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..."Niemand zeugt
für den Zeugen"...
Paul Celan
Erinnerungskultur und historische
Verantwortung nach der Schoah
Teil I. aus Ulrich Baers Einleitung zu "Niemand
zeugt für den Zeugen"
»Niemand / zeugt für den / Zeugen« lauten die Schlußzeilen von Paul Celans
Gedicht »Aschenglorie«. Ein Zeuge, in Celans Gedicht und allgemein, steht ein
für etwas anderes: für das Eingedenken des Schicksals anderer und für Geschehen,
die sonst dem Vergessen oder Verdrängen preisgegeben sind.
Zeugnis ablegen bedeutet, die eigene Person für die Wahrheit der Geschichte
einzusetzen und das eigene Wort zum Bezugspunkt einer umstrittenen oder
unbekannten Realität zu bestimmen, die man selbst erfahren oder beobachtet hat.
Celan erinnert uns zunächst an die radikale Isolierung und absolute Singularität
des Zeugen. Die Aussage eines Zeugen kann weder durch die Aussage einer anderen
Person noch durch eine andere Aussage ersetzt werden. Doch steht neben
Isolierung und Singularität noch weiteres: Eine Aussage wird erst dadurch zu
einem Zeugnis, dass sich der Zeuge in seiner Erzählung an einen anderen richtet.
Die persönlichen Belange des Zeugen werden erst in der Ansprache an andere
überschritten, und die Aussage des Zeugen steht erst dann, durch diese Ansprache
und diesen Anruf um Gehör, für eine universelle Wahrheit ein.
Zeugen verlangen von ihrem Publikum eine Antwort, und diese Forderung verhallt
ungehört, wenn niemand zuhören will oder kann. Im vorliegenden Band ("Niemand
zeugt für den Zeugen") geht es um diese Aufforderung an die Zuhörer
eines Zeugen. Sie impliziert, zumindest teilweise Verantwortung für die von
anderen bezeugte Wirklichkeit zu übernehmen. Es geht um die Verpflichtung und um
die Möglichkeit, »für den Zeugen zu zeugen«, indem wir auf die in jedem Zeugnis
erhaltene Aufforderung zum Zuhören und zur Antwort dadurch reagieren, daß wir
für die Wahrheit der bezeugten Erfahrung mitverantwortlich werden.
..."weiter im Osten"
Celan bezeichnet die bezeugte Wirklichkeit in »Aschenglorie« als »Das vor
euch, vom Osten her, Hin- / gewürfelte, furchtbar«. Er verknüpft in diesen
Zeilen die alttestamentarische Prophezeiung einer drohenden Vernichtung des
Volkes Israel durch Feinde »aus dem Osten« mit Stephane Mallarmes Sinnbild des
Würfelwurfs, das für den französischen Dichter schon 1892 für eine willkürlich
erfahrene Realität einsteht. 1
Das »Furchtbare«, von dem Celan in seiner Dichtung Zeugnis abzulegen versucht,
wird durch dieses eng verfugte Bild aus Jesajah und Mallarme als vormodern und
jenseits des menschlichen Verstehens und zugleich als unvorhersehbar und
außerhalb jeglicher »großen Erzählung« und somit als spät- oder postmodern
gekennzeichnet.2 Doch für den
Czernowitzer Juden Celan kam 1941 »das Furchtbare« nicht »vom Osten her«,
sondern aus dem Westen. Die systematische Vernichtung von Celans Familie,
Freunden und Bekannten und seiner Welt, der Massenmord an den europäischen
Juden, wurde dirigiert von »Meistern aus Deutschland«. Trotzdem spricht Celan
von etwas Furchtbarem »vom Osten her«, da der Zeuge in seinem Gedicht mehr
bezeugt als diese historisch und geographisch spezifische Katastrophe. Ihm fällt
die Aufgabe zu, gerade auch die Spuren und Nachwirkungen der Vernichtung zu
sondieren, die den historisch spezifischen Rahmen sprengen, da sie scheinbar
erst heute aus dem »mythischen Gebiet "weiter im Osten", wo die NS-Verwaltung
die endgültige Deportation der Juden situierte«, zu uns stoßen.3
Celans Dichtung ist diesen Nachbeben gewidmet, die nicht immer als solche
erkennbar sind und dennoch unsere Existenz als eine »nach Auschwitz« definieren.
