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Ferdinand Bruckner

"Die Rassen":
Warnungen in den Wind geschlagen

Ferdinand Bruckners Bühnenstück "Die Rassen" aus dem Jahr 1933 in New York neu entdeckt

Von MONIKA ZIEGLER, AUFBAU

Es ist unser einziger, armseliger Widerstand, dass nichts vertuscht wird, dass alle Zeugnisse erhalten bleiben“, sagt die junge Jüdin Helene Marx in Ferdinand Bruckners Drama "Die Rassen" zu ihrem Freund Peter Karlanner, einem deutschen Medizinstudenten, als beide den gewalttätigen Boykott jüdischer Geschäfte im Berlin des Jahres 1933 mit ansehen müssen. Er rät ihr zur Flucht, weil seine Nazi-Parteigenossen ihr auf der Spur sind; sie aber will bleiben, um Zeugnis abzulegen von den ersten furchterregenden Zeichen der Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten nach deren Machtergreifung 1933.

Zeitdokumente belegen hinreichend, dass der in Wien geborene jüdische Autor seiner Protagonistin die Worte in den Mund legte, weil er selbst den Drang hatte, von dem bedrohlichen Zeitgeschehen Zeugnis abzulegen – und vor der bevorstehenden Katastrophe zu warnen. Ferdinand Bruckner war in der Tat der einzige schreibende Intellektuelle, der 1933 das Ausmaß von Hitlers Verfolgungsmaßnahmen gegen die europäischen Juden wahrnahm und hinausschreien wollte. Er schrieb sein Stück Die Rassen bereits drei Monate nach dem Wahlsieg der „Nationalsozialistischen Arbeiterpartei“, und er schrieb es in Paris, wohin er nach dem Reichstagsbrand ins Exil flüchten musste.

Peter Karlanner lebt zusammen mit Helene Marx in einer kleinen Berliner Wohnung. Helene hatte ihn aus einem von Trinkgelagen und Faulheit geprägten Studentendasein gerettet. Sie selbst, Tochter eines jüdischen Industriellen, der deutscher als die Deutschen sein wollte, hat sich von ihrem Vater und der gesamten Familie distanziert und verdient als Sekretärin den Lebensunterhalt für sich und ihren Freund Peter. Doch die Wahlen vom März 1933 schneiden eine tragische Zäsur in das Leben der Liebenden und der sie umgebenden Studentengruppe.

Peter ist grundsätzlich nicht politisch engagiert, lässt sich aber von seinem Jugendfreund und Kommilitonen Tessow in die beginnende Massenhypnose von einer arischen, rassenfreien deutschen Nation hineinsaugen. Unter der Tyrannei eines anderen Medizinstudenten, Rosloh, der bisher in allen Examina durchfiel und nun ein brutaler, aber charismatischer Nazi-Gruppenführer geworden ist, nimmt Peter – halb widerwillig, halb euphorisch – mit der strammen braunen Uniform eine neue Identität an und trennt sich von Helene.

Biologie über Humanismus, rassische Ideologie über Humanität – die totale Umkehrung von in Deutschland bis dahin hoch gehaltenen Werten exemplifiziert Ferdinand Bruckner an den Figuren Peter Karlanner, Tessow und Rosloh. Und was er im Stil der „Neuen Sachlichkeit“ mit scharf beobachtendem, nüchternem Blick ebenfalls demaskiert, ist die Passivität der Mitläufer aus den Reihen der jungen deutschen studentischen Elite. In einer erschreckenden Szene, in der sich dem Zuschauer die Nackenhaare sträuben, wird der jüdische Medizinstudent Nathan Siegelmann von Nazi-Kommilitonen in seinem Zimmer überfallen, in das Kostüm eines orthodoxen Juden gezwungen und mit dem vorgehängten Schild „Ich bin Jude“ durch die Straßen Berlins getrieben.

