die Entsorgung der Vergangenheit, Darmstadt 1988, S. 97.
  8. Ich verwende hier den Begriff »Zigeuner«, statt mir die für Außenstehende wahrscheinlich nicht zu erlangende Vertrautheit mit den ehemals Verfolgten anzumaßen, die zur Unterscheidung verschiedener Gruppen erforderlich wäre. Ich berufe mich auf die Zeugenaussage von Lilly L., einer überlebenden deutschen Zigeunerin: »Wir sind als "Zigeuner" verfolgt worden [...], und wir werden uns als "Zigeuner" erinnern« (Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies, Yale-Universität, HVT-2767). In diesem Zusammenhang sei auch auf Gershom Scholems scharfe Kritik der nachträglichen Umdefinierung der Opfer verwiesen. Scholem empfahl, daß wir »gar nicht nachdrücklich genug von den Juden sprechen [können], wenn wir von ihrem Schicksal unter den Deutschen reden«. Vgl. Scholem: Deutsche und Juden, Frankfurt/M. 1967, S. 23.
  9. Hans Magnus Enzensberger, Aussichten auf den Bürgerkrieg, Frankfurt/ M. 1993,5.89.
  10. 26 Ebd., S. 79.
  11. Vgl. hierzu Luc Boltanski, La Souffrance ä distance, Paris 1993.
  12. Enzensberger, Aussichten, a. a. O., S. 84.
  13. Vgl. Jacques Derrida, Politiques de l'amitie, Paris 1994, S. 25 5 f.
  14. Ich entlehne diese Formulierung Elisabeth Webers Einleitung »Die jüngsten Kinder der Republik«, in: Weber (Hg.), Jüdisches Denken in Frankreich, Frankfurt/M. 1994, S.27. Vgl. auch E. Weber, Trauma und Verfolgung, Wien 1990, und Helmut Peukert, »Unbedingte Verantwortung für den Anderen«, in: Helmut Schreier / Matthias Heyl (Hg.), »Daß Auschwitz nicht noch einmal sei. Zur Erziehung nach Auschwitz, Hamburg 1995. S. 234-246.

hagalil.com 18-04-2004

 

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