Da bald niemand mehr am Leben sein wird, der dieses »Furchtbare« erfahren oder
mit eigenen Augen sehen musste, und um sowohl den Opfern der Gewalt als auch uns
selbst gerecht zu werden, wächst für uns die Verpflichtung, »für die Zeugen«,
die die universelle Bedeutung einer Katastrophe singulär verkörpern, durch
Wahrnehmung und Handlungen Verantwortung zu übernehmen.4
Im vorliegenden Band wird die Zeugenschaft als bislang übersehenes zentrales
Moment in den Auseinandersetzungen um den Umgang mit dem Holocaust und den
politischen, intellektuellen und persönlichen Entscheidungen über die Zukunft
der Vergangenheit - über Erinnerungskultur und Entsorgung der Geschichte -
herausgearbeitet. Ohne die Augenzeuginnen und -zeugen, von denen nach den Plänen
der Täter niemand hätte überleben sollen, wäre unser Bild vom Holocaust
böswillig verzerrt oder fehlte völlig.5
Die wenigsten der Täter hätten überhaupt geredet, die vorhandenen Dokumente
wären nicht entschlüsselt oder verifiziert worden, die vorhandenen
fotografischen Aufnahmen wären als militärisch gerechtfertigte
Partisanenerschießungen u.ä. abgetan worden, und der weltweite Unwille, gegen
die Verbrechen einzuschreiten, hätte sich als allgemeines Vergessen nach dem
Krieg fortgesetzt. Ohne den Zorn der Überlebenden hätte es nicht schon 1943
Augenzeugenberichte über die Lager gegeben, die im Eigenverlag erscheinen
mussten. Ohne Zeugen hätten die Nachkriegsgerichte wegen unzureichender oder
nicht eindeutiger Beweislage wahrscheinlich noch mehr Freisprüche wie Orden
verteilt und ehemalige Handlanger des Regimes rehabilitiert, wären die populären
Blendwerke von Speer und anderen nicht widerlegt worden, und die Welt hätte die
Orts- und Personennamen vergessen, die zu Synonymen der Vernichtung tradierter
Vorstellungen von Kultur, Aufklärung und Fortschritt wurden.
»Es ist unser einziger armseliger Widerstand - dass nichts vertuscht wird, dass
alle Zeugnisse erhalten bleiben«, erklärt die Figur der Helene Marx schon 1933
ihrem ehemaligen Freund Karlanner, der zu den Nationalsozialisten übertritt und
sie, als jüdische Deutsche, deshalb verlässt, in Ferdinand Bruckners
Theaterstück "Die Rassen".
Bruckner schrieb das erschütternde und dunkel
prophetische Stück über die drohende Katastrophe nur wenige Wochen nach Hitlers
Machtergreifung und seiner eigenen Flucht in die Schweiz; trotz seiner
zeitgeschichtlichen und literarischen Bedeutung ist "Die Rassen" heute
weitgehend vergessen.