Bruckner beabsichtigte, mit den Rassen einen Warnruf auf die Bühne zu bringen, der insbesondere die Studentengeneration wachrütteln sollte. So schrieb ein Theaterkritiker nach der Premiere des Stückes am 30. November 1933 in Zürich, „Worte, die endlich den Teufel beim Namen nennen“, und „die Zuschauer hier sind verschreckt…, der Autor bekam großen Applaus, weil er uns so stark warnte“. Die Unausweichlichkeit, die spätere Stücke, welche sich mit dem Holocaust auseinandersetzen, so tragisch macht, war hier noch nicht bestimmend. Umso tragischer ist die Tatsache, dass Bruckners Warnruf schon 1933 auf taube Ohren stieß, nicht genügend ernst genommen oder gar in den Wind geschlagen wurde. Und nicht nur das. Seine Schriften wurden aus Deutschland verbannt, er konnte nur unter dem Pseudonym Theodor Tagger weiterarbeiten, und Die Rassen wurde nach der Zürcher Premiere kaum mehr aufgeführt, auch nicht nach Kriegsende.
Barry Edelsteins gegenwärtige Inszenierung (englischer Titel: Race) im Off-Off-Broadwaytheater Classical Stage Company kommt deshalb einer Neuentdeckung gleich. Ihm und seinen jungen amerikanischen Schauspielern ist der außerordentliche Versuch gelungen, Bruckners Rassen für ein heutiges Publikum anregend, aufwühlend und aktuell zu gestalten. Anregend, weil es uns im Rückblick mit der Frage konfrontiert „Wie konnte der Nationalsozialismus mit seiner vergiftenden Ideologie und den tödlichen Vorurteilen geschehen?“ Und aktuell, weil einem faktisch das ganze Stück hindurch ins Bewusstsein gerückt wird, dass Fanatismus, rassische Vorurteile, „ethnic cleansing“ und Passivität gegenüber der Verfolgung von Menschen, die „anders“ sind, auch heute politische Realitäten darstellen, denen sich der Einzelne nicht entziehen kann und darf.

Barry Edelstein, der künstlerische Leiter der Classical Stage Company, hat durch seine Recherchen auch einen direkten Bezug zwischen Ferdinand Bruckner und New York gefunden. Er erfuhr von dem heute in Kalifornien lebenden Sohn des Schriftstellers, dass Bruckner zwölf Jahre lang während seines amerikanischen Exils an der 16th Street und 3rd Avenue im East Village wohnte — drei Straßenzüge entfernt von dem Theater, das nun Die Rassen zeigt. Edelstein reflektiert: „Wenn ich heute auf dem Weg zum Theater an dieser Ecke vorbeikomme, versuche ich, nachzu-empfinden, was Bruckner wohl vor 60 Jahren gefühlt haben mag, Tausende von Meilen vom Berliner Alexanderplatz entfernt, der in den Händen jener Barbaren war, vor denen er in seinem Stück warnte, und die sich anschickten, all das zu zerstören, was ihm lieb war.“

Ferdinand Bruckners Warnrufe wurden seinerzeit, als sie noch wirksam hätten sein können, nicht gehört. Freilich ist sein Stück an die historischen Zusammenhänge von 1933 in Deutschland gebunden, ist durch die Umsetzung direkter Beobachtungen von Geschehnissen vor 78 Jahren ein „Zeitstück“. Aber es ist auch der Auf-schrei einer tief humanistischen Seele und ein Aufruf zur Wachsamkeit gegenüber der zerstörerischen Wirkung von Vorurteilen und Intoleranz. Und letztendlich, mit Helene Marxs Worten vom „Widerstand durch Zeugnis ablegen“, scheint Bruckner uns zu sagen „Hört auf die noch lebenden Zeitzeugen, ihre Stimmen und Aussagen sind für zukünftige Generationen unerlässlich, sie sind es, die in Zeiten der Gefährdung eine positive Sinnesänderung herbeiführen könnten.”

Ferdinand Bruckners "Die Rassen" ist noch bis 11. März im Theater der Classic Stage Company, 136 East 13th Street, zu sehen. Informationen zu Spielzeiten unter (212) 677-4210 / AUFBAU No.5, 2001

hagalil.com 18-04-2001

 

Jüdische Weisheit
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