Wir verdanken diesem Willen, Zeugnis abzulegen, von dem Bruckners Helene Marx
spricht und der Bruckners eigene Schreibpraxis bestimmt, Victor Klemperers
Tagebücher "Ich
will Zeugnis ablegen bis zum letzten", wo die von der gesamten
deutschen Bevölkerung mitangesehene tägliche Diskriminierung und Entwürdigung
der Juden in Deutschland zwischen 1933 und 1945 minutiös beschrieben ist. Wir
verdanken diesem Willen, daß Menschen wie der Historiker Emmanuel Ringelblum in
den Jahren 1942 und 1943 die sogenannten »Oneg
Shabbat«-Milchkannen mit unersetzlichen schriftlichen Zeugnissen des
Untergangs und der Vernichtung der Warschauer Juden vergruben und daß die
letzten Worte des bedeutenden russisch-jüdischen Historikers Simon Dubnow, den
die Nazis 1933 aus Berlin vertrieben und am 8. Dezember 1941 im Getto von Riga
auf offener Straße erschossen, überliefert worden sind: Shrayb un farshrayb,
»Schreibt und zeichnet alles auf!«
Doch konnte auch dieser Wille der Zeuginnen und Zeugen nicht verhindern, dass
die Möglichkeit, Zeugnis abzulegen, durch die extrem traumatischen Erfahrungen
der Schoah selbst zumindest teilweise zunichte gemacht wurde. Die Zeuginnen und
Zeugen legen Zeugnis ab von eigenen Erfahrungen, die ihnen paradoxerweise oft
selbst nicht gänzlich zur Verfügung stehen, deren Ursprung nicht immer klar ist
und die sie möglicherweise nicht verstehen. Dem Holocaust ist eigen, dass wir
dank der Zeuginnen und Zeugen von seinem Geschehen wissen und dennoch nicht
verstehen.
In vielen Fällen gab es außerdem überhaupt keine Überlebenden, die Zeugnis
hätten ablegen können, sondern nur vereinzelte, verzerrende Berichte der Täter.
Zwei Juden überlebten Belzec, wenig mehr Chelmno (Kulmhof), 32 Sobibór, und von
800.000 überlebten durch einen mutigen Aufstand 52 Häftlinge Treblinka, von
denen nur wenige nach dem Krieg Zeugnis ablegten. Manche Historiker stützen sich
dennoch eher auf apologetische und euphemistische Dokumente der Täter und nur
bedingt auf existierende Augenzeugenberichte und mündliche Überlieferungen, da
die Zeugen selbst oft unerträgliche oder entwürdigende Details ihrer eigenen
Erfahrungen auslassen, angeblich nichts zur »historischen Faktenlage« beitragen
oder - was in Berichten über die systematischen Zerstörungsversuche von
kollektiver und individueller Identität ein fragliches Kriterium ist - da sie zu
»subjektiv« sind. 6 Oder nicht
direkt betroffene Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie der Franzose Andre
Schwarz-Bart, die Amerikanerin Cynthia Ozick, der Israeli David Grossman, der
Deutsche Günter Grass oder die Österreicherin Elfriede Jelinek müssen
Verantwortung für die Wahrheit einer Geschichte übernehmen, deren Überlieferung
denjenigen, die diese Geschichte selbst durchmachen mussten, nun nicht noch
zusätzlich aufgebürdet werden kann.7
Damit die Wahrheit der extrem traumatischen Erfahrungen ans Licht gelangt,
benötigen Augenzeugen eine Art der Zuhörerschaft, die sich als sekundäre
Zeugenschaft, als Zeugenschaft durch Vorstellungskraft oder als »Zeugenschaft
der Erinnerung« verstehen läßt.8
Auch dies ist Celans »für den Zeugen zeugen«:
die Aufnahme der Zeugenaussagen im Bewußtsein, dass auch unsere Zeugenschaft
heute in Frage gestellt ist. Wenn die ursprünglichen Zeugen sprechen wollen,
muss
ihre Last geteilt werden. Da die Zeuginnen und Zeugen als Gedächtnisträger
jedoch singulär und nicht zu ersetzen sind, müssen die Grenzen und Risiken
dieser Form der sekundären Zeugenschaft sorgfältig untersucht werden.
Wie steht es also mit dieser Verpflichtung und der
Möglichkeit, zusammen mit den Zeuginnen und
Zeugen von Geschehen, welche die Rahmen des Verstehens und der Erfahrung
überschreiten, Verantwortung für eine Vergangenheit zu übernehmen, die man
selbst nicht direkt erlebt hat?
... Fortsetzung Teil II...

- Vgl. Paul Celan, »Aschenglorie«, in: Gesammelte Werke, hg. v. Beda
Allemann, Stefan Reichert und Rudolf Bücher, Frankfurt/M. 1983, Bd. 2, S. 72,
und Stephane Mallarme, »Un coup de des«, in: Oeuvres Completes, hg. v.
Henri Mondor und G. Jean-Aubry, Paris 1945, S. 457-477.
- Zum Holocaust als Ereignis »außerhalb der großen Erzählungen« vgl.
Jean-Francois Lyotard, Der Widerstreit, München 1987. In Anlehnung an
Lyotard sind »Moderne« und »Postmoderne« nicht als chronologisch
aufeinanderfolgende Epochen zu verstehen.
- Nadine Fresco, »Diaspora des cendres«, in: Nouvelle Revue de
Psychoanalyse 24(1981), S. 215.
- Außer den hier publizierten Aufsätzen zur Zeugenschaft vgl. auch Jacques
Derrida, Demeure, Paris 1998; Sarah Kofman, Erstickte Worte,
Wien 1988; Alexander Garcia Düttmann, Laparole donnee, Paris 1990.
- Zu den ideologischen, philosophischen und politischen Dimensionen der
Termini »Holocaust«, »Schoah« und »Auschwitz« vgl. auch Jean-Francois Lyotard,
Der Widerstreit, München 1987, und Omer Bartov, Murder in Our Midst.
The Holocaust, Industrial Killing, and Representation, New York 1996, bes.
S. 56 ff.
- Zur Relevanz und Verläßlichkeit von Zeugenaussagen vgl. Raul Hilberg,
»Developments in the Historiography of the Holocaust«, in: Asher Cohen/ Joav
Gelber/Charlotte Wardi (Hg.), Comprebending the Holocaust: Historical and
Literary Research, Frankfurt / New York 1988, S. 28 ff. Um dem Gebot der
»geschichtlichen Wahrheit« nachzukommen, beschränken sich die Herausgeber einer
der ersten in Deutschland publizierten Bände mit wichtigen Dokumenten zur
Vernichtung der Juden auf die Zeugenaussagen von überlebenden Wissenschaftlern,
da diese »durch ihre nüchterne Sachlichkeit und [...] Vollständigkeit
bestechen«, und von Kindern, da diese sich »verständlichen Ressentiments [wie
leidenschaftliche Ablehnung der Einrichtungen des Dritten Reichs] enthalten«.
Vgl. Leon Poliakov/josef Wulf (Hg.), Das Dritte Reich und die Juden:
Dokumente und Aufsätze, Berlin 1955, S. 1 und 250.
- Vgl. Andre Schwarz-Bart, Der Letzte der Gerechten, München 1964;
Günter Grass, Die Blechtrommel, Darmstadt 1959, und ders., Schreiben
nach Auschwitz, Frankfurt/M. 1990; Cynthia Ozick, Rosa or The Shawl,
New York 1988; David Grossman, Stich wort: Liebe, München 1994, und
Elfriede Jelinek, Die Kinder der Toten, Hamburg 1997.
- Vgl. Geoffrey Hartmans Überlegungen zu dieser Fragestellung in »Sichtbare
Dunkelheit«, in: Der längste Schatten, Berlin 1999, S. 63-69. Vgl. auch
Norma Rosen, »The Second Life of Holocaust Imagery«, in: Accidents of
Influence: Writing as a Woman and a Jew in America, Albany/N. Y. 1992, und
Efraim Sicher (Hg.), Breaking Crystal: Writing and Memory after Auschwitz,
Urbana/Chicago 1998. Lawrence Langer spricht von »Zeugen der Erinnerung«,
in: Holocaust Testimonies: The Ruins of Memory, New Haven 1991, S. 39.
hagalil.com
18-04-2004 |